Leo Trotzki‎ > ‎1939‎ > ‎

Leo Trotzki 19390130 Für Grynszpan

Leo Trotzki: Für Grynszpan

[Nach Unser Wort. Halbmonatszeitung der IKD, Jahrgang 7, Nr. 4-5 (95-96), Anfang Mai 1939, S. 6]

Für jeden mit der politischen Geschichte auch nur wenig vertrauten Menschen ist es klar, dass die Politik der faschistischen Gangster direkt und zuweilen mit Vorbedacht terroristische Akte provoziert. Das erstaunlichste ist, dass es nur einen einzigen Grynszpan gegeben hat. Zweifellos wird die Zahl dieser Akte zunehmen.

Wir Marxisten betrachten die Taktik des individuellen Terrors als ungeeignet zur Lösung der Aufgaben des Befreiungskampfes des Proletariats oder der unterdrückten Nationalitäten. Ein einzelner isolierter Held kann nicht die Massen ersetzen. Jedoch verstehen wir ebenso klar die Unvermeidlichkeit dieser krampfhaften Verzweiflungs- und Racheakte. All unser Mitempfinden, unsere ganze Sympathie gehören den sich opfernden Rächern, auch wenn sie nicht den richtigen Weg gefunden haben. Da Grynszpan kein politischer Militant ist, sondern ein junger unerfahrener Mensch, fast ein Kind, dem das Gefühl der Empörung der alleinige Ratgeber war, ist unsere Sympathie für ihn um so größer.

Grynszpan den Händen der kapitalistischen Justiz zu entreißen, die ihm den Kopf abzuschlagen fähig ist, um der kapitalistischen Diplomatie besser zu dienen, ist eine elementare, unmittelbare Pflicht der internationalen Arbeiterklasse.

Die stalinistische Kampagne.

Am empörendsten in ihrem polizeihaften Stumpfsinn und ihrer unaussprechlichen Heftigkeit ist die jetzt auf Befehl des Kreml in der internationalen stalinistischen Presse gegen Grynszpan geführte Kampagne. Man versucht ihn als Nazi- oder als einen mit den Nazis verbundenen trotzkistischen Agentin hinzustellen. Indem die Stalinisten so den Provokateur und sein Opfer in den selben Sack stecken, unterschieben sie Grynszpan die Absicht, er habe einen günstigen Vorwand für Hitlers Pogromtreiben schaffen wollen.

Was soll man von diesen bestechlichen «Journalisten» halten, die nicht mehr die geringste Spur von Scham besitzen? Seit dem Beginn der sozialistischen Bewegung hat die Bourgeoisie jederzeit alle gewaltmäßigen Empörungsäußerungen, insbesondere die terroristischen Akte, dem Pest-Einfluss1 des Marxismus zugeschrieben. In diesen wie in anderen Punkten haben die Stalinisten die schändlichsten Traditionen der Reaktion geerbt. Die 4. Internationale darf mit vollem Recht stolz darauf sein, dass der reaktionäre Auswurf einschließlich der Stalinisten jede Aktion oder jeden mutigen Protest, jeden Empörungsausbruch, jeden den Henkern versetzten Schlag automatisch mit dem Namen der 4. Internationale verbindet. Genau so erging es der Internationale zu Marxens Zeit.

Durch eine offene moralische Solidarität sind wir natürlich mit Grynszpan verbunden und nicht mit seinen «demokratischen» Kerkermeistern oder mit den stalinistischen Verleumdern, die den Leichnam Grynszpans nötig haben, um die Urteilssprüche der Moskauer Justiz wenigstens teilweise und indirekt zu stützen. Die vollständig verkommene Diplomatie des Kreml versucht zu gleicher Zeit diesen «glücklichen» Zwischenfall zu benutzen, um ihre Intrigen hinsichtlich eines internationalen Abkommens für eine gegenseitige Auslieferung der Terroristen zwischen den verschiedenen Regierungen zu erneuern, einbegriffen die Regierungen Hitlers und Mussolinis. Vorsicht, Meister der Fälschung! Die Anwendung eines solchen Gesetzes würde die sofortige Auslieferung Stalins an wenigstens ein Dutzend ausländischer Regierungen nötig machen.

Die Stalinisten flüsterten der Polizei ins Ohr, dass Grynszpan «Versammlungen der Trotzkisten» besuchte. Leider ist das nicht wahr. Denn hätte er sich im Milieu der 4. Internationale bewegt, so würde er einen anderen und viel wirkungsvolleren Ausweg für seine revolutionäre Energie gefunden haben. Selten werden die Leute, die fähig sind, sich über die Ungerechtigkeit und die Bestialität zu empören. Aber diejenigen, die wie Grynszpan fähig sind, zu handeln wie sie denken, zum Opfer ihres Lebens bereit, sind die kostbarste Hefe der Menschheit.

Findet einen anderen Weg!

Vom moralischen Standpunkt – und nicht hinsichtlich seiner Aktionsmethoden – kann Grynszpan jedem jungen Revolutionär als Vorbild dienen. Unsere moralische Solidarität mit Grynszpan gibt uns ein besonderes Recht, allen noch kommenden Grynszpans und all denen, die sich im Kampf gegen den Despotismus und die Bestialität zu opfern fähig sind, zu sagen: Findet einen anderen Weg! Nicht der isolierte Rächer, sondern nur eine große revolutionäre Massenbewegung, die von dem System der Klassenausbeutung, von nationaler Unterdrückung und Rassenverfolgung nichts bestehen lassen wird, kann die Unterdrückten befreien.

Die beispiellosen Verbrechen des Faschismus erzeugen einen völlig gerechtfertigten Rachedurst. Doch die Menge dieser Verbrechen ist so ungeheuerlich, dass dieser Durst nicht durch den Mord isolierter faschistischer Bürokraten gestillt werden kann. Dazu müssen Millionen, zehn und hunderte Millionen Unterdrückter in der ganzen Welt mobilisiert und zum Ansturm gegen die Grundlagen der allen Gesellschaft geführt werden. Nur der Sturz aller Formen der Versklavung, die völlige Vernichtung des Faschismus, nur die Ausübung der schonungslosen Justiz des Volkes gegen die zeitgenössischen Banditen und Gangster können der Empörung des Volkes eine wirkliche Genugtuung verschaffen. Genau dies ist die Aufgabe, die sich die 4. Internationale gestellt hat Sie wird die Arbeiterbewegung von der Plage des Stalinismus säubern. Sie wird in ihren Reihen die heroische Generation der Jugend vereinigen. Sie wird einen Weg bahnen zu einer edleren und menschlicheren Zukunft.

1 In „Unser Wort“ stand „abnehmenden Einfluss“ - offensichtlich falsch. Die französische Fassung hat „l'influence pestilentielle“

Kommentare