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Henriette Roland-Holst 19160100 Der Kampf um Zimmerwald in Holland

Henriette Roland-Holst: Der Kampf um Zimmerwald in Holland

[nach Vorbote, Heft 1 (Januar 1916), S. 64-68]

Wohl in keinem Lande sind der Kampagne für die Unterzeichnung des Zimmerwalder Manifestes solche eigenartige Schwierigkeiten begegnet, wie in Holland, dem einzigen Land, wo die Beschlüsse der Konferenz, vor allem das Manifest, sowohl von rechts wie von links heftig angegriffen und scharf kritisiert wurden. Dass dies seitens der opportunistisch-nationalistischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei geschah, konnte uns nicht verwundern; es ist ja selbstverständlich, dass die Parteien, welche auf dem Boden des Sozialpatriotismus und Sozialimperialismus stehen, die Zimmerwalder Konferenz sowie ihre Beschlüsse nur verdammen können. Jedoch auch vor dem kritischen Blick der führenden Genossen der Sozialdemokratischen Partei (Tribunisten) fand das Manifest so wenig Gnade, dass sie sich, wie bekannt, weigerten, es zu unterzeichnen.

Es ist ohne Weiteres klar, dass, wo unter diesen Umständen eine erfolgreiche Kampagne für die Unterzeichnung des Manifestes unter den holländischen Arbeitermassen ausgeschlossen war, die Propagandisten des RSV1 durch die Lage gezwungen wurden, alle Unzulänglichkeiten und Schwächen des Manifestes sowie der Konferenz überhaupt scharf ins Auge zu fassen und sich von diesem allem Rechenschaft zu geben. So wurde für sie selbst diese Kampagne – vielleicht in höherem Maße wie sonst – zu einer Zeit der kritischen Klärung, einer Prüfung ihres eigenen Standpunktes. Was dabei herausgekommen ist, möchte ich hier kurz zusammenfassen, weil es, wie uns scheint, nicht ganz ohne Wert ist in Bezug auf die Arbeit und die Beschlüsse einer etwaigen zweiten Konferenz.

Die Beschwerden, welche seitens der SDAP gegen das Manifest erhoben wurden, sind vor allem von Genossen Van der Goes formuliert worden. Er hat mit seiner oft in Text-Exegese verfallenden Kritik unzählige Spalten des sogenannten «marxistischen» Wochenblattes – ob zum Heile des Marxismus, mag dahingestellt bleiben – ausgefüllt. Im Wesentlichen drehten sich seine Ausführungen darum, dass die Forderung des «Selbstbestimmungsrechtes der Nationen» sowie diejenige eines «Friedens ohne Annexionen und Kontributionen» sich mit der Aufforderung zum Einstellen des Burgfriedens, zur Wiederaufnahme des Klassenkampfes im Widerspruch befinden sollten. Mit allen erdenklichen Sophismen versuchte Van der Goes zu beweisen, dass das Eintreten für diese Friedensbedingungen notwendigerweise für die Arbeiter der okkupierten, militärisch sich im Nachteil befindenden Länder der Entente und für ihre Verbündeten das Recht wie die Pflicht – die sozialistische Pflicht – bedeutet, ihre Regierungen in allem, was zur erfolgreichen Bekämpfung des «Feindes» dienen könne, zu unterstützen.2

Außer mit den Polemiken von Van der Goes hatten wir noch mit der offiziellen «Erklärung» des Parteivorstandes der SDAP gegen Zimmerwald zu rechnen, einem Schriftstück, das sich nicht nur gegen den Inhalt des Manifestes, sondern vor allem gegen die Errichtung der Internationalen Sozialistischen Kommission von Bern richtet. Es hält fest an der Fiktion, dass das Internationale Sozialistische Büro die erkorene Körperschaft sei, die eine Friedensbewegung in Gang bringen werde, «sobald die Umstände günstig sind» (soll wohl heißen, wenn endlich die Regierungen und die herrschenden Klassen beider kriegführender Gruppen die Unmöglichkeit einsehen, den Gegner völlig niederzuwerfen, was – es sei denn, dass das Proletariat sich erhebe – wohl erst dann eintreffen wird, wenn die Völker weiß geblutet und vollständig erschöpft sind). Und außer an dieser Fiktion hält die Erklärung der SDAP auch noch an jener andern fest, dass «die Wiederherstellung der Internationalen» nur von eben dieser erkorenen Körperschaft zustande gebracht werden könne.

Die Kritik der sozialdemokratischen Parteigenossen wendete sich ebenfalls in erster Linie gegen die Formel des «Selbstbestimmungsrechtes». Selbstverständlich jedoch griff die Kritik Wynkoops diese Formel im ganz entgegengesetzten Sinne an, als die Kritik Van der Goes dies tat. Während Van der Goes gegen die Forderung des «Selbstbestimmungsrechtes» nichts einzuwenden hat, im Gegenteil, sich damit sowie mit den weiteren «sozialistischen Friedensforderungen» völlig einverstanden erklärt, aber mit diesen Forderungen den «Aufruf zum Klassenkampf» für unvereinbar hält und diesen zur «hohlen Phrase» stempelt – kehrt Genosse Wynkoop sich gegen die sogenannten «sozialistischen Friedensforderungen», vor allem gegen die des «Selbstbestimmungsrechts», deshalb, weil sie ihm eine so große und unzulässige Schwächung des vom Manifest proklamierten Prinzips des Klassenkampfes zu sein scheint, dass dabei nichts als Verwirrung und Selbsttäuschung herauskommt. Des Weiteren kritisierte die Sozialdemokratische Partei an den Beschlüssen der Konferenz, dass zwar von ihr die Arbeiter der kriegführenden Länder aufgerufen wurden, den Burgfrieden zu brechen und sich ihren Regierungen zu widersetzen, das Manifest dennoch keineswegs klar und ausdrücklich die Absage von der Landesverteidigung forderte, welche den Neutralen ebenso gut die Verweigerung der Mobilisationskredite zur Pflicht macht wie den Kriegführenden jene der Kriegskredite. Die Teilnahme jener sozialistischen Parlamentarier, welche selber den Mobilisationskrediten zur Verteidigung der bewaffneten Neutralität ihres Landes zugestimmt haben, an der zu Zimmerwald beschlossenen internationalen Aktion gegen den Krieg, macht diese Aktion ebenso sehr zu lauter Schein, raube dem Manifest ebenso sehr jeden wirklichen Inhalt, wie dies zum Beispiel mit den Beschlüssen der internationalen Kongresse von Kopenhagen und Basel der Fall war.

Schließlich rechnet die Kritik aus den Reihen der Sozialdemokratischen Partei es den Zimmerwaldern als einen schweren Fehler an, dass sie auf einen Kompromiss mit der Mehrheit der deutschen Delegation eingingen, als deren Folge gar davon Abstand genommen werden musste, im Manifest die Ablehnung der Kriegskredite ausdrücklich zu fordern. Durch diese Unterlassung bleibt das Manifest faktisch noch hinter den vor dem Weltkrieg angenommenen Resolutionen zurück. Und wenn auch am 20. Dezember 1915 eine Minderheit im deutschen Reichstag sich endlich, mit Ach und Weh entschlossen hat [Liebknecht] nachzuhinken und die Kredite abzulehnen, so ist der Inhalt der Erklärung Geyers zu dieser Abstimmung durchaus ungenügend. Die Minderheit macht ihre Ablehnung abhängig von der militärischen Lage und beweist dadurch, ebenso wie die Mehrheit, noch in traditionellen patriotischen Anschauungen befangen zu sein und die neuen Verhältnisse, welche der Imperialismus geschaffen hat, keineswegs zu durchschauen. Man vergleiche mit der lendenlahmen Erklärung Geyers die Erklärung Liebknechts am 2. Dezember 1914! Diese ist von wirklich revolutionärer Einsicht getragen. Der Geist von Zimmerwald, woraus Geyers Erklärung hervorging, sei der Geist der Halbheit, der Geist des Opportunismus.

Was haben wir, die wir die Kampagne für das Zimmerwalder Manifest führten, nun auf diese Kritik geantwortet? In welchem Sinn haben Wir die Beschlüsse von Zimmerwald verteidigt?

Wir haben geantwortet, dass auch uns die Formel des «Selbstbestimmungsrechts der Nationen» keineswegs befriedigt, dass auch wir sie für unklar und zweideutiger Auslegung fähig halten. Wir haben zugegeben, dass diese Formel kein Ausdruck der allgemeinen proletarischen Interessen im imperialistischen Zeitalter ist, sondern dem geistigen Rüstzeug des Kleinbürgertums entnommen wurde. Wir haben jedoch versucht klarzumachen, wie auch diese ungenügende Formel in der augenblicklichen Situation positiv revolutionären Inhalt hat, wie sie vor allem die Absage der deutschen Opposition an die Annexionspolitik der herrschenden Klassen und der Sozialpatrioten Deutschlands bedeute, sowohl wie die der französischen Opposition an die Eroberungsträume der französischen Chauvinisten und Sozialpatrioten. Wir haben uns bemüht zu zeigen, wie schwer es immer einer neuen Einsicht, einem neuen Wollen fällt, sich von alten Formeln und traditionellen Ausdrücken zu befreien, wie dies nur geschehen kann als Frucht der analysierenden Diskussion und vor allem des Kampfes selbst. Während wir den Standpunkt Van der Goes' als völlig unsozialistisch brandmarkten und als seine unvermeidliche Folge die gegenseitige weitere Zerfleischung des Proletariats im Dienste der imperialistischen Interessen zeigten, suchten wir die Marxisten der sozialdemokratischen Partei zu überzeugen, dass ihre Kritik weit fruchtbarer wäre, wenn sie innerhalb der von der Internationalen Sozialistischen Kommission geschaffenen Verbindung stattfinden würde. Wir haben uns darauf berufen, dass alle Elemente der Zimmerwalder Linken ohne Unterschied das Manifest, ungeachtet seiner Schwächen, als Aufruf zum Kampf verstanden und deshalb mitunterzeichnet haben. Wir versuchten keinen Augenblick zu vertuschen, dass innerhalb der dem Berner Komitee angeschlossenen Parteien und Gruppen große graduelle Unterschiede in Bezug auf Klarheit, Einsicht und revolutionäre Gesinnung bestehen, – dass diese Unterschiede sich vor allem in der politischen Stellungnahme zu den Fragen der eigenen Politik, besonders zu jener brennenden Frage der Landesverteidigung offenbaren. Wir haben jedoch hervorgehoben, dass unseres Erachtens Parteien wie Personen eine gewisse Frist gelassen werden müsse, um sich in die neuen Verhältnisse, welche der Imperialismus schafft, in den neuen Konsequenzen, wovor er den sozialdemokratischen Gedanken stellt, zurechtzufinden. Es ist uns nicht in den Sinn gekommen zu leugnen, dass die Zustimmung zu Mobilisationskrediten zur Wahrung der Neutralität im Keim den Willen enthält zur bewaffneten Landesverteidigung und dass es eine große Inkonsequenz ist, das Proletariat der kriegführenden Länder dazu aufzurufen, sich ohne Rücksicht auf die militärische Lage gegen seine Regierung aufzulehnen, während man der eigenen Regierung die Mittel zur eventuellen gewaltsamen Landesverteidigung bewilligt. Wir haben uns jedoch bemüht zu zeigen, wie es auch hier verfrüht ist, eine scharfe Grenzlinie zu ziehen, wie es vor allem jetzt noch auf die Richtung, die Orientierung der Gruppen wie der Personen ankomme. Wir haben erklärt, dass man z. B. von den Genossen eines Landes wie die Schweiz, wo die kleinbürgerlich-demokratischen Traditionen und Illusionen als Folge der Geschichte wie der ökonomischen Verhältnisse besonders stark sein müssen, wo der Imperialismus nicht, wie in Holland, eine einheimische Macht ist, sondern von draußen her auf Staat und Gesellschaft einwirkt, nicht mit gutem Fug fordern könne, dass sie sich mit einem Male aller traditioneller sozialdemokratischer Anschauungen über «das Recht der Landesverteidigung» usw. entäußern, dass man ihnen Zeit lassen müsse, sich zur völligen Klarheit und Konsequenz durchzuarbeiten, durchzukämpfen.

In ähnlicher Weise haben wir auch den «Kompromiss mit der Mehrheit der deutschen Delegation» verteidigt: als eine zeitliche Maßnahme, ein Offenlassen der Tür dem revolutionären Wollen, der reifenden Einsicht des «Umlernens» im radikalen Sinne gegenüber – als ein Mittel zugleich, durch den Druck der ganzen internationalen Linken auf einen seiner Teile einzuwirken. Wir haben jedoch kein Hehl daraus gemacht, dass auf die Dauer nur solche Elemente zusammengehören, welche den Mut und die Klarheit besitzen, mit allen Traditionen, auch mit solchen der «Parteidisziplin» und der «Parteieinheit» zu brechen und sich durchzuringen zum Standpunkt des neuen Sozialismus, zur Einsicht in die Notwendigkeit der Massenkämpfe gegen die imperialistische Herrschaft und der absoluten Verwerfung der Landesverteidigung in den kapitalistischen Staaten. In betreff der neuen Internationalen schließlich haben wir dem Parteivorstande der SDAP gezeigt, dass die Internationale Sozialistische Kommission zu Bern zwar nach seinen eigenen Worten nur eine zeitliche Verbindung sei, bereit, sich aufzulösen im Moment, wo es dem Internationalen sozialistischen Büro gelänge, eine einheitliche Aktion gegen den Krieg ins Werk zu setzen – aber wir haben keinen Augenblick mit unserer Meinung zurückgehalten, dass eine gleiche wirkliche Aktion der von Nationalismus zerfressenen Parteien ausgeschlossen sei, und jeder Versuch, sie zu inszenieren, nur eine widerliche Komödie, eine schamlose Heuchelei sein könne.

Kurz und gut, wir haben der marxistischen Kritik gegenüber den Standpunkt eingenommen – und dies in höherem Masse, je mehr wir uns über die Bedeutung sowie über die Schwächen der Konferenz selber klarer wurden – dass die Konferenz nur ein erster Schritt auf dem Wege zur proletarischen Selbstbesinnung sei, dass in der sozusagen tastenden Schwäche ihrer Beschlüsse sich ziemlich genau der noch nicht sehr hohe Durchschnittsgrad von Selbstbesinnung, Klarheit und Kampfbereitschaft widerspiegelte, welche die Linke der Internationalen in der zweiten Hälfte des Jahres 1914 erreicht hatte. Die Konferenz stellt der Arbeiterklasse die Absage des Burgfriedens, die Wiederaufnahme des Klassenkampfes zur Pflicht, sie wagt es jedoch noch nicht, alle Konsequenzen ihres Standpunktes klar und scharf auszusprechen. Sie trägt in sich den Keim – was nicht zuletzt durch Errichtung der Internationalen Sozialistischen Kommission zu Bern sich zeigt – des Bruches im nationalen sowie internationalen Maßstabe zwischen Sozialimperialisten, bzw. Sozialnationalisten einerseits und revolutionären Sozialisten anderseits – einen Bruch, wobei das Los der «Schatten», d. h. der zwischen rechts und links ziellos wankenden Elemente, heute noch ungewiss erscheint. Sie ist sich jedoch ihres eigentlichen Sinnes und dessen, wozu sie treibt, noch nicht völlig bewusst, sie schreckt noch davor zurück, ihre eigenen Konsequenzen zu ziehen. Diese Konsequenzen werden ihr jedoch aufgezwungen sowohl durch die Entwicklung der Ereignisse als durch die Kritik innerhalb ihrer eigenen Reihen, einer Kritik, fruchtbar vor allem deshalb, weil sie innerhalb dieser Reihen stattfindet.

Und je mehr sich die Ereignisse entwickeln, unter denen wir hier erstens die feindliche Stellungnahme der offiziellen Parteien Deutschlands, Frankreichs, Dänemarks, Hollands usw. gegen Zimmerwald, zweitens die fortwährende Verschärfung des Kampfes zwischen revolutionären Internationalisten und opportunistischen Nationalisten in einer Reihe von Ländern verstehen (eine Verschärfung, wozu die Konferenz selber in hohem Maße beigetragen hat), um so deutlicher wird es, dass die Konferenz über sich selbst hinausführt. Und dies ist nur ein anderer Ausdruck dafür, dass eine zweite Konferenz, deren Beschlüsse nicht in revolutionärer Klarheit und revolutionärer Tatkraft die Beschlüsse von Zimmerwald in hohem Masse übertreffen würden, tatsächlich einen Schritt zurück, ein Ausweichen vor dem unerlässlichen Kampfe gegen Sozialnationalismus und Sozialimperialismus bedeutete.

Die Entwicklung des Gedankens, der revolutionären Einsicht (und ebenso des revolutionären Wollens) im Proletariat ist hinter der Entwicklung der materiellen Wirklichkeit, den sozialpolitischen Verhältnissen zurückgeblieben: dies war die Grundursache des Zusammenbruchs der zweiten Internationalen. Unter den Stürmen der heutigen Weltkrise bemüht sich nun ein Teil des Proletariats in Not und Pein, diesen Rückstand einzuholen und die mühsam gewonnene Erkenntnis sogleich in die Tat umzusetzen – denn die Verhältnisse dulden keinen Aufschub. Die letzte Konferenz gab den irregeführten und schwankenden Massen einige taktische Richtlinien und orientierte sie zum gemeinsamen Kampfe: dies getan zu haben, ist und bleibt der Ruhm von Zimmerwald. Diese Richtlinien waren jedoch weder fest noch scharf genug gezogen. Eine zweite Konferenz soll das Versäumte nachholen und den Massen mit aller Schärfe die imperialistische Wirklichkeit und die revolutionär-sozialistische Aufgabe in dieser Wirklichkeit vor Augen stellen.

Wir sollen dem Proletariat deutlich sagen, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker eine kleinbürgerliche Utopie ist, in der imperialistischen Periode nicht zu verwirklichen, im Sozialismus jedoch überflüssig, weil es in ihm keine Unterdrückung mehr geben kann. Wir sollen ihm sagen, dass es sein Ziel nicht erreichen kann ohne energischen Kampf gegen jede Unterdrückung und Vergewaltigung, auch gegen die Unterdrückung schwächerer oder zurückgebliebener Völker und Rassen, dass es jedoch unmöglich plötzlich am Ende des furchtbaren Völkerringens stark genug sein kann, in diesem Kampfe zu siegen, dass auch dieser Sieg nur der Preis langer Anstrengungen sein wird. Während wir vom Proletariat der siegreichen Staaten nicht nur platonische Proteste, sondern entschlossenen Kampf gegen jegliche Annexionspolitik, jede Vergewaltigung schwächerer Nationen fordern, wollen wir schon jetzt, noch während des Krieges, den Willen des Proletariats der militärisch-unterliegenden Staaten zum Zurückdrängen ihrer Nationalgefühle durch ihr Klassenbewusstsein orientieren. Wir wollen es, soweit es in unserer Macht steht, vom Nationalismus befreien, es erziehen zur Bereitwilligkeit, um zusammen mit dem Proletariat jener Staaten, womit die Gewalttätigkeit und die Profitsucht der herrschenden Imperialisten es gegen seinen Willen vereinte, den revolutionären Klassenkampf zu führen, der einzig und allein jede Freiheit, auch die der nationalen Kultur, zur Wahrheit machen kann.

Wir sollen nicht vorgeben, an die Fähigkeit des Internationalen sozialistischen Büros zu glauben, die «Einigkeit der Internationalen» wieder herzustellen, nicht den Schein annehmen, als seien wir gewillt, «irgend einmal» – nach Ende des Völkerringens – «sobald die Umstände günstig sind», mit den Scheidemännern, Renaudel, Troelstra und Vandervelde von Neuem in den alten Phrasenbrei unterzutauchen und zu ersticken. Wir sollen offen erklären, dass eine vom Internationalen Sozialistischen Büro herbeigeführte Einigung überhaupt nur Schein, Lüge, Schwindel bedeuten könne, eine eklige Komödie, aufgeführt zu erneutem Betrug der Massen, die die Verwirrung nur steigern und verlängern muss. Wir sollen erklären, dass eine wirkliche Einigung, national wie international, nur erstehen kann durch den Zusammenschluss jener Sozialisten, welche von gemeinsamen, prinzipiellen und allgemein-taktischen Anschauungen zusammengeführt werden. Und nicht zuletzt diese prinzipiellen Anschauungen sollen wir scharf und – klar formulieren, damit den schwankenden Massen weitaus das Banner des revolutionären Sozialismus sichtbar werde, das einzige Banner, worunter der Sozialismus siegen und die Befreiung der Menschheit aus der Hölle des Imperialismus sich vollziehen kann.

Wenn die Agitation für Zimmerwald uns hier in Holland etwas gelehrt hat, so dieses, dass jede Zweideutigkeit, jede Schwäche, jedes aus dem Wege gehen für die alten Gefühle und Anschauungen nicht uns nützt, sondern unseren Gegnern: den Sozialpatrioten und Sozialimperialisten. Es nimmt unserer Propaganda die Schwungkraft, die Anziehung des Einheitlichen und Klaren, ohne dass es auch nur einen Einzigen aus den Reihen der Sehwankenden zu uns herüber brächte. Nur rücksichtslose Offenheit führt heute zum Ziel.

Aber eine solch rücksichtslose Offenheit hat wohl zur Konsequenz die Spaltung, national wie international? – Gewiss, und auch die Notwendigkeit der Spaltung sollen wir den Massen klarmachen

Verfasserin dieser Zeilen gehört zu jenen Sozialisten, welche die Einigkeit der Arbeiterklasse fast bis zum Fanatismus verfochten und ihr größere Opfer gebracht haben als sonst irgendeiner Idee. Aber in diesen Tagen, da alle Auchsozialisten, deren opportunistisches und nationalistisches Treiben, deren Mangel an marxistischer Einsicht und an revolutionärer Gesinnung den Zusammenbruch der Internationalen verschuldet hat, sich der Einigkeitsidee bedienen, um die Massen zu verwirren und zu entkräften – da sie die Zaubermacht, welche dieses Wort auf die Massen ausübt, missbrauchen, um zu versuchen, den geistigen Bruch durch den organisatorischen Zusammenhalt zu verkleistern, in diesen Tagen ist es einfach Pflicht, den Götzen dieser falschen Einigkeit mit starker, entschlossener Hand zertrümmern zu helfen. Denn dieser Moloch verschlingt heute die einzige Hoffnung der Menschheit: die Tatkraft und die Kampfesentschlossenheit des Proletariats.

Es mag sein, dass die Pessimisten unter uns recht bekommen werden, dass wir, vielleicht nach einem kurzen Aufschwung beim Ende des Krieges, dastehen werden, «verwundert, wie wenige wir sind», während die Massen der opportunistischen Lügenfahne zuströmen. Es mag auch sein, dass die Zukunft den Optimisten unter uns recht geben wird, die da meinen – ich teile diese Meinung – dass das Ende des Krieges zusammenfallen wird mit dem Anfang jener Massenkämpfe gegen den Imperialismus, deren Wellenlinien immer höher steigen werden – bis zur sozialen Revolution. Es ist nutzlos, darüber heute zu streiten: so lange wir nicht mit Sicherheit vorhersagen können, wie sich nach Ende des Krieges Wirtschaftsleben und wirtschaftliche Bewegung gestalten werden – und wir können es nicht, weil uns jede Analogie in der Vergangenheit fehlt – ob das kommende Jahrzehnt im Zeichen stehen wird des Sturmes und Dranges der tollen kapitalistischen Expansion oder aber im Zeichen der furchtbaren Depression und Arbeitslosigkeit bei hohen Preisen – solange wissen wir nicht, ob wir, anno 1850 oder aber Januar 1905 – im gewaltig erweiterten Maßstabe – schreiben werden.

Eins aber wissen wir; ob Pessimisten, ob Optimisten in Bezug auf das Tempo der Entwicklung: hierin sind wir einig. Kommt die Weltkrise nicht gleich nach dem Krieg, so kommt sie umso verheerender einige Jahre später. Und mit ihr kommt der revolutionäre Massenkampf. Die Zukunft gehört uns – unseren Anschauungen, unserem Wollen, unserer Taktik.

Je klarer wir aber in diesen Anschauungen und diesem Wollen die Grundgedanken des «neuen Sozialismus» aussprechen, desto mehr werden unser Geist und unser Wille zu Kräften, gesellschaftlichen Faktoren, die zwischen den andern sozialen Kräften, von ihnen befruchtet und sie ihrerseits wiederum befruchtend, die Entwicklung beeinflussen und vorwärts drängen.

Und dieses Wissen legt uns die Pflicht auf, nichts zurückzuhalten von unserer Überzeugung. Dasjenige, was wir sind, sollen wir zu scheinen wagen – in vollem Masse und vor aller Welt.3

1 Rev.-Soz. Verband, welcher die Agitation für das Zimmerwalder Manifest führte.

2 Van der Goes steht auf dem Standpunkt, der Sieg der Entente sei gleichbedeutend mit «dem Siege der Freiheit und der Demokratie.»

3 Die Darstellung der Differenzen zwischen den holländischen Marxisten in Bezug auf die Zimmerwalder Konferenz – wie sie Gen. Holst gibt – scheint uns zum Teil schon überholt zu sein, da die Genossen aus der SDP wie die aus dem Soz. Rev. Verband sich mit der Zimmerwalder Linken solidarisch erklärt haben. Was die Behandlung der Frage des Selbstbestimmungsrechtes anbetrifft, so stehen die russischen revolutionären Marxisten (das Zentralkomitee der russischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei) auf dem Standpunkt, diese Losung müsse einen Bestandteil unserer antiimperialistischen Aktion und Agitation bilden. Wir werden in der nächsten Nummer unserer Rundschau Thesen veröffentlichen, die ihren Standpunkt darstellen. (Redaktion.)

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