Bremer Bürger-Zeitung 19110401 Auf dem Holzwege

Bremer Bürger-Zeitung: Auf dem Holzwege

[„Bremer Bürger-Zeitung“, Nr. 78, 1. April 1911. Anmerkung „Wir kommen auf diese Frage heute noch einmal zurück, obwohl wir gestern bereits den Artikel eines gelegentlichen Mitarbeiters darüber abdruckten, dessen Auffassung der Sachlage wir aber nicht teilen können. In der Hast der Arbeit unterblieb es leider, diesen Unterschied in der Auffassung hervorzuheben. Die von der „Bremer Bürger-Zeitung“ seit Jahren vertretene Auffassung gibt der folgende Artikel wieder.“]

Da war es eine besondere Erquickung, heute den Ausführungen des leitenden deutschen Staatsmannes zu lauschen“ — schreibt das Organ der Panzerplattenpatrioten, die „Rheinisch-Westfälische Zeitung“ in ihrer Besprechung der Rede Bethmann-Hollwegs über die Abrüstungs- und Schiedsgerichtsfrage. Und sie schreibt es von ihrem Standpunkt mit vollem Recht. Erklärte doch der Reichskanzler im Namen der Regierung, dass, „solange Menschen Menschen sind und Staaten Staaten, werden Kriege unvermeidlich und allgemeine Schiedsgerichte unmöglich sein,“ was Honig für den Mund der Flottenlieferanten ist. Da die Kapitalistenpresse nur eine Form des menschlichen Zusammenlebens kennt, und dies die der kapitalistischen Ausbeutung [ist], nur eine Form des Staates, die des Klassenstaates, so bedeutete die Erklärung des Reichskanzlers nichts anderes als: Solange die Bourgeoisie sich am Ruder befindet, solange wird das Volk unter der Last der Kriegsrüstungen ächzen, so lange wird es in steter Gefahr leben, eines schönen Tages sein Blut für feindliche Interessen verspritzen zu müssen. Wenn wir die Identifizierung der menschlichen Gesellschaft mit der kapitalistischen, die sich der Reichskanzler zu schulden kommen ließ, beiseite schieben, so könnte die Sozialdemokratie mit den Worten des Scharfmachers erklären: So lieben wir den Reichskanzler! Denn nichts ist der Partei der sozialen Revolution angenehmer, als wenn die kapitalistische Reaktion dem Volke die Wahrheit über das „Was ist“ sagt, wenn sie alle Heuchelei beiseite lässt und das Wesen des kapitalistischen Systems bei hellen Sinnen den Opfern dieses Systems vor demonstriert Dann brauchen wir uns nicht mit den Vorurteilen der Volksmassen, die durch die bürgerliche Heuchelei gesät werden, herumschlagen, dann ist die Situation klar, und wir brauchen nur zur Attacke zu blasen. Wenn der Reichskanzler erklärt und seine Behauptung mit Gründen stützt, die abgesehen von ihrer Form Hand und Fuß haben, dass so lange der Kapitalismus existiert, der Moloch des Militarismus rote Wangen haben wird, so ziehen wir den Schluss: es gilt dem volksverheerenden Kapitalismus den Garaus zu machen, es gilt bis zum Ende den heiligen letzten Krieg gegen das ganze System zu führen! Und die kleinbürgerlichen Demokraten, die die Rose ohne Dornen, den Kapitalismus ohne seine Folgen behalten möchten, die also von Illusionen leben, haben Grund, über diese Klarheit der Lage, über diesen frischen Wind in den Segeln der sozialen Revolution zu klagen.

Die Sozialdemokratie hätte dann mehr Grund sich wegen dieser klaren Situation, die der Reichskanzler durch eine brutale und klare Rede geschaffen hat zu freuen, weil sie es war, die in jahrzehntelanger mühevoller Arbeit gegen die Vorurteile in der Arbeitermasse auch in den Fragen des Militarismus kämpfen musste, weil sie es war, die im Jahre 1898 die heuchlerische Maske vom Antlitz des blutigen Zaren entfernte, als er die Idee der Abrüstung im Rahmen des Kapitalismus in die Welt schickte und die Initiative in der Haager Schiedsgerichtskomödie ergriff.

Leider hat die sozialdemokratische Reichstagsfraktion aus opportunistischen Gründen, um sich einen leichten Erfolg zu sichern, die Rolle der kleinbürgerlichen Demokratie übernommen und eine Position eingenommen, die ihre die Ausnützung der Situation unmöglich macht. Und das Zentralorgan der Partei, der „Vorwärts“ geht so weit, dass er schon nach der Rede Bethmann-Hollwegs die von der Fraktion in die Massen geworfenen Illusionen aufgreift, um sie in noch mehr irreführender Form weiterzuspinnen.

Wir schreiben diese harten Worte mit dem ganzen Bewusstsein der Schwere unserer Vorwürfe und wollen sie beweisen. Wir tun es, nicht nur um unser Recht der Kritik einer unrichtigen Haltung der Reichstagsfraktion und des Zentralorgans auszunützen, sondern weil wir der Meinung sind, dass diese Haltung der Ausfluss eines sehr ernsten taktischen Fehlers der Fraktion ist und sehr gefährliche Folgen für die Agitation und Propaganda der Partei haben kann. Hier die Beweise für unsere Behauptungen.

Die Reichstagsfraktion forderte von der Regierung, sie solle sofort Schritte tun, um eine internationale Verständigung über die allgemeine Einschränkung der Rüstungen in Verbindung mit der Abschaffung des Seebeuterechtes [im Text irrtümlich: „Arbeiterrechtes“] herbeizuführen. Wie wir es hier vor dem Magdeburger Parteitag in einer Kritik des Kopenhagener Beschlusses und der Haltung des Genossen Ledebour schon ausführlich bewiesen haben, bildet die Grundlage dieser Forderung eine illusionäre Auffassung des Kapitalismus, des Militarismus und des Wesens der auswärtigen Politik. Der Kapitalismus, weil er genötigt ist, um die Austragung der kapitalistischen Gegensätze, die mit jedem Jahre einen kleineren Raum für die kapitalistische Entwicklung freilassen, zu verschieben und neue Märkte zu erobern, was ohne Militär- und Marinerüstungen unmöglich ist. Des Militarismus, weil dieser eine internationale Erscheinung die Tendenz zum fortdauernden Wachstum besitzt, die sich durch keine parlamentarischen Beschlüsse dauernd zurückdrängen lässt, wie sich durch sie die kapitalistische Entwicklung auch nicht dauernd zurückhalten lässt. Sie beruhen schließlich auf der Verkennung der Eigenart der kapitalistischen auswärtigen Politik, dank welcher jedes Bündnis einiger kapitalistischer Staaten sich gegen andere richten muss, dank welcher bei der Mannhaftigkeit und steten Entwicklung, steter Verschiebung der Mächteverhältnisse, die allgemeine Regulierung und Fixierung ihrer Beziehungen undurchführbar ist. Ohne eine solche Regulierung und Fixierung wäre eine Einschränkung der Rüstungen unmöglich, selbst wenn sie nicht schon aus den oben angeführten Gründen unmöglich wäre. Wer solche Forderungen aufstellt, wie es die Reichstagsfraktion tut, der muss alle diese entscheidenden Tatsachen den Massen des arbeitenden Volkes verhüllen, der muss ihnen die Wahrheit über die Natur des Kapitalismus vorenthalten, der führt also die Massen irre, statt sie aufzuklären.

Hat die Reichstagsfraktion des getan? Ja! Und der „Vorwärts“ hat es mitgemacht. Der Fraktionsredner Genosse Scheidemann musste, um den Antrag der Fraktion zu begründen, de Illusion verbreiten, dass der Gedanke von der Einschränkung der Rüstungen in der englischen und französischen Bourgeoisie Fortschritte macht, er musste die Illusion erwecken, dass ein Bündnis Deutschlands mit England und Frankreich nicht dem Imperialismus, nicht den Rüstungen dienen würde. Und der „Vorwärts“ begnügte sich nicht mit der Konstatierung einer völlig aus der Luft gegriffenen Tatsache, dass „des Wettrüstens überdrüssig, die demokratischen Nationen Westeuropas dem deutschen Volke die Bruderhand reichen“, sondern er verstieg sich sogar zu der Behauptung, die wir bisher als kleinbürgerliche Illusionen bekämpften, dass der Sieg der Demokratie in Europa und speziell in Deutschland die Forderungen der Reichstagsfraktion durchführbar machen würde. Der „Vorwärts“ vergaß also, dass die Militärausgaben trotz der Demokratie in England und in Frankreich mit jedem Jahre wachsen, dass das linksliberale Kabinett des Sir Asquith und das radikale des Monsieur Monis dieselbe Politik des Wettrüstens betreiben, wie sie das imperialistische Kabinett Balfour oder der Revanchepolitiker Delcassé getrieben hat. Der „Vorwärts“ verheimlichte, dass diese Politik in demselben Maße jeder kapitalistischen Politik entspricht, wie die Ausbeutung des Proletariats dem Wesen des Kapitalismus entspricht; er verheimlichte – was zu sagen seine erste Pflicht war, dass keine Demokratie, sondern nur der Sieg des Sozialismus dieser militaristischen Politik ein Ende bereiten kann.

Genug! Man fasst sich beim Kopfe und fragt, wie es möglich ist, dass der Partei, die seit vierzig Jahren im Geiste des Marxismus erzogen wurde, solche Anschauungen vom Zentralorgan, das in den Händen der Radikalen sich befindet, geboten werden können. Man muss diese Frage offen stellen, weil – obwohl eine Reihe von Parteiblättern – wir nennen nur die „Leipziger Volkszeitung“ und unser Blatt – seit Jahr und Tag, als sich nur die ersten Symptome dieses kleinbürgerlichen Kurses im „Vorwärts“ und in der Reichstagsfraktion zeigten, in nachdrücklichster Weise das Wesen und die Folgen dieses Standpunktes klarlegten – der „Vorwärts“ nur mit verlegenem Schweigen darauf antwortete. Die Antwort auf die Frage nach den Quellen dieser Politik ist leicht zu finden. Sie liegt in erster Linie im opportunistischen Haschen nach leichten parlamentarischen Erfolgen, nach der sensationellen Gegenüberstellung, dass die Regierung die Rüstungen nicht einschränken will, als ob die Erkenntnis des Proletariats nicht mehr bereichert wäre, wenn es wahrheitsgemäß erfahren würde, dass eine kapitalistische Regierung mit der militaristischen Pest kämpfen kann. Wenn diese Erklärung von der Hand gewiesen wird, müssten wir die Quelle dieses taktischen Fehlers in der Unkenntnis des Wesens des Imperialismus bei der Fraktion und bei der „Vorwärts“redaktion suchen, was schon darum unmöglich ist, weil in der „Vorwärts“redaktion Genossen sitzen, unter deren theoretischen Arbeiten sich die besten Beleuchtungen des Imperialismus befinden, die überhaupt in der marxistischen Literatur existieren. Und wenn diese Kenntnis der Quelle der Auffassung des „Vorwärts“ und der Reichstagsfraktion schon genügen würde, die Partei entschieden Front gegen sie machen zu lassen. So ist der Protest gegen diese Politik noch um so notwendiger, wenn man ihre Folgen ins Auge fasst.

In den nächsten Reichstagswahlen wird der Kampf gegen den Imperialismus eine dominierende Rolle schon darum spielen müssen, weil die bürgerlichen Parteien durch das Hervorkehren der Erfolge des deutschen Imperialismus der Missstimmung in den bürgerlichen Reihen ein Paroli zu bieten versuchen werden. Die Haltung der Reichstagsfraktion und des „Vorwärts“ in der Abrüstungsfrage – und sie gibt die politischen Stichworte der Agitation – kann nur ein Resultat haben: der Imperialismus wird dadurch nur als Schuld des schwarz-blauen Blocks, des bösen Willen des Herrn von Bethmann-Hollweg, nicht aber als notwendige Folge des deutschen Kapitalismus dargestellt. Dies muss kommen, ob man es will oder nicht, wenn man die Position der Fraktion gutheißt. Das wird der irreführenden Parole: gegen den schwarz-blauen Block, für die selbst manche Radikalen eintreten, nützen, und gleichzeitig die in der Parole steckende Gefahr der Vertuschung unseres Gegensatzes zur ganzen kapitalistischen Reaktion vergrößere. Darum halten wir eine ausführliche Diskussion über den schon begangenen Fehler der Reichstagsfraktion für keine akademische Diskussion, sondern für einen Teil der Diskussion über unsere Wahltaktik, die schon in der Parteipresse einsetzt, und die eine notwendige prinzipielle Vorbereitung der Wahlaktion der Partei ist. Und darum müssen Genossen, die, obwohl [sie] mit der Haltung der Fraktion und des „Vorwärts“ in der Abrüstungsfrage unzufrieden [sind], aus wahltaktischen Gründen jene Diskussion für die Zeit nach den Wahlen verschieben möchten, einsehen, dass, wer jetzt nicht klar gegen diese Haltung Front macht, der Gefahr einer höchst bedenklichen prinzipiellen Verflachung unserer Wahlagitation nicht entgegen arbeitet.

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