Leo Trotzki: Krupskaja ist tot [Nach Unser Wort. Halbmonatszeitung der IKD, Jahrgang 7, Nr. 4-5 (95-96), Anfang Mai 1939, S. 6] Krupskaja war nicht nur die Gattin Lenins – sie war es natürlich nicht zufällig – sie war auch eine eigene Persönlichkeit mit hohen Qualitäten: Hingebung für die Sache, Energie, Lauterkeit ihres Wesens. Sie war unbestreitbar ein Mensch von großer Intelligenz. Aber es ist nicht verwunderlich, dass an Lenins Seite ihre politische Gestalt keine eigene Entwicklung angenommen hat. Sie war es gewohnt, ihrem großen Gefährten und Führer Vertrauen zu schenken. Nach Lenins Tode wurde das Leben Krupskajas äußerst tragisch: sie musste, könnte man sagen, bezahlen für den Teil des Glückes, der ihr zugefallen war. Die Krankheit und der Tod Lenins – und auch das war nicht zufällig – fielen mit der Krise der Revolution, mit dem Beginn des Thermidor zusammen. Krupskaja verlor die Fassung. Ihr revolutionärer Sinn kämpfte mit dem Geist der Disziplin. Sie versuchte, sich der stalinistischen Clique zu widersetzen und befand sich im Jahre 1926 für einige Zeit in den Reihen der Opposition. Aus Furcht vor der Spaltung wich sie zurück. Das Vertrauen in sich selbst verloren, konnte sie keinen Ausweg finden, und die führende Clique tat alles, um sie moralisch zu brechen. Nach außen hin bewies man ihr zwar Hochachtung, oder richtiger eine Scheinachtung. Aber innerhalb des Apparats diskreditierte man sie systematisch, man verlästerte sie, demütigte sie und verbreitete in den Reihen der kommunistischen Jugend die widersinnigsten und plumpsten Gerüchte über sie. Stalin lebte in ständiger Furcht vor einem Proteste ihrerseits. Sie wusste viel zu viel. Sie kannte die Geschichte der Partei. Sie wusste, welchen Platz Stalin in dieser Geschichte eingenommen hatte. Die ganze moderne Geschichtsschreibung, die Stalin mit Lenin auf eine Stufe stellt, konnte ihr nicht anders als widerlich und schmählich erscheinen. Stalin fürchtete Krupskaja, wie er Gorki fürchtete. Die GPU umgab Krupskaja mit ihren Kreisen. Die alten Freunde waren einer nach dem anderen verschwunden; diejenigen, die nicht früh genug starben, wurden offen oder im Geheimen ermordet. Jeder ihrer Schritte wurde beobachtet. Ihre Artikel wurden nur nach langen, peinlichen und erniedrigenden Verhandlungen zwischen Zensur und Autorin abgedruckt. Man verlangte von ihr die notwendigen Korrekturen zur Verherrlichung Stalins und zur Rehabilitierung der GPU. Es scheint, dass die schändlichsten dieser Änderungen gegen den Willen Krupskajas und selbst ohne ihr Wissen gemacht wurden. Was konnte die unglückliche, gebrochene Frau tun? Vollständig isoliert, einen schweren Stein auf dem Herzen, zu unentschlossen um zu handeln, mit der Krankheit ringend, war ihr das Leben eine Plage. Stalin ist scheinbar die Lust ein wenig vergangen, um Sensationsprozesse zu inszenieren, die ihn nur vor dem Angesicht der ganzen Weit als das schmutzigste, verbrecherischste und ekelhafteste Geschöpf erscheinen ließen. Trotz allem ist es nicht ausgeschlossen, dass wir noch einen neuen Prozess erleben werden, wo neue Angeklagte berichten, wie die Ärzte des Kreml unter der Leitung Jagodas und Berias eine Reihe von Maßnahmen getroffen hatten, um den Tod Krupskajas zu beschleunigen. Doch ob mit oder ohne Ärzte, das Regime, das Stalin ihr verordnete, hat ohne Zweifel ihr Leben verkürzt. Der Gedanke liegt uns fern, Nadeschda Konstantinowna zu beschuldigen, weil sie nicht von selbst die Entschlusskraft aufbringen konnte, um mit der bonapartistischen Bürokratie zu brechen. Unabhängigere politische Köpfe haben geschwankt, haben versucht, mit der Geschichte Versteck zu spielen, und sind zu Grunde gegangen. Sie hatte einen genügend starken persönlichen Mut, aber ihr fehlte der Mut im Gedanken. Wir begleiten sie mit tiefer Trauer zum Grabe als die treue Gefährtin Lenins, als eine untadelige Revolutionärin und als eine der tragischsten Figuren der zeitgenössischen Geschichte. Coyoacan, D.F., den 4. März 1939. Leo Trotzki. |
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