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David Wijnkoop 19160400 Volksbewaffnung

David Wijnkoop: Volksbewaffnung

(Eine Grundlage zur Diskussion.)

[nach Vorbote, Heft 2 (April 1916), S. 27-36, als D. J. Wynkoop]

I.

Eine der Forderungen, die das Aktionsprogramm der Sozialdemokratischen Partei (SDP) in Holland aufstellt, ist die Volksbewaffnung.

Das Aktionsprogramm der Sozialdemokratischen Partei weist die Mittel an, die das revolutionäre Proletariat in seinem Kampfe gegen den kapitalistischen Staat gebrauchen muss, um die politische Macht zu erobern. Dass das Proletariat international bei seinem. revolutionären Aufstande gegen den Kapitalismus in der Tat die Volksbewaffnung nötig hat, und was man sich darunter vorstellen muss, kann erst dann verstanden werden, wenn man sich den Kampf, so wie er in der Wirklichkeit geführt werden wird, vor Augen führt.

Besser als früher kann man sich jetzt ein Bild des wirklichen Kampfes des Proletariats gegen den Kapitalismus machen. Besser als früher, wenn das auch seltsam klingt in einer Zeit, in der von Widerstand des Proletariats kaum die Rede ist. Aber vergessen wir nicht, dass der wirkliche, allgemeine, revolutionäre, der eigne Kampf des Proletariats, national und international, gegen das Kapital der Welt erst jetzt zu entstehen beginnt.

Der Kampf der Arbeit gegen das Kapital fängt erst an. Alles, was dem heutigen Weltkrieg an wirklicher Auflehnung gegen das Kapital vorangegangen ist, das waren bloße Scharmützel. Erst in den kommenden Zeiten wird es Ernst. Aber dadurch sehen wir auch besser als je zuvor, was unsere Kampfmittel, unser Aktionsprogramm und jeder einzelne Punkt desselben in diesem Kampfe bedeuten.

Unsrer Meinung nach ist es denn auch nicht zutreffend, wenn man behauptet, die Bedeutung des Aktionsprogramms sei für die kommenden Zeiten geringer geworden. Mit großem Rechte könnte man sagen, dass die Bedeutung des Aktionsprogramms für die Zukunft zugenommen hat. Die Sache ist so: Die Bedeutung des Aktionsprogramms hat sich im Laufe der Zeit verändert, und das ist durch die revolutionierende Kraft des Weltkrieges deutlich sichtbar geworden. Worin besteht nun die Veränderung?

Bisher dachte man sich oft das Aktionsprogramm als eine Art Parade, so etwas wie eine Reihe von Maximalforderungen, die der kapitalistische Staat in abstracto zwar sicher bewilligen könnte, in concreto aber freiwillig gewiss nicht bewilligen wird. Es blieben Forderungen, an deren «Ausführbarkeit» inmitten «des» Kapitalismus eigentlich niemand zweifelte und die gerade hierdurch, nicht ausgeführt (zum Beispiel allgemeines Wahlrecht, Aktionsfreiheit, Gleichberechtigung der Frau, Achtstundentag, kostenlose Versicherung usw.), geeignet sind, die höchste Unzufriedenheit zu wecken.

Eigentlich aber umfasst das Aktionsprogramm die Reformen, die, jede für sich und alle zusammengenommen, die Macht, den Hebel bilden, womit das Proletariat den Kapitalismus in Wirklichkeit umwälzen wird. Mit andern Worten: das Aktionsprogramm der Sozialdemokratischen Partei ist genau so revolutionär wie das Ziel der Sozialdemokratischen Partei selber. Ziel und Mittel sind ebenso wenig hier wie irgendwo voneinander zu trennen. Indem man die Mittel verwirklicht, verwirklicht man von selber das Ziel, denn man räumt so die Hindernisse aus dem Wege, die sich dem Zustandekommen des Sozialismus entgegenstellen. Anderseits kann das sozialistische Ziel erst durch die Verwirklichung der Mittel, der Reformen, erreicht werden.

Wenn auf dem Boden des Kapitalismus, zufolge seiner ökonomischen Art, die Reformen, welche die SDP in ihrem Aktionsprogramm angibt, nicht zu verwirklichen wären, dann wären nicht allein unsere Kampfmittel, nein, unser ganzes Ziel, der Sozialismus selber wäre eine Unmöglichkeit, eine Utopie. Es verhält sich jedoch so, dass unser Aktionsprogramm auf der Grundlage des Kapitalismus als ökonomisches System ganz entschieden zu verwirklichen ist – jedoch auf eine bestimmte Weise, nämlich in immer schärferem Streite mit den kapitalistischen Mächten; und gerade durch das Führen dieses heftigen Klassenkampfes werden nicht allein die Reformen verwirklicht, sondern schlägt zugleich der Kapitalismus durch die tatsächliche Macht der Arbeiter, durch die Diktatur des Proletariats, in sein Gegenteil um.

Wenn man das gut einsieht, dann verzweifelt man nicht bloß nicht an der einstigen Verwirklichung der so sehnlichst herbei gewünschten Reformen, sondern dann räumt man gleichzeitig jenen andern Schlagbaum vor dem rechten Verständnis unseres Kampfes weg, nämlich die Meinung, als ob Reformen und Revolution Gegensätze seien. In revolutionärem Kampfe erst werden die Reformen verwirklicht werden, und die von uns geforderten Reformen bilden den Inhalt der Revolution. In diesem Sinne beginnt demnach das Aktionsprogramm für uns eher mehr als weniger Bedeutung zu erhalten, denn wir stellten ja fest, dass der allgemeine Kampf der Arbeit gegen das Kapital erst mit diesem Weltkriege anhebt, und dass jede wirkliche Reform, welcher Art sie auch sein möge, erst im revolutionären Kampfe selber ihrer Verwirklichung näher kommt.

Die Veränderung ist also diese: weil der wirklich revolutionäre, der aktive Massenkampf der Arbeit gegen das Kapital jetzt anhebt, hört das Aktionsprogramm auf, in erster Linie ein Redeobjekt im Parlament und in Versammlungen zu sein, das dazu dient, die Schlechtigkeit der Bourgeoisie und die Bravheit der Führer des Proletariats zu beweisen, sondern wird vor allem zum Kampfobjekt, das sich durch die sich formende Macht der Massen mit Geben und Zurücknehmen, mit Fallen und Erheben, gerade wie in den revolutionären Zeiten, die wir kennen, zum Beispiel in der russischen Revolution, durchsetzt.

In der russischen Revolution wurde der Achtstundentag durch das machtausübende Proletariat selber eingeführt. Die Aktionsfreiheit wurde durch das sich in Massen bewegende Proletariat selber eingeführt. Die Gleichberechtigung der Frau wurde in der Tat gehandhabt und das allgemeine Wahlrecht erobert. Und nun möge dies alles wieder mit Hilfe des europäischen Kapitals niedergeschlagen sein – damit ist historisch allein erreicht, dass die Massenbewegung, die revolutionäre Bewegung des Proletariats auf breitere Basis gestellt wurde, nämlich zum mindesten auf europäische Grundlage; und der Weltkrieg, der scheinbar alle Revolution ertötet, ist in Wirklichkeit der Vorläufer der europäischen Revolution geworden. Das meinen wir, wenn wir im Hinblick auf die russische Revolution und auf die reaktionären Ausläufer derselben, die Erdrosselung jedes Protestes gegen den Krieg in Russland, sagen: so wird es in Westeuropa werden. Massenauftreten des Proletariats und despotisches Auftreten des Kapitals werden auf die Dauer in Europa sowohl wie in Russland zusammengehen.

Man verstehe uns gut. Will man es logisch ausdrücken, muss man so sagen: Entweder wird fortan überhaupt kein Kampf stattfinden, kein Kampf von einiger Bedeutung, kein Kampf von Massen um ein allgemeines Ziel, oder es wird von selber ein revolutionärer Kampf, also ein Kampf mit zeitweisen Siegen, aber auch zeitweisen Niederlagen, mit Steigen und Sinken, bis der endgültige Sieg erst nach gewaltigem Ringen kommen kann. Aber in Wirklichkeit ist das erstere, ein Ausbleiben, des allgemeinen Kampfes des Proletariats gegen den Imperialismus, eine Unmöglichkeit; das gewaltige Ringen der Klassen miteinander ist langsam, aber sicher im Anzuge.

Und wenn wir nun den Punkt Volksbewaffnung besprechen, dann stellen wir uns selbstverständlich nicht auf den logisch möglichen Standpunkt des Stillstandes, sondern auf den des wirklich kommenden Massenkampfes um ein allgemeines Ziel, nämlich um die Aufhebung des Elends des Proletariats – eines Kampfes, der ja bereits in den Massenbewegungen in beinahe allen groß kapitalistischen Ländern im zwanzigsten Jahrhundert seine Vorläufer hatte. Wenn Stillstand käme und kein Streit, dann hätte nicht bloß die Volksbewaffnung, sondern das ganze Aktionsprogramm als Kampfmittel gegen den Kapitalismus keinen Sinn; wenn aber Massenkämpfe kommen, dann hat die Forderung der Volksbewaffnung genau so viel Sinn wie die Forderung der vollständigen Demokratie oder die Forderung einer stark progressiven Einkommensteuer. Das alles werden dann notwendige Wehr- und Angriffsmittel im Kampfe.

Seit der russischen Revolution, ja eigentlich schon vorher, redet man viel vom Massenkampf als der eigentlichen Kampfmethode des revolutionären Proletariats. Diese Methode muss man jedoch in ihrem wirklichen Vorgang einmal näher betrachten.

Massenbewegungen des Proletariats führen notwendigerweise zu Massenstreiks. Das wird niemand leugnen. Aber wozu führen Massenstreiks, wenn es dem Proletariat Ernst wird? Sollte jemand sich einbilden, dass das Kapital den Massen eine friedliche Möglichkeit, das heißt also eine immer größer werdende Möglichkeit bieten wird, solche Streiks zu gewinnen? Wenn das Proletariat in seinem Kampfe um die Macht eine teilweise Niederlage erleidet, wie das schon so oft geschehen ist und noch oft geschehen wird, dann ist es für den Augenblick erschöpft, dann muss die harte Wirklichkeit mit kräftigen Fußtritten kommen, um es aus seiner Abgestumpftheit aufs Neue zum Widerstand zu bringen. Aber erficht das Proletariat in seinem Massenkampf um die Macht einen teilweisen Sieg, dann kann es nicht bei diesem Teilsiege stillstehen, dann muss es vorwärts aufs Ganze, und das kann der Kapitalismus nicht zulassen. Noch nie hat eine bevorrechtete Klasse ohne Kampf bis aufs Äußerste von ihren Vorrechten Abstand genommen, und der heutige Weltkrieg ist Zeuge, dass das Kapital lieber noch nie gekannte blutige Kämpfe entfesselt, als dass es aufhören würde, seinen Kapitalismus, sein «Vorrecht» auf Ausbeutung anzustreben.

II.

Das Kapital wird – wer wollte das leugnen – nie und nimmermehr dem Proletariat die friedliche Möglichkeit gönnen, in Massenbewegungen von Sieg zu Sieg zu schreiten. Im Gegenteil, mit allen Mitteln, auch mit den letzten und wirksamsten, wird es das Proletariat in seinem Kampfe um die Macht aufhalten, hindern, niederschlagen und abermals niederschlagen. Und zwar bloß, um Zeit zu gewinnen. Denn das einzige, was der Kapitalismus – mag auch der Imperialismus noch so lebenerweckend scheinen – historisch gesprochen, noch kann, ist, sich selber eine Galgenfrist gönnen, seine endgültige Todesstunde hinausschieben. Dieses einzige ist, gemessen an dem Jammer und Elend, den der Imperialismus im Krieg und im Frieden um sich hin streut, abscheulich viel. Aber es ist das einzige – sobald das Proletariat seinen ökonomischen und politischen Massenkampf um die Macht einsetzt.

Mit den letzten und wirksamsten Mitteln, so sagten wir, wird das Kapital das Proletariat in seinem Kampfe um die Macht aufhalten. Und die Geschichte, nicht bloß die der blutigen russischen Revolution, sondern unter andrem auch die der «freien» französischen Republik und des «friedlichen» britischen Reiches hat uns bereits gezeigt, welches diese letzten und wirksamsten Mittel sind. Das ist das Heer, und zwar jede mögliche Anwendung des Heeres. Man braucht sich noch nicht gleich vorzustellen, dass der Kapitalismus direkt das Heer aufruft, um auf eine friedliche, dem Siege entgegen schreitende Masse zäh aushaltender Streikender zu schießen. Das kommt erst später, Das Heer wird kommandiert, um die Arbeit zu verrichten – im «öffentlichen Interesse»! Briands Eisenbahnbrigade, die bereits in Holland vom reaktionären Dr. Kuyper erfunden und vom «liberalen» Minister Lely in Praxis gebracht wurde, – ist das Vorbild, auf welches die herrschenden Klassen gegenüber – den Kapitalismus in Wahrheit bedrohenden – friedlichen streikenden Massen immer wieder zurückgreifen werden, und das wird sich im selben Maße verallgemeinern, wie der Kampf massenhafter und drohender wird. Das lehrt uns die Geschichte jedes Tages in der ganzen kapitalistischen Welt, in England, Frankreich, Deutschland, Russland, Italien, Südafrika, Amerika und Japan.

Die Revolution entsteht nicht aus dem ausländischen, sondern aus dem inländischen Kriege, und sie – die proletarische Revolution – macht den kapitalistischen Krieg mit fremden Ländern unmöglich. Dann haben die herrschenden Klassen etwas anderes zu tun. Dann haben sie nicht an die Ausbreitung des Kapitalismus zu denken, wozu ihnen der ausländische Krieg dient, sondern an den Tod des Kapitalismus, wozu uns der inländische Krieg, der Klassenkampf, dient. Die Revolution kann nur insoweit aus dem Auslandskriege entstehen, als der Krieg den Klassenkampf verschärft. Da aber Kriege oft gerade den Klassenkampf verwischen – was ja meistens auch ein Nebenzweck des Krieges ist – kann der Krieg ein Hindernis für eine keimende revolutionäre Bewegung sein, wie das 1914 in Russland und selbst in England der Fall war.

Mit diesem Intermezzo wollen wir in Bezug auf unser Thema dies sagen: Wenn zum Beispiel die Grubenarbeiter in Masse den Kampf beginnen, dann wird es in einem gewissen Augenblick als im «öffentlichen Interesse» erklärt werden, die Grubenarbeit zwangsweise stattfinden zu lassen, das heißt die Soldaten für diesen Dienst aufzurufen. Wenn die große Stahl- und Eisenindustrie in Masse stillgelegt wird, dann kann es in einem gewissen Augenblick im öffentlichen Interesse erachtet werden, die Stahl- und Eisenwerke zwangsweise weiterarbeiten zu lassen, mit Hilfe der Soldaten. Bereits jetzt denkt man in Amerika daran, die Stahlindustrie zur Staatssache zu machen. Wenn die Transportarbeiter, die Eisenbahn- und Hafenarbeiter in Masse streiken, dann ist es bereits vorgekommen, dass man – natürlich im «öffentlichen Interesse»! – damit drohte, die Arbeit durch Soldaten verrichten zu lassen, oder sogar dazu überging. So können auch die Lebensmittelindustrien zum «öffentlichen Interesse» erklärt und die Soldaten gezwungen werden, die Arbeit der streikenden Massen zu tun. Hier geht dann zugleich der wirtschaftliche Fachkampf in den politischen allgemeinen Kampf über.

Was geschieht nun eigentlich in solchem Falle? Der Kapitalismus stellt die Masse der Masse gegenüber, er schickt die Masse bewaffnet gegen die Masse ohne Waffen; er zwingt die Arbeiter mittelst des Militarismus dazu, als Streikbrecher die Arbeit der Ausständigen zu übernehmen; der Kapitalismus spaltet hier also die Masse. Denn schließlich ist im fortschreitenden Kapitalismus die bewaffnete und die arbeitende Masse ein und dieselbe. Es sind zwei Funktionen derselben Masse im Dienste des Kapitals. Und die Masse, die die Arbeit im Dienste des Kapitals zu verweigern beginnt, wird damit fortfahren, den Dienst zur Streikbrecherei zu verweigern. Insoweit gehen auf die Dauer bei wirklich kämpfenden proletarischen Massen Massenstreik und Massen-Dienstverweigerung Hand in Hand. Durch den Versuch also, um, Heer gegen Arbeiterheer stellend, die Massenbewegung durch militärische Streikbrecherei niederzuschlagen, spaltet der Kapitalismus einerseits die Masse selbst in eine im revolutionären Dienste und eine im reaktionären Dienste kämpfende Masse, anderseits aber untergräbt der Kapitalismus durch diesen Gegensatz, den er entstehen lässt, auch die Grundlagen des militärischen Dienstes und schließlich sich selber.

Die eine und die andere Seite ist gleich wahr, und man muss sich beide gut vorstellen. Einerseits wird das Heer aufgerufen, um noch nicht mit Schießen, sondern durch erzwungene Arbeit dem «öffentlichen Interesse» Genüge zu tun. Anderseits wird das Heer sich weigern, diese militärische Streikbrecherei zu verrichten. Das will sagen, dass die Masse, wie stets, ehe der Sieg erfochten ist, innerlich zerspalten sein wird. Gegenüber denen, die bereits Vertrauen in die revolutionäre Kraft des Proletariats stellen, stehen diejenigen, die noch Vertrauen in die reaktionäre Kraft des Kapitals stellen. Und das vom Kapital bewaffnete Volk wird mit sich selber fechten. Oder gäbe es jemand, der dann den Gebrauch der Bewaffnung lieber nur den Reaktionären überlassen möchte?

Hiermit wollen wir nichts anderes sagen als dies: Wenn Masse und Militarismus sich beide verstärken, die eine im Dienste der Befreiung, der andere im Dienste der Unterdrückung der Menschheit, dann müssen die zwei – obwohl sie aus demselben Menschenmaterial geformt sind – einmal miteinander in Streit geraten. Vorausgesetzt natürlich, dass die Masse nicht aufhört, für ihre Befreiung aus dem Elend zu kämpfen, und gleichfalls vorausgesetzt, dass die Herrscher nicht aufhören, ihre eigenen Standesvorrechte behalten und ausbreiten zu wollen. Und beides können wir in Anbetracht der historischen Wirklichkeit der menschlichen Gesellschaft von vielen Jahrhunderten annehmen. Eine andere menschliche Geschichte gibt es tatsächlich nicht.

Bei dieser Anschauung kommt es natürlich nicht darauf an, ob das militärische System, das stehende Heer, nach deutsch-französischer Manier auf der Grundlage der Nationalgarde oder auf angelsächsische Weise aus «dressierten Lohnsoldaten» geformt ist; hierauf ist bereits im holländischen sozialdemokratischen Organ «De Tribune» vom 10. April 1915 hingewiesen. Worauf es ankommt, ist, dass das militärische System dazu gebraucht wird, das Proletariat «im Zaum zu halten», und dass bei dem revolutionären Kampfe (der, wie wir gesehen haben, der einzig mögliche Kampf ist, um Reformen – wirtschaftliche wie politische –, den Hebel für den Sozialismus, zu erreichen und den Kapitalismus loszuwerden) das Proletariat auf die Gewalt, auf das militärische System stößt, welches dann von Seiten der Kapitalisten keineswegs «abgeschafft», sondern «gebraucht» werden wird; und dass durch das Proletariat diesem System ein anderes Bewaffnungsprinzip gegenübergestellt wird, auf Strafe von ärger als bei der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70, oder 1535 bei der Marterung von Münster, ärger als 1871 bei der Schlachtung der Kommune oder 1905 beim Moskauer Morden niedergemetzelt zu werden bis auf den letzten Mann.

III.

Nicht, von selber wird geschehen, was wir wünschen: dass der Militarismus zusammenbricht, sobald das Kapital ihn auch direkt gegen das Volk gebraucht. – Indirekt tut es das jetzt schon im Weltkriege: zu Millionen fallen ja die Proletarier! – Wir wünschen und wir wissen, dass bei Anwendung des militärischen Systems gegen das Proletariat, also bei Gebrauch der bewaffneten gegen die wehrlose Masse, sei es durch erzwungene Streikbrecherei oder durch Schießen des Militärs auf proletarische Massen, der Militarismus und damit auch der Kapitalismus untergraben werden wird. Aber allein dann wird das geschehen, wenn nicht bloß auf der einen, sondern auch auf der andern Seite eine wirkliche Macht, ein Wille zur Macht steht. Eine Masse, die nicht handelt, nicht arbeitet, sich nicht wehrt, ist keine wirkliche Macht, hat keinen Willen zur Macht. Die streikenden Massen, gegen welche Gewalt angewendet wird, müssen sich mit Gewalt wehren – in Masse. Sie müssen sich mit Massengewalt wehren, weil sie sonst dezimiert werden, weil sie sonst nicht einmal das Gewaltinstrument der Herrscher untergraben können, weil sonst Massen-Dienstverweigerung heißen würde: Massenselbstmord. Wer Massenstreik sagt, sagt Widerstand des Volkes gegen das militärische System, also Volksbewaffnung. Aber wer Massen-Dienstverweigerung sagt, der sagt erst recht: Volksbewaffnung; denn Dienstverweigerung ohne Volksbewaffnung heißt niedergeschossen, werden nicht bloß ohne Gnade, sondern auch ohne Zweck, ohne Aussicht. Stellt man sich die wirklichen Konsequenzen des eigentlich jetzt erst recht anfangenden Kampfes der proletarischen Massen gegen die Aussaugung aller Länder und Völker durch den Kapitalismus vor, eines Kampfes, der von Seiten des Proletariats national und international, wirtschaftlich und politisch auf die Reformen der Gesellschaft, die notwendigerweise zum Sozialismus führen, abzielt – stellen wir uns diesen Streit massal1, revolutionär vor, wie er nicht anders geführt werden kann – dann sehen wir, dass diese Massenbewegung zum Massenstreik führt, aber auch zur militärischen Unterdrückung, und dass selbst Massen-Dienstverweigerung in diesem Verbände nichts anderes bedeutet als eine Verzweiflungstat; es wäre denn, dass diese Dienstverweigerung besagen will: kein Dienst für das Kapital, sondern Dienst für das Proletariat, kein Angriff auf das Proletariat, sondern Angriff auf das Kapital; also: kein Militarismus, sondern Volksbewaffnung. Mit andern Worten: Sind die Reformen in unserm Aktionsprogramm, die Mittel, um im wirklichen Kampf den Kapitalismus zum Sozialismus zu revolutionieren, uns Ernst, dann muss neben den andern von uns geforderten und durch uns selber zu bringen Reformen stehen: die Volksbewaffnung, die Verfügung des Volkes über die Waffen. Und wir werden die Demokratie nicht bringen noch handhaben können, ohne durch die Volksbewaffnung das standhaltende Kapital zu schlagen. Und wir werden den Sozialismus nicht aufwachen sehen, ehe das bewaffnete Arbeitervolk nicht die Söldner und Soldaten des Kapitals endgültig besiegt hat durch Macht und durch Recht – das heißt fortgesetzt ausgeübte Macht.

Aber nun die Bedenken! Die geäußerten Einwürfe gegen Volksbewaffnung sind unzählbar. Wenn jedoch das Prinzip feststeht, dann mögen unsertwegen die Einwürfe dagegen, auch von «revolutionärer» Art, ernsthafter sein als sie scheinen, aber dann haben wir bewiesen, dass es keine Revolution geben wird – noch je gegeben hat – ohne Bewaffnung. Die russische Revolution, sagt Trotzki, lehrte dem Proletariat nichts so sehr, als dass es die Waffen haben muss. Und hiermit müssen eigentlich schon alle Bedenken fallen.

So sagt man: Aber es braucht nicht im Aktionsprogramm zu stehen, denn erst in und mit der Revolution wird Volksbewaffnung nötig sein. Wer nicht dogmatisch und romantisch denkt, sondern realistisch und revolutionär, also historisch-materialistisch, wer die Revolution weder als eine aufgehende Sonne noch als einen vorübergehenden Sturm, sondern als ein allmählich entsetzlicher werdendes, lange andauerndes Ringen zwischen den Klassen sieht, der weiß, was wir voranstellten und was tausendmal gelehrt wurde: dass es in der Wirklichkeit keinen Punkt gibt, wo der Kampf um Reformen aufhört und die proletarische Revolution anfängt, der weiß, dass der wirkliche Kampf um politische Reformen und wirtschaftliche Verbesserungen die proletarische Revolution ist, für den gehört das allgemeine Wahlrecht und die Versammlungsfreiheit, der Achtstundentag und die Gleichberechtigung der Frau, die Arbeitslosengesetzgebung und die progressive Einkommensteuer, der neutrale Unterricht mit Schulzwang, die Trennung von Kirche und Staat und die Laienrechtsprechung ebenso gut zu den notwendigen Reformen wie die allgemeine Volksbewaffnung. Allein wer Reformen und Revolution voneinander scheidet, kann die Volksbewaffnung von den andern Forderungen scheiden und sich in der törichten Illusion wiegen, dass dieses andere ohne das eine zum Mittel werden kann, um wirklich das Kapital zu bedrohen; – und ein Kampf, der nicht wirklich bedroht, ist kein Kampf. Nur Reformisten und Pazifisten, nur Illusionisten können denken: Man kann ernstlich alle die genannten Reformen fordern und die Volksbewaffnung ausschließen.

Wir wollen ja doch kein Wahlrecht, kein Versammlungsgesetz, keine Frauenfreiheit, keine Arbeitergesetzgebung, keinen Unterricht, keine Rechtsprechung, keine Staatsmonopole, keine Wohnungsgesetze, keine Steuerregelung usw., die den Kapitalismus nicht bedrohen; nein, wir wollen diese alle so, dass sie das Proletariat stärken, aber das Kapital schwächen. Nun, in diesem Sinne können wir entweder unser ganzes Aktionsprogramm aufheben, denn «kriegen» werden wir nichts davon, oder wir müssen die Volksbewaffnung beibehalten, denn das eine kommt, nicht mehr noch minder als das andere, erst zufolge und während des revolutionären Kampfes der Arbeiterklasse um Verbesserungen und Reformen. Wir fordern also das eine und das andere.

Als Kampfmittel für eine revolutionäre Partei ist die Volksbewaffnung ebenso gut und ebenso wenig «ausführbar», ebenso gut und ebenso wenig Utopie als alle andern Mittel. Das heißt sie wird erst im Kampfe, im revolutionären Kampfe, wünschenswert und möglich, dann aber auch nötig. Dass radikale und reformistische Bourgeois, vielleicht auch Individualisten und Anarchisten, den Namen Volksbewaffnung missbrauchen, um den Wahnsinn zu begehen, Revolutionäre als Militaristen vorzustellen, kann für uns kein Grund sein, um die Volksbewaffnung zu streichen, ebenso wenig als ein solcher Irrtum auf der entgegengesetzten Seite je für uns ein Grund war, um das allgemeine Wahlrecht als Forderung zu streichen.

Volksbewaffnung ist kein Mittel, uns den Krieg fernzuhalten, ebenso wenig als unser Aktionsprogramm ein Heilmittel gegen irgendwelches kapitalistisches Übel anzuweisen weiß. Wohl aber ist die Volksbewaffnung ein Kampfmittel gegen den Kapitalismus, und in dem Maße, in dem das arbeitende Volk in seinem Kampfe der Verwirklichung dieses Mittels näher kommt, in dem Maße wie, mit andern Worten, der Klassenkampf auch vom proletarischen Standpunkt aus sichtbar zunimmt, sich verschärft, im selben Maße werden die Kapitalisten sich hüten, die Arbeiter leichtsinnig wiederum zum Kriege zu zwingen, weil dann erst die Gefahr drohen wird, dass auch gegen den Auslandskrieg gleich wie gegen den inländischen die Arbeiter Front machen werden, nicht allein mit massenhafter Dienstverweigerung, sondern mit tatsächlichem, organisiertem, bewaffnetem Widerstand, der das Ende des Kapitalismus einläuten wird. Sie würden, mit andern Worten, den Aufruf zum ausländischen Kriege mit dem «Bürgerkriege» beantworten.

Noch viel weniger kann die Volksbewaffnung zum Mittel werden, um einen kapitalistischen ausländischen Krieg zu führen. Wer in der Wirklichkeit denkt, weiß das unmittelbar.

«Mit Reformen, welche das Prinzip des stehenden Heeres zulassen, wie notwendig und nützlich sie auch sein mögen, nähert man sich ebenso wenig dem Prinzip der allgemeinen Volksbewaffnung, wie man sich mit Gesetzen über Arbeiterschutz der sozialistischen Produktionsweise nähert.

Indem man ernstliche Missbräuche beim stehenden Heere aufhebt, ist man keineswegs auf dem Wege zur allgemeinen Volksbewaffnung. Selbst wenn alle finanziellen Lasten des modernen Militarismus auf die Schultern der besitzenden Klassen gelegt würden, wenn man auch die Dienstzeit bis auf sechs Monate oder noch weniger abkürzt, wenn man auch den Schwerpunkt der militärischen Ausbildung in die Jugenderziehung verlegt, auch dann noch ist man der allgemeinen Volksbewaffnung um keinen Schritt nähergekommen.»

So schrieb «Opmerker» in «De Tribune». Und mit Recht. Denn nicht aus einer allmählichen Reformierung zum fortschrittlichen oder reformistischen «Volksheer» entsteht ja die demokratische «Volksbewaffnung», sondern durch den Zerfall des Heeres im revolutionären Kampfe selber. So und nicht anders wird das militärische System durch das Reformen wollende revolutionäre Proletariat «abgeschafft», und so wird die Volksbewaffnung an Stelle des stehenden Heeres eingeführt, wie unser Aktionsprogramm das fordert. Also durch einen tödlichen Kampf der Freiheit wollenden, massal-solidarischen Elemente im Heere gegen die unbewusst fortlebenden, reaktionär-sklavischen Soldaten des Heeres.

Wir haben mit diesen Artikeln nicht mehr gewollt noch gekonnt, als eine Grundlage für den Begriff Volksbewaffnung in unserm Aktionsprogramm zu geben. Wir sind uns bewusst, in diesen Artikeln lange nicht alles das berührt zu haben, was hierbei wohl zur Sprache kommen könnte. Aber das war für unsern Zweck, die Feststellung des Begriffs der Notwendigkeit der Volksbewaffnung als integrierender Teil des Aktionsprogramms unserer revolutionären Partei und das Stellen dieser Forderung in den Rahmen unseres ganzen revolutionären Kampfes, vorläufig auch nicht nötig.

1 Möglicherweise eine misslungene Eindeutschung des niederländischen „massaal“ = „massenhaft“?

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