Leo Trotzki u.a. 19370811 Diskussion über China

Leo Trotzki u.a.: Diskussion über China

[Nach Schriften 2.2, Hamburg 1990, S. 831-853, dort mit umfangreichen Fußnoten]

Li Furen: Zunächst möchte ich die Frage aufwerfen, die in dem kurzen Thesenpapier eines unserer chinesischen Genossen umrissen wird, nämlich oh unsere Organisation bei gegebener Gelegenheit die Initiative zur Gründung antijapanischer Organisationen ergreifen sollte, sofern solche am Ort noch nicht bestehen. Das Zentralkomitee unserer chinesischen Organisation ist in dieser Frage geteilter Meinung. Ein Teil vertritt die Auffassung, eine solche Organisation könne sich in nichts von vergleichbaren Organisationen unterscheiden, wie sie die Stalinisten weltweit ins Leben gerufen haben, also z. B. die Liga gegen Imperialismus, die Liga gegen Krieg und Faschismus usw. Die Gegenseite erklärt, im Augenblick, wo die Arbeiterbewegung überwiegend passiv bleibt und das politische Leben der Massen vor allem in antijapanischen Aktivitäten seinen Ausdruck findet, müssten die Revolutionäre solche Organisationen aufbauen, um an der Spitze der Massen zu kämpfen und zu verhindern, dass diese unter den Einfluss bürgerlicher und kleinbürgerlicher Organisationen geraten.

Trotzki: Könnten Sie uns sagen, wie stark nach Ihrer Schätzung die KP, die Gewerkschaften und, sofern es sie gibt, die Dritte Partei sind? Und wie stark sind die Rettungsvereinigungen?

Li Furen: Außerhalb der »Sowjet«gebiete (die übrigens nicht mehr so bezeichnet werden) existiert die KP als Partei praktisch nicht mehr. In Shanghai, das früher das wichtigste Zentrum der Parteiaktivität war, gibt es einen Apparat, aber keine Parteiorganisation. Das illegale Parteiorgan hat längst sein Erscheinen eingestellt. An der jüngsten Streikbewegung haben Vertreter der Partei teilgenommen, jedoch nur, um sie zu sabotieren. So trat zum Beispiel in einer großen Seidenfabrik, die bestreikt wurde, ein Redner der Stalinisten auf, um zu erklären, die vordringlichste Aufgabe des chinesischen Proletariats sei »die Rettung des Landes«, vor dem japanischem Imperialismus. Ein Arbeiter entgegnete: »Ich denke, unsere vordringlichste Aufgabe ist es, uns selbst zu retten – wir hungern nämlich.« Die Stalinisten haben die Parole ausgegeben: »Bestreikt keine Fabriken von Chinesen.« Damit haben sie sich vollständig von den chinesischen Arbeitern isoliert, ein Prozess, der nach der Niederlage der Revolution von 1927 begann.

Von der wirklichen Lage in den »Sowjet«gebieten kann man sich nur schwer ein klares Bild machen, da die Guomindang-Regierung die Nachrichten zensiert. Doch es gibt Grund zu der Annahme, dass die KP und der Apparat der »Sowjet«regierung kaum voneinander getrennt sind. Die Hauptkräfte der »Roten Armee« (die kürzlich in Antijapanische Volksarmee umbenannt wurde) stehen heute im nordöstlichen Teil der Provinz Shaanxi, im Nordwesten Chinas. Legt man das obere Mittel der verschiedenen Schätzungen zugrunde, so umfassen diese Streitkräfte etwa 80.000 Mann, die nur zum Teil moderne Waffen haben. Dazu kommen noch mehrere kleinere Armeen und bäuerliche Partisanentrupps, die zum Beispiel in den Provinzen Fujian und Henan operieren. Über diese kleineren Einheiten kann die »Sowjet«regierung den Angaben ihres Vorsitzenden Mao Zedong zufolge keine direkte Kontrolle ausüben, was zur Folge hat, dass entgegen der neuen KP-Linie der Klassenzusammenarbeit weiter Landenteignungen und andere Maßnahmen der Agrarrevolution vorgenommen werden. Die Partei hat ganz und gar vor der Guomindang kapituliert und bittet die Guomindang-Regierung unterwürfig darum, als Gegenleistung »aufrichtig« gegen den japanischen Imperialismus zu kämpfen, den Bürgerkrieg gegen »ihr eigenes« Volk einzustellen, ein »demokratisches« Regime einzusetzen und die politischen Gefangenen freizulassen. Ob zwischen der KP und der Guomindang ein förmliches Abkommen erreicht wurde, lässt sich nicht sagen. Bei den ersten Annäherungsversuchen der KPCh an die Guomindang hat diese unverblümt die bedingungslose Kapitulation verlangt und erklärt, für sie komme nichts anderes in Frage als die Liquidierung der »Sowjet«regierung, die Auflösung der »Roten Armee« und der völlige Verzicht der KP auf ihre Politik des Klassenkampfs. Für das Zustandekommen einer wie immer gearteten Vereinbarung sprechen Berichte, wonach die Nanjing-Regierung Geld und Nachschub – Lastwagen, Munition und Proviant – in die »Sowjetgebiete im Nordosten von Shaanxi geschickt hat. Nichts deutet daraufhin, dass sich in den Reihen der »Roten Armee« irgendwelcher Widerstand gegen den neuen Kapitulationskurs der Führung geregt hat. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass es sich heute um ganz andere Streitkräfte handelt als jene, die von 1930 bis 1935 das »Sowjetgebiet in Jiangxi gegen fortwährende Angriffe Nanjings gehalten haben, bis sie es im Sommer 1935 räumen mussten. Auf dem Langen Marsch von Jiangxi nach Shaanxi haben viele erprobte Kämpfer die Truppe verlassen oder sind gefallen, und sie sind durch junge Rekruten aus der armen Bauernschaft der Gebiete ersetzt worden, durch die der Rückzug der Armee führte, und diese versprachen sich von der »Roten Armee« volle Reisschüsseln. Diese ausgedünnten Streitkräfte waren, wie sich gezeigt hat, in den Händen der KPCh weitaus formbarer als die Armee, die mit einer langen Kampftradition von Jiangxi aus aufgebrochen war.

Wirkliche Gewerkschaften im Sinne freiwilliger Organisationen der Arbeiter gibt es kaum; allerdings sind in letzter Zeit in einigen Industriezweigen Versuche unternommen worden, solche Organisationen zu schaffen. 1929 hat die Guomindang-Regierung ein Gewerkschaftsgesetz verabschiedet, das die Arbeiterverbände wie in Italien und Deutschland der Aufsicht und Kontrolle der Regierung unterstellt. Wohl sind »Gewerkschaften« gebildet worden, die den Bestimmungen dieses Gesetzes entsprechen, aber sie stellen nichts weiter dar als Dienststellen der Regierung in der Arbeiterschaft. Es werden Büros unterhalten, in denen Funktionäre sitzen, Gewerkschaftsversammlungen dagegen gibt es kaum. Streikaufrufe gehen in den seltensten Fällen von den offiziellen Gewerkschaften aus, und wenn es dann doch zum Streik kommt, wird die Gewerkschaft mit dem alleinigen Ziel tätig, eine Einigung herbeizuführen. Somit haben die Arbeiter eigentlich keine eigenen Organisationen.

Die Dritte Partei ist eine politische Gruppierung von sehr bescheidenen Ausmaßen, die ihr Hauptaugenmerk auf ein Agrarprogramm richtet. Sie ist in Europa von Überresten der »linken« Guomindang geschaffen worden, die nach dem Zusammenbruch der Wuhan-Regierung im Jahre 1927 in der Luft hingen. Einer ihrer ersten Anhänger war Tan Pingshan, ein rechter Führer der KPCh, der der Wuhan-Regierung als Landwirtschaftsminister angehörte. In China erschien die Partei zu Beginn der dreißiger Jahre auf der Bildfläche, und zwar unter der Führung von Deng Yanda, der damals gerade aus Moskau zurückkam, wo Stalin ihm angeblich die Nachfolge Chen Duxius an der Spitze der Kommunistischen Partei Chinas angetragen haben soll. Deng wurde Ende 1931 von Tschiang Kaischek hingerichtet. Mit dem von ihr vertretenen reformistischen Agrarprogramm und ihrem Plan, im Kampf gegen den Imperialismus das »nationale Kapital« zu entwickeln, ist es der Dritten Partei nie gelungen zu wachsen. Unter der Diktatur der Guomindang war sie zu einer Untergrundexistenz verdammt, weshalb sie ihre Zentrale in der britischen Kolonie Hongkong unterhielt und auch hauptsächlich dort aktiv war. Auf dem Gebiet der Agrarpolitik hat sie der KPCh die Führung der Bauernschaft nicht streitig machen können, da die KPCh eine Politik der Landenteignungen verfolgt hat. Nun aber, wo die KPCh entsprechend den Beschlüssen des VII. Komintern-Kongresses ihr Programm der Agrarrevolution über Bord geworfen hat, hat sie wieder eine längere Lebenserwartung. Heute kritisiert die Dritte Partei die KPCh von »links« und wirft ihr vor, die Sache der Bauernschaft verraten und verkauft zu haben.

Bei der faschistischen Organisation, von der in der Resolution die Rede ist, handelt es sich nicht wirklich um eine faschistische Organisation. In diesem Fall geht die Bezeichnung »faschistisch« darauf zurück, dass diese Organisation unter dem Namen »Blauhemden« bekannt geworden ist. Die Blauhemden sind keine Partei, sondern vielmehr eine Organisation, die sich Tschiang Kaischek persönlich geschaffen hat, um so seine Machtstellung innerhalb und außerhalb der Guomindang und der Regierung zu untermauern. Zu ihren Aufgaben gehörte es unter anderem, Tschiangs Widersacher zu ermorden. Tschiang herrscht mittels einer Militärdiktatur, und für eine faschistische Bewegung nach italienischem oder deutschem Vorbild besteht weder Bedarf noch die entsprechende Grundlage. Das Kleinbürgertum, insbesondere die Bauernschaft, steht in Opposition zu Tschiangs Diktatur und kann (wenigstens im Augenblick) nicht zur sozialen Basis für den Faschismus werden. Soweit die Stalinisten noch einen Einfluss auf die Bauernschaft und das städtische Kleinbürgertum ausüben, tragen sie durch ihre Politik der Klassenzusammenarbeit dazu bei, diese Klassen wieder Tschiang in die Arme zu treiben. Im Augenblick jedoch sind die Blauhemden ein Machtorgan Tschiangs, und ihre Mitgliedschaft stammt ausschließlich aus dem Regierungsapparat der Guomindang, obwohl es ihnen insbesondere in Shanghai gelungen ist, Einfluss auf die Spitzen der zahlreichen studentischen Gremien zu nehmen.

Die Nationale Rettungsvereinigung (NRV) ist eine patriotische Föderation mit Hauptsitz in Shanghai. Es handelt sich um einen Zusammenschluss örtlicher patriotischer Gesellschaften, die aus Studenten, Lehrern, kleinen Geschäftsleuten und in einigen Fällen auch aus Arbeitern bestehen, wobei letztere aber nur sehr schwach vertreten sind. Die Führung besteht ausschließlich aus Kräften der kleinbürgerlichen Oberschicht, die der Großbourgeoisie nahestehen. Die NRV ist derzeitiger organisatorischer Ausdruck der patriotischen Bewegung, die mit der Besetzung der Mandschurei durch Japan in den Jahren 1931/32 entstand. Damals kam eine Studentenbewegung großen Ausmaßes in Gang. Tausende von Studenten verließen ihre Vorlesungen, brachten Eisenbahnzüge in ihre Gewalt und machten sich nach Nanjing auf, um dagegen zu protestieren, dass die Regierung die Politik verfolgte, dem japanischen Einmarsch keinen Widerstand entgegenzusetzen. Angesichts der gewaltigen Demonstrationen, die folgten, bekam es die Regierung mit der Angst zu tun, doch als es den Studenten dann nicht gelang, unter den Arbeitern und anderen ausgebeuteten Schichten Rückhalt und Unterstützung zu finden, wurde die Regierung wieder mutiger und machte der Bewegung unter Androhung von Gewalt ein Ende.

In den folgenden Jahren bis 1936 war die Studentenbewegung trotz der anhaltenden japanischen Aggression praktisch tot. 1936 jedoch begann Japan, in Nordchina immer gieriger aufzutreten, und Song Zheyuan, der für Nanjing an der Spitze der Verwaltung dieses Gebiets stand, machte Japan eine ganze Reihe wirtschaftlicher Zugeständnisse. Das führte zu einem neuen Aufschwung der Studentenbewegung, und Song wurde zur Zielscheibe beträchtlicher Studentendemonstrationen. Aber die Stalinisten, die damals im Norden ziemlichen Einfluss hatten, sabotierten die Bewegung, indem sie behaupteten, die Studenten würden mit ihren Demonstrationen gegen Song Zheyuan die »nationale Einheit« stören. Sie erklärten den Studenten, Song sei zu Zugeständnissen an die Japaner gezwungen, weil er vom Volk nicht genug Unterstützung bekomme. Das machte der Bewegung den Garaus. Man hörte die Studenten sagen:» Wenn uns die Kommunisten nicht anführen wollen, wer dann?«

Unterdessen waren in Shanghai und in anderen Landesteilen »Rettungsvereinigungen« entstanden, die vor allem aus Studenten und Intellektuellen bestanden, überhaupt aus kleinbürgerlichen Kräften, zu denen sich sogar ein paar Vertreter der Großbourgeoisie gesellten. Auch einige wenige Arbeiter gehörten diesen patriotischen Organisationen an, aus denen schließlich die Nationale Rettungsvereinigung hervorging.

Innerhalb der Vereinigung traten zwei politische Linien in Erscheinung. Die reaktionären Kräfte, die das Übergewicht hatten, richteten die Organisation auf Unterstützung der Guomindang-Regierung aus, was sie damit begründeten, dass man der Regierung helfen müsse, die Japaner zu bekämpfen. Die Gegenseite erklärte, die Regierung betreibe den Ausverkauf des Landes an Japan, und man müsse sie kritisieren und angreifen, um weiterem Verrat vorzubeugen. Zhang Naiqi, der wichtigste Führer der Organisation, hatte in Nanjing eine Unterredung mit Tschiang Kaischek, in der er der Regierung volle Unterstützung zugesichert haben soll. Dieses Vorgehen provozierte eine Spaltung, und die Kräfte, die gegen Nanjing eingestellt waren, zogen sich ganz aus der Arbeit zurück. Merkwürdigerweise ließ Tschiang Kaischek darauf alle führenden Personen einschließlich Zhang Naiqi verhaften; kürzlich sind sie aber wieder freigelassen worden.

Trotzki: Geschah das auf Befehl Tokios?

Li Furen: Davon ging man allgemein aus, denn Tokio hatte wiederholt gegen die »organisierte antijapanische Betätigung« protestiert, aber es handelte sich auch um eine Vorsichtsmaßnahme von selten Tschiangs. Mit der Verhaftung der Führer brach die Vereinigung zur Rettung des Vaterlands regelrecht zusammen, denn die Verhafteten hatten die Kontrolle über die Finanzen, die Unterlagen usw. Andere Mitglieder der Vereinigung besuchten die Führer im Gefängnis und baten sie, die Leitung abzugeben, aber diese weigerten sich und legten eine Haltung an den Tag, als sei die Vereinigung ihr privates Eigentum. Die Vereinigung wurde nie förmlich verboten, aber die verhafteten Führer wurden angeklagt, »den Bestand der Republik gefährdet« und Kontakte zu den Kommunisten unterhalten zu haben (mit denen Nanjing damals gerade in Verhandlungen stand). Im Haus eines der Verhafteten, Zou Taofen, fand man ein Exemplar unserer Zeitschrift, Kampf, und das sollte als Beweis für die Anklage wegen Gefährdung des Bestands der Republik herhalten – übrigens die gleiche Anklage, wegen der Chen Duxiu zu elf Jahren Gefängnis verurteilt wurde.

Über die Mitgliedsverbände der NRV in den Provinzen gibt es nicht viel zu sagen. Shanghai war das wichtigste Zentrum der Bewegung, und die angeschlossenen Verbände dienten hauptsächlich als Büros für Geldsammlungen. Der stalinistische Einfluss innerhalb der NRV war beträchtlich und diente dazu, die Organisation ins Fahrwasser der Guomindang zu lenken.

Trotzki: Mir ist der sachliche Gehalt der Diskussion nicht recht klar. Wenn die Führer der Rettungsorganisationen verhaftet wurden, ist doch offenkundig, dass eine von unseren Genossen aufgebaute antijapanische Organisation nicht legal existieren könnte – sie müsste also illegal sein.

Li Furen: Die Befürworter dieser Idee meinen, wir könnten andere zur Zusammenarbeit mit uns bewegen, um solche antijapanischen Organisationen auf eine legale Grundlage zu stellen. Wir könnten dann in ihnen eine Fraktion bilden.

Trotzki: Ja, wir können eine illegale Fraktion haben. Aber dann leuchtet mir nicht recht ein, was der strittige Punkt ist. Die Meinungsverschiedenheit dreht sich lediglich darum, ob man da, wo solche Organisationen noch nicht bestehen, die Initiative ergreifen soll, um welche zu gründen. Ich verstehe nicht recht, warum diese Frage in den Vordergrund gestellt wird, und nicht die Frage unserer Teilnahme an der Streikbewegung, die doch für China von sehr großer Bedeutung sein dürfte. Wenn dabei legale Massenorganisationen zur Debatte stünden, könnte ich den Standpunkt verstehen, aber wie die Dinge liegen, würde ich den Befürwortern sagen: Versucht es und macht es mir vor; es ist eine Frage der Möglichkeiten und der Resultate. Welche praktischen Erfahrungen haben die Befürworter denn in dieser Hinsicht gemacht? Was war der konkrete Anlass für diese Diskussion?

Li Furen: Die Frage kam bei der Arbeit am Entwurf für die politische Resolution auf, das Dokument sollte unseren Genossen politische Direktiven an die Hand geben. Unsere Genossen, so hieß es, sollten an der Arbeit der patriotischen Organisationen teilnehmen, um die besten Kräfte um unsere Fahne zu scharen.

Daraufhin machten andere geltend, wenn es richtig sei, in den bestehenden Organisationen mitzuarbeiten, wäre es auch richtig, solche Organisationen zu schaffen, um sie in die Hand zu bekommen.

Trotzki: Wir können religiöse Organisationen mit dem Ziel durchdringen, dort antireligiöse Arbeit zu leisten, aber deswegen müssen wir noch lange keine religiösen Organisationen schaffen.

Li Furen: Ich sehe in diesem Vorschlag einen Ausdruck der Ungeduld unserer Genossen. Unsere Arbeit ist jetzt sehr schwierig und unscheinbar. Die Genossen haben es satt, als kleine, isolierte Gruppe eine kleine Zeitschrift herauszugeben. Sie würden diese Periode gern überspringen. Ihr Vorschlag, antijapanische Organisationen aufzubauen, ist ein Ergebnis ihrer Suche nach einem leichteren Zugang zu den Massen.

Trotzki: Eine solche Einstellung hat natürlich ihre Tücken. Sie kann gefährlich werden. In dem Thesenpapier habe ich wenig über die Arbeit in den Gewerkschaften gefunden: über die Notwendigkeit, sie zu organisieren, um gewerkschaftliche Propagandaarbeit zu machen und um im Falle eines Streiks die Führung übernehmen zu können. Das scheint mir tausendmal wichtiger als die Schaffung von Rettungsvereinigungen oder die Diskussion darüber.

Sollte natürlich die derzeitige Situation geradewegs auf einen großen Krieg zwischen Japan und China zusteuern, wird in den Aktivitäten des Volkes – und damit auch der Arbeiterklasse – das Hauptaugenmerk auf der Kriegsfrage liegen. In diesem Fall brauchten wir nicht erst die Initiative zu ergreifen, um patriotische Organisationen ins Leben zu rufen. Dann schießen sie ringsum aus dem Boden. Unsere Pflicht wäre es dann, die Arbeiter in ihren Reihen wie außerhalb von der Bourgeoisie zu lösen, für die Bewaffnung der Arbeiter zu sorgen und uns der materiellen Interessen der Arbeiter und Soldaten anzunehmen: selbst im Krieg nicht auf das Streikrecht zu verzichten – dann nämlich, wenn die Industrie floriert und für die bürgerlichen Patrioten enorme Profite abfallen.

Das Thesenpapier geht nicht ausreichend auf den neuen Wirtschaftsaufschwung ein – es huscht vielmehr darüber hinweg. In einem Brief an die chinesischen Genossen habe ich 1931 oder 1932, glaube ich – geschrieben, falls es nicht über einige Jahre hinweg zu einem Aufschwung der Arbeiterbewegung komme, werde die Rote Armee entarten. Nur wenn ein neuer Wirtschaftsaufschwung einsetzt, kann die Arbeiterbewegung zu neuem Leben erwachen und die Rote Armee unterstützen. Niel Shih hatte die Vorstellung, ein neuer Aufschwung der Wirtschaft sei unmöglich, und diese Prognose war falsch. Er hat gesagt, das Militärregime mache einen Aufschwung absolut unmöglich. Ich schrieb damals, diese Frage sei notwendig und wichtig, und ein wirtschaftlicher Aufschwung sei vor allem in China durchaus möglich – ja unvermeidlich; heute ist er eine Tatsache.

In den letzten Monaten gab es einige hochinteressante Korrespondentenberichte über ausländische Kapitalinvestitionen in China. Sicher, China ist kein sicheres Terrain, aber welches Terrain ist schon sicher? China ist heute ein vergleichsweise attraktives Anlagefeld für ausländisches Kapital. Die Lage in Frankreich ist sehr schlecht, und trotzdem hat Frankreich 400 Millionen Franc nach Nanjing überwiesen, um dort die Währung zu stabilisieren. Die Tschechoslowakei hat über die Regierung Geld in China investiert. Das kommt daher, dass Nanjing in den letzten Jahren eine gewisse Stabilität bewiesen hat. Dass es eine gewisse Autorität hat, ist Tatsache, die britische Regierung hält es am Leben. Die Sache ist die: Großbritannien ist über die Nanjing-Regierung ein wirtschaftlich und politisch höchst bedeutender Faktor im Lande. Frankreich hat nicht nur 400 Millionen Franc gegeben, sondern investiert auch Kapital beim Eisenbahnbau. Der offizielle französische Korrespondent, der für das Comité des forges dort ist, schreibt zwar: »Wir müssen sehr vorsichtig sein; die Lage ist nicht absolut stabil; jeden Augenblick steht uns eine Katastrophe ins Haus«, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass das Kapital wegen der relativen »Prosperität« ein Auge auf China geworfen hat.

Möglicherweise werden wir einen Zustrom ausländischen Kapitals nach China erleben, so dass China nunmehr bedeutende Fortschritte machen kann – kapitalistische Fortschritte natürlich, also indem das Land mehr und mehr zum Kolonialland wird. Aber der gewichtige Unterschied zu Indien besteht darin, dass in Indien Großbritannien schaltet und waltet, während wir es in China mit verschiedenen imperialistischen Mächten zu tun haben, was der Regierung mehr Möglichkeiten lässt und den revolutionären Kräften Raum zum Lavieren gibt. Das schafft Spielraum. Wenn wir das Sagen hätten, würden wir zwischen dem britischen und dem japanischem Imperialismus lavieren. Wenn diese Anzeichen nicht trügen, bedeuten sie, dass wir jetzt einen bedeutenden Aufschwung der chinesischen Wirtschaft erleben: Das bringt die Aussicht auf einen Aufschwung der Arbeiterbewegung mit sich. Der Arbeiter hatte recht mit seiner Antwort: »Erst müssen wir uns selbst retten.« Unser erster Schritt sollte nicht der Aufbau antijapanischer Organisationen sein – natürlich sind wir für die Unabhängigkeit Chinas, aber wir müssen die Gewerkschaftsbewegung als unsere wichtigste Aufgabe begreifen. Mit dem Aufschwung der Industrie, des Wirtschaftslebens, nehmen auch die Gewerkschaften einen Aufschwung. Unsere ganze Energie muss in der Streikbewegung gebündelt werden. Die Resolution benennt den Aufschwung hier lediglich mit einiger Verlegenheit, so als würde die Wirklichkeit unserer Prognose zuwiderlaufen. Wir müssen die Tatsache betonen, dass es einen Aufschwung gibt, dass die Kapitalisten, die Bankiers, die Kompradoren in China sehr gut verdienen, während die Arbeiter immer noch Hunger leiden. Wenn man China retten will, muss man die Arbeiter retten.

Im Thesenpapier findet sich die Losung: »Für den sofortigen Krieg gegen den japanischen Imperialismus« – ich glaube, eine solche Parole können wir nicht ausgeben. Es gab im Februar Kriegsvorbereitungen, und es gibt sie jetzt. Damals wie heute haben wir von »sofortigem Krieg« gesprochen. Die Frage des Krieges hängt nicht von uns ab, sie wird durch die Umstände entschieden. Die wichtigste Kriegsvorbereitung besteht darin, Gewerkschaftskomitees und eine Parteiorganisation zu schaffen: eine systematische Propaganda für die Befreiung von allen imperialistischen Mächten, zuallererst vom japanischen Imperialismus, und zwar nicht durch diplomatische Manöver und Kapitulation, sondern durch einen revolutionären militärischen Kampf, durch einen Krieg des chinesischen Volks gegen die Imperialisten. Wichtig ist die Schaffung eines Ansatzpunkts, der mit der Zeit zur Grundlage für die Mobilisierung des Volkes werden kann, und nicht die Parole vom sofortigen Krieg. Diese Losung kann nach Abenteurertum aussehen.

Li Furen: Diese Losung soll sich von der Position Tschiang Kaischeks abheben. Er sagt immer wieder, dass er sich auf den Krieg vorbereitet. Deshalb unsere Losung vom sofortigen Krieg gegen Japan.

Trotzki: Sie laufen Gefahr, der Haltung Tschiang Kaischeks mit einer solchen Parole Vorschub zu leisten. Die Frage der Vorbereitungen gibt uns die Möglichkeit zu agitieren, die Politik Tschiang Kaischeks anzuprangern. Unter ganz bestimmten Umständen kann ich zum Beispiel sagen, dass wir am 3. Februar den Krieg beginnen müssen, aber »sofortiger Krieg«, in Unkenntnis der Umstände, ist eine unrealistische Losung. Wieso ist die japanische Frage eine Frage des sofortigen bewaffneten Kampfs – und was ist mit der Frage der verschiedenen imperialistischen Mächte? Wir müssen sagen, dass alle Imperialisten Banditen sind; sie gehen nur unterschiedlich vor. Wir bestreiten nicht, dass es zulässig ist, einen Imperialismus gegen den anderen auszuspielen und sich die Gegensätze zwischen ihnen zunutze zu machen. Die derzeitige Regierung kann Japan gar nicht entgegentreten, ohne sich zum gefügigen Werkzeug des britischen Imperialismus zu machen. Man wird uns entgegnen: Auch die Bolschewiki haben den einen Imperialismus gegen den anderen ausgespielt, also warum kritisiert ihr uns für unseren Block mit Großbritannien? Ein Block ist eine Frage des Kräfteverhältnisses: Wenn ich der Stärkere bin, kann ich ihn für meine Zwecke ausnutzen; wenn ich der Schwächere bin, werde ich zum Werkzeug. Nur eine revolutionäre Regierung könnte der Stärkere sein.

In den Thesen werden die Stalinisten und die Rettungsorganisationen mit dem Begriff »patriotisch« belegt. Gleichzeitig erkennt das Thesenpapier die Notwendigkeit an, für die Unabhängigkeit des Landes zu kämpfen. Das ist patriotisch. Es ist eine Frage der Begrifflichkeit. Wir sprechen der Arbeiterklasse das Recht ab, ihren Imperialisten, ihrem imperialistischen Staat Patriotismus entgegenzubringen; aber wir sprechen den Arbeitern nicht das Recht ab, Patriotismus für einen Arbeiterstaat zu empfinden, und ebenso wenig einem Kolonialvolk das Recht, gegen seine Imperialisten patriotisch gesinnt zu sein. Das ist ein ganz unterschiedlicher Gebrauch des Begriffs »patriotisch«. Japanische Arbeiterorganisationen haben kein Recht, patriotisch zu sein, chinesische dagegen sehr wohl. Die Stalinisten werden sich diese falsche Begrifflichkeit zunutze machen. Wenn wir nicht korrekt damit umgehen, kann dieses Wort eine sehr wichtige Frage in unserem Kampf mit den Stalinisten werden. In China würde ich sagen: Ich verwende dieses Wort nie in beleidigender oder abschätziger Weise; und ich kann zu Tschiang sagen: Sie wollen patriotisch sein, doch Sie sind antipatriotisch, denn die Bourgeoisie, die Kompradoren, sie können das Land nur verraten. Ich würde sagen: Tschiang Kaischek kann das Vaterland nicht retten, die Arbeiter können es kraft ihrer eigenen Bewegung, durch die Mobilisierung der Arbeiter um die Avantgarde, die revolutionäre Partei. Wir sagen: Wir sind die wahren Patrioten. Doch man muss dem durch die Inhalte des revolutionären Kampfes, des Klassenkampfes usw. Gestalt geben.

Der Frage der Vereinigten Staaten wird in den Thesen wenig Raum eingeräumt. Die Frage der Beziehungen zwischen dem japanischen Imperialismus und der britischen Doppelzüngigkeit ist sehr gut ausgeführt – all ihre Schachzüge gegen Japan, um mit eben diesem Japan zu einer Übereinkunft zu kommen, das ist ausgezeichnet gelungen. Doch die Frage der Vereinigten Staaten ist von großer Bedeutung, zumal jetzt, wo sich die US-Politik ändert und die Flotte im Pazifik zusammengezogen wird, wo die Inseln befestigt werden, wo es die Fischereifrage, Alaska und die Frage der Philippinen gibt: Diese Fragen können höchst brisant werden, wenn es mit Roosevelts »Prosperität« einmal vorbei ist. Der humanitäre Pazifist Wilson hat die USA in den Krieg hineingetrieben; mit Roosevelt könnte es genauso sein: Er hat dem Land einen New Deal versprochen, eine neue Bestimmung – seine Bluttransfusion bewirkt einiges. Er hat noch drei Jahre. Wenn es in diesen drei Jahren einen scharfen Wechsel in in der Konjunktur gibt – das Big Business hat einen guten Riecher: Die wissen so etwas ein Jahr im voraus. Das wäre ein großer Umbruch, ein enormer Umbruch. Die chinesische Frage wird dann zum ersten bedeutenden Brennpunkt. Immerhin will Großbritannien jetzt keine Vereinbarungen mit den USA gegen die japanische Aggression treffen, weil das bedeuten würde, dass diese sich als vorherrschende Macht durchsetzen.

Es wäre gut, in die Thesen eine Bemerkung über die USA einzufügen, die in China zu einem entscheidenden Faktor gegen Japan werden könnten – und zu einem der möglichen Faktoren des Weltkriegs. Mich hat es etwas verwundert, dass die USA keinen großen Einfluss auf den antijapanischen Kampf hatten. Sie befanden sich wohl bisher in einem Schlummerzustand – es war der amerikanische Imperialismus der Krisenperiode. Aber sie ändern ihre Politik, ihre abwartende, ängstliche Politik.

Li Furen: Die Enthaltsamkeit Amerikas ist Folge einer bewussten Politik. Amerika geht so vor, dass es zuerst seine Stellung in Südamerika festigt (Panamerikanische Union) und aufrüstet. Danach kann es Japan gegenüber die Entscheidung suchen. Wenn wir uns diese Sicht der amerikanischen Position zu eigen machen, so wird ein Eingreifen Amerikas in den Kampf im Fernen Osten noch lange auf sich warten lassen.

Trotzki: Das widerspricht nicht dem, was ich gesagt habe. Washington hält aber nicht alle Fäden in der Hand; eine akute Krise würde eine Wende erzwingen. Sie sprechen von einer langfristigen Perspektive; was heißt langfristig? Die Aufrüstungsprogramme sind auf drei bis vier Jahre angelegt, dann würde sich ein neues weltweites Programm Amerikas mehr oder weniger abzeichnen. Möglicherweise werden sie es in zwei bis drei Jahren erledigen, um Großbritannien zu zeigen, dass sie technisch stärker sind.

W: China verfügt jetzt über den Goldstandard. Mit dem ganzen Flottenprogramm und seiner Beschleunigung sowie mit dem Luftwaffenprogramm haben die USA entschieden gegen Japan Front gemacht.

Li Furen: Der übermächtige britische und japanische Einfluss in China hat verhindert, dass die USA dort richtig Fuß fassen konnten. So war es zum Beispiel Großbritannien, das Chinas Abkehr vom Silberstandard und die Reform des chinesischen Währungssystems bewerkstelligt hat. Auch bei den Kapitalanlagen sind die Briten führend. Die enormen Reparationen für den Boxeraufstand, die China jedes Jahr an Großbritannien leistet, fließen nun zurück und werden für den Eisenbahnbau und andere Unternehmungen verwendet, wobei alles Material dafür von britischen Herstellern bezogen wird. Amerika hat sich in China in letzter Zeit überwiegend in Form diplomatischer Demarchen eingemischt, und diese sind nicht sonderlich scharf ausgefallen. Als Beweis dafür, dass die amerikanische Position augenblicklich schwach ist, mag die Tatsache dienen, dass Japan die Pan-American Airways erfolgreich daran gehindert hat, ihren transpazifischen Zielflughafen in China zu errichten, so dass die Gesellschaft in die portugiesische Kolonie Macao ausweichen musste. Und Japan hat Nanjing gezwungen, von einem Vertrag mit der Mackay Radio Corporation of America Abstand zu nehmen. Somit haben die USA in jüngster Zeit in China eine sehr schwache Rolle gespielt, und gegenwärtig deutet nichts darauf hin, dass sie stärker wird.

Trotzki: Eines der großen Länder, die die Krisenperiode für eine aggressive Politik genutzt haben, war Japan, ein anderes Italien, in Abessinien. Deutschland hat sie nur zur Aufrüstung genutzt. Was alle anderen Länder betrifft, so konnte zum Beispiel Großbritannien in China Einfluss ausüben, weil es eine alte Grundlage dafür hatte, aber international waren die Briten völlig gelähmt. In seiner berühmten törichten Rede hat Baldwin so viel gesagt wie: »Ich darf nicht offen eingestehen, wie bankrott ich bin.« Und in der spanischen Frage: da waren Frankreich und Großbritannien hilflos. Die Haltung der USA in China entsprach der Großbritanniens in Spanien: abwartend und ängstlich. Aber auch Japan hat an nichts so schwer zu tragen wie am Erfolg. Großbritannien hat Schwierigkeiten mit Indien, das es doch seit Jahrhunderten in seinem Besitz hat. In China aber leben 400 Millionen. Und jetzt die fünf nördlichen Provinzen. Ein armes kleines Land wie Japan als Herrscher über China, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Sowjetunion, mit Großbritannien als Rivalen, mit den USA als großer Bedrohung – all das wird das chinesische Volk in Aufruhr versetzen, und infolge der Aufschwungphase stellt es eine größere Macht dar als in den Jahren 1924-27. Sie ist ein neuer Wendepunkt, der für China so etwas wie eine industrielle Revolution bedeutet. Damit steht ein neuer patriotischer Umbruch in Aussicht. Selbst Korea kann für Japan zur Falle werden. Und sollte es zum Krieg mit der Sowjetunion kommen, muss Japan in Richtung Irkutsk vorstoßen. In der Mandschurei leben 30 Millionen Chinesen, die geschworene Feinde Japans sind. Ich glaube, die bürgerlichen Strategen schätzen die militärische Situation Japans in einem Weltkrieg grundfalsch ein, weil sie die Möglichkeit revolutionärer nationaler Bewegungen nicht in Rechnung stellen, und weil die meisten von ihnen Erinnerungen an den russisch-japanischen Krieg nachhängen. Es gibt einen großen Unterschied: Damals stellte die Mandschurei ein kleines 5-Millionen-Volk dar – heute handelt es sich um 30 Millionen richtiger chinesischer Bauern. Jedenfalls können wir mit einem stärkeren Widerstand Chinas rechnen. Heute liegt eine sehr bedeutende Periode der chinesischen Geschichte vor uns.

Li Furen: Es ist ein interessantes Merkmal der ausländischen Investitionen, dass sie zu einem sehr großen Teil, wenn nicht gar hauptsächlich, im Verkehrsehereich erfolgen, vor allem bei den Eisenbahnen. Eisenbahnen aber begünstigen die Vermarktung ausländischer Fertigprodukte. So tragen diese Investitionen, statt die chinesische Wirtschaft entwickeln zu helfen, vielmehr zum Verkauf ausländischer Waren bei.

Trotzki: Diese Einwirkung ist dialektischer Natur. In Russland haben sie auch mit dem Eisenbahnbau angefangen. Das Jahr 1905 war eine Eisenbahnrevolution. Wir hatten auch eine Großindustrie, aber die industrielle Entwicklung begann in der Hauptsache erst nach 1905, in der Periode von 1909 bis 1914. Die Ausländer schufen Eisenbahnen, bewirkten eine stärkere Zentralisierung des Landes, stärkten die Regierungsmacht. Die Regierung wurde ihrerseits vom ausländischen Kapital unabhängiger – siehe Wittes Kampf um die Zölle. Heute wird die Nanjing-Regierung von Großbritannien politisch am Leben erhalten, aber gerade die Eisenbahnen werden der Nanjing-Regierung eine wirkliche Stütze verschaffen, und sie wird von Großbritannien unabhängiger werden. Der Generalstreik von 1905 in Russland war in erster Linie ein Eisenbahnerstreik – die Eisenbahnen lahmzulegen, ist von enormer Tragweite.

R: Ist die scheinbar passive Haltung der Vereinigten Staaten gegenüber Japan in China nicht auch der Tatsache geschuldet, dass diese nach einer Operationsbasis suchen, von der aus sie Japan bekämpfen können, was auch der Grund für ihre Beziehungen zur UdSSR ist?

Trotzki: Ja, es handelt sich um die letzte Phase der US-Politik der »splendid isolation«. Mit der Anerkennung der UdSSR durch Roosevelt wurde die erste Voraussetzung für eine Wende geschaffen. Dann haben sich die Beziehungen abgekühlt, aber jetzt gibt es wieder eine Annäherung, und dem Besuch eines Geschwaders der amerikanischen Marine in Wladiwostok kommt große symbolische Bedeutung zu. Natürlich stellt die Frage des Prozesses gegen die [sowjetischen] Generäle für die USA ein Hindernis dar, denn ihnen kommen Zweifel am Wert der Sowjetunion als Bündnispartner. Aber das ist eine Episode. Sie geben die Politik der »splendid isolation« allmählich auf, und es kommt zu einer zwar sehr vorsichtigen, aber doch klaren Annäherung an die UdSSR, die sich nicht nur gegen Japan richtet, sondern auch gegen Großbritannien.

Eine weitere Frage ist die nationale Politik der chinesischen Bourgeoisie selbst. Wenn es in dem Thesenpapier kategorisch heißt, Tschiang werde nie gegen Japan kämpfen, so stimmt das nicht. Die allgemeinen politischen Gesichtspunkte sind völlig richtig und ausgezeichnet formuliert – die Klassenlinie im Kampf gegen Japan. Dasselbe haben wir aber auch im Kampf gegen den Zarismus gesagt: Unsere Liberalen und unsere Bourgeoisie können überhaupt nicht kämpfen; und im Kern hat das auch gestimmt. Aber als die Bourgeoisie in die Lage geriet, zwischen dem Zar und dem Untergang wählen zu müssen, hat sie den Zarenhof seinem Schicksal überlassen. Die Duma ist in die Opposition gegangen, sie haben sich an der Revolution beteiligt: Sie haben Rasputin umgebracht, damit begann die Abkehr von der Zarenfamilie. Die chinesische Bourgeoisie kann nicht ungehindert gegen den Imperialismus kämpfen, denn dazu muss sie die arbeitenden Massen mobilisieren, was sehr gefährlich ist. Aber das ausländische Kapital und die chinesischen Massen können die Bourgeoisie in eine Lage bringen, in der ihr kaum eine andere Wahl bleibt. Aus dem gleichen Grund, der die chinesische Bourgeoisie heute zur Unterstützung des japanischen Imperialismus nötigt, könnte sie im letzten Augenblick mit dem japanischen Imperialismus brechen, um sich zu retten, und uns somit zu Hilfe kommen. In Russland etwa haben sie im Februar 1917 die Monarchie zu opfern versucht, um sich selbst zu retten; Rodsjank setzte sich dann als der russische »Mirabeau« an die Spitze der »Revolution«. Wenn es um die eigene Haut geht, kann die chinesische Bourgeoisie japanische Garnisonen, Banken, Interessen preisgeben, um nur ja ihre eigenen Interessen zu wahren; sie sind sehr enge Freunde, aber nicht wesensgleich, und man sollte sie nicht über einen Kamm scheren.

Zur Begrifflichkeit ist auch noch ein Wort zu sagen: Der Ausdruck »Kleinbürgertum« wird in dem Thesenpapier nur da verwendet, wo das städtische Kleinbürgertum gemeint ist. Doch auch die Bauernschaft gehört zum Kleinbürgertum – sie ist ein Teil der gleichen Klasse, wenn auch ein ganz besonderer. Hier ist von einem Gegensatz der Bauernschaft zum Kleinbürgertum die Rede, aber es wird nicht klar, dass es sich um einen Gegensatz zum städtischen Kleinbürgertum handelt.

Was soll die Parole »Nieder mit den Vorbereitungen auf einen neuen Weltkrieg« in China bedeuten? Wir müssen für den neuen Weltkrieg vorbereitet sein. Wir müssen in China eine revolutionäre Volksarmee, die Bewaffnung der Arbeiter und Bauern fordern. Tschiangs Politik ist eine Politik der Unterwürfigkeit gegenüber Großbritannien. Tschiang Kaischek wird im Weltkrieg das Werkzeug Großbritanniens sein. Unsere Losung sollte lauten: Nieder mit der Politik Tschiangs, die China zum elenden Werkzeug Großbritanniens macht. Unsere Aufgabe ist es, auf eine Arbeiter- und Bauernregierung hinzuarbeiten.

Die Losung »Für Einheit mit der Sowjetunion und dem Weltproletariat« sollte vielmehr lauten: »Einheit mit dem Proletariat der ganzen Welt, für ein Bündnis mit der Sowjetunion auf Grundlage eines konkreten Programms im Interesse der Befreiung Chinas.« Die Sowjetunion, das ist heute die Bürokratie – kein blindes Vertrauen in die Sowjetunion!

Li Furen: Falls die Nanjing-Regierung ein Bündnis mit der Sowjetunion eingehen sollte und dieses Bündnis so angelegt wäre, dass es China schaden und nur der Sowjetunion nützen würde, welche Haltung sollten wir dann dazu einnehmen?

Trotzki: Ein Militärbündnis gegen Japan wäre für China in jedem Fall vorteilhaft, auch mit der Bürokratie, wie sie ist. Aber dann müssen wir sagen, dass wir von der Sowjetunion Munition und Waffen für die Arbeiter und Bauern fordern; in Shanghai, in den Arbeiterhochburgen müssen eigens dafür Komitees geschaffen werden; an der Ausarbeitung des Abkommens müssen neben der Guomindang auch Organisationen der Arbeiter und Bauern beteiligt sein. Wir fordern, dass die Sowjetbürokratie offen erklärt, nach Kriegsende keinerlei chinesisches Gebiet ohne Zustimmung des chinesischen Volkes besetzt zu halten usw.

Li Furen: Somit trauen Sie der Sowjetunion zu, sie könnte eine imperialistische Politik verfolgen?

Trotzki: Wenn sie fähig ist, falsche Anschuldigungen zu fabrizieren und Revolutionäre zu ermorden, dann sind ihr alle erdenklichen Verbrechen zuzutrauen.

Nun zur Frage des internationalen Charakters der Revolution. Man wird uns fragen: Könnt ihr als rückständiges Land die Revolution beginnen, während es in anderen Ländern zu Niederlagen kommt? Könnt ihr eine Diktatur des Proletariats errichten, während in anderen Ländern die Konterrevolution triumphiert? Wir müssen sagen: Ja, denn selbst wenn unsere Revolution nur teilweise siegreich ist, wird sie Bewegungen in Japan und anderen Ländern hervorrufen, und wir müssen nicht so sehr die mögliche Ausstrahlung anderer Revolutionen auf China betonen als vielmehr die Ausstrahlung, die von der chinesischen Revolution für andere Länder ausgehen wird.

Und wir müssen unseren Genossen einschärfen, sich so konspirativ wie möglich zu verhalten. Bei einem Abkommen Stalins mit Tschiang können sie alle von heute auf morgen ausgerottet werden. Keine Bewegung der Welt war je solchen Verfolgungen ausgesetzt wie die unsere. Wenn es zu der Vereinbarung kommt, werden sie Chen Duxiu umbringen; man muss eine Bewegung für ihn ins Leben rufen; Sie könnten die Initiative dazu ergreifen.

Kann man nicht für die chinesische Frage und überhaupt für die Frage der Kolonien in New York eine Kommission einsetzen, die Resolutionen für den nächsten Kongress der Vierten Internationale ausarbeitet Das IS hat beschlossen, für Oktober eine internationale Konferenz einzuberufen, doch ich persönlich finde, dieser Termin liegt zu früh. Für die Konferenz brauchen wir eine unabhängige Partei in den USA. Die internationale Konferenz wird auf Januar/Februar verschoben werden müssen.

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