Leipziger Volkszeitung 19110331 Praktische Politik?

Leipziger Volkszeitung: Praktische Politik?

[„Leipziger Volkszeitung“, Nr. 75, 31. März 1911, ungezeichneter Leitartikel]

Wir haben keinen Hehl daraus gemacht, dass wir gegen den Antrag unserer Genossen im Reichstage, der gestern beim Etat des Reichskanzlers verhandelt wurde und der vom Reichskanzler die Herbeiführung einer internationalen Verständigung über die allgemeine Einschränkung der Rüstungen verlangte, Bedenken hatten, und so fügen wir heute hinzu, diese Bedenken sind durch die gestrigen Verhandlungen vollauf bestätigt worden.

Worin besteht die Stärke einer sozialdemokratischen Fraktion in einem bürgerlichen Parlament? In ihrer Kritik der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Sie reißt von den bestehenden Verhältnissen das bergende Schleiertuch hinweg und denunziert mit europäischer Öffentlichkeit den Kapitalismus als die wahre Quelle des heutigen menschlichen Elends in jeder Gestalt. Der Massenhunger, die wirtschaftliche Ausbeutung, die politische Versklavung, die geistige Verdummung, die Verwandlung der Welt in bewaffnete Heerlager, deren Kosten mit jedem Jahre unerschwinglicher, deren Lasten stets unerträglicher werden, die ewige Unsicherheit aller Verhältnisse, die beständige Bedrohung des Friedens durch den Weltkrieg — als die Ursache aller dieser ägyptischen Plagen den Kapitalismus hinzustellen und den Kampf gegen ihn international zu organisieren, das ist die Aufgabe der Sozialdemokratie. Und je schärfer, je unerbittlicher diese sozialistische Kritik des Kapitalismus ausfällt, desto stärker wird auch die Position einer sozialdemokratischen Fraktion in einem bürgerlichen Parlament sein. Denn diese „negative“ Kritik ist die politische Arbeit, die überhaupt denkbar ist. Sie rüttelt die Massen wach, sie klärt sie über ihre Lage auf, sie zeigt ihnen ihre augenblickliche Ohnmacht, und dass sie allmächtig sein könnten und es einst auch sein werden. Sie ist Kulturarbeit im höchsten Sinne des Worts.

Aber daneben hat die sozialdemokratische Parlamentsfraktion noch eine zweite Aufgabe. Beweist sie durch ihre allgemeine Kritik des Kapitalismus, dass die bestehende Gesellschaftsordnung das Elend nicht aus der Welt schaffen könnte, selbst wenn sie wollte, so beweist sie durch ihre positive Anteilnahme an den praktischen Arbeiten, dass den herrschenden Klassen sogar dieser Wille fehlt. Zu diesem Zwecke stellt sie Anträge zum Schutz der unterdrückten Klasse, die alle sehr gut auch unter kapitalistischen Verhältnissen durchgeführt werden könnten, speziell bei der sozialen Gesetzgebung, die aber trotzdem fast durchweg abgelehnt werden. Diese Ablehnung kann aber die herrschende Klasse nur vornehmen, indem sie ihren bösen Willen offen zum Ausdruck bringt. Sie will sich ihren Profit nicht schmälern lassen, mögen auch Hunderttausende Arbeiter jährlich diese Profitwut mit ihrem Leben oder ihrer Gesundheit bezahlen. So steht es auf dem Gebiete der Sozialpolitik. 10.000 Arbeiter büßen jährlich auf dem Schlachtfelde der Arbeit ihr Leben ein, eine halbe Million wird außerdem mehr oder weniger immer an ihrer Gesundheit geschädigt: alles das könnte, wenn nicht ganz vermieden, so doch auf ein Mindestmaß beschränkt werden. Aber die herrschende Klasse will nicht! Stellt eine sozialdemokratische Fraktion in einem bürgerlichen Parlamente derartige Anträge, die auch unter kapitalistischen Verhältnissen durchführbar wären, aber trotzdem von den herrschenden Klassen abgelehnt werden — und alle sozialdemokratischen Anträge bewegten sich bisher in dieser Richtung — so leistet sie ebenfalls praktische Politik im höchsten Sinne des Worts. Sie zeigt durch eine derartige Politik den unterdrückten Klassen, dass die herrschenden Klassen ihnen sogar das bisschen Arbeiterschutz verweigern, das selbst heute schon möglich wäre.

In eine schiefe Position begibt sich jedoch eine sozialdemokratische Fraktion, wenn sie von der bestehenden Gesellschaftsordnung des Kapitalismus in der Form parlamentarischer Anträge Dinge verlangt, die innerhalb dieser Gesellschaftsordnung schlechterdings nicht durchführbar sind. Sozialdemokratische Parlamentarier werden beispielsweise das heutige Lohnsystem mit höchstem Recht als die Form der kapitalistischen Ausbeutung des Menschen durch den Menschen kennzeichnen können. Niemals aber werden sie den Antrag stellen können, den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, das Lohnsystem abzuschaffen. Ein solcher Antrag wäre unter den bestehenden Verhältnissen eine Utopie und ist selbstredend nie gestellt worden. Aber auf derselben Höhe scheint uns der Antrag zu stehen, den gestern Genosse Scheidemann begründete: den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, sofort Schritte zu tun, um eine internationale Verständigung über die allgemeine Einschränkung der Rüstungen herbeizuführen.

Gewiss: man kann sagen: Einschränkung der Rüstungen ist noch nicht Abrüstung. Nur das letzte ist eine rein sozialistische Forderung, während die erste auch unter kapitalistischen Verhältnissen denkbar wäre. Denkbar! Je nun! In einer imaginär-kapitalistischen Welt vielleicht, in der konkret-kapitalistischen Welt jedoch sicherlich nicht. Herr Bethmann-Hollweg hat alle die Gründe angeführt, die einem kapitalistischen Wortführer den sozialdemokratischen Antrag unmöglich machen, und eigentlich hätte unser Redner die Rede halten müssen, die der Reichskanzler hielt. Der Sozialdemokrat hätte nachweisen müssen, dass der Kapitalismus auf den Weltkrieg hinarbeitet, dass er ohne beständige Ausdehnung der Rüstungen nicht auskommen könne, dass infolgedessen für ihn weder ein Stillstand noch eine Einschränkung der Rüstungen in Frage komme. Und gerade darin besteht die Gemeingefährlichkeit des Kapitalismus, gerade deshalb dürften die unterdrückten Klassen nicht ruhen, bis der Kapitalismus an seinen eignen Widersprüchen und seiner Menschen mordenden Gemeingefährlichkeit zugrunde gegangen ist.

Gewiss! Das englische und das französische Parlament haben Resolutionen angenommen, in denen etwas von internationalen Vereinbarungen steht. Indessen diese Resolutionen sind, bei Licht besehen, nur allgemeine Redensarten und kamen nur zustande, nachdem schärfere Resolutionen, die sich für eine sofortige Einstellung der Seerüstungen ausgesprochen hatten, glatt abgelehnt waren. Und dann: selbst wenn dem nicht so wäre, so wäre es auch noch so. In den Parlamenten Frankreichs und Englands herrscht die Bourgeoisie. Wenn diese Bourgeoisparlamente auf einmal friedfertig geworden wären, so bewiesen sie damit nur, dass ihnen vor ihren eigenen Taten bangt. In England speziell, das hat ja der Wortführer der englischen Bourgeoisie, Sir Edward Grey, offen ausgesprochen, befürchtet man von einem Weitergehen der Rüstungen die soziale Revolution, das heißt, vom Pathetischen des gerissenen englischen Bourgeois in die nüchterne Sprache des täglichen Klassenkampfes übersetzt, das Erwachen der englischen Arbeiterklasse zum Klassenbewusstsein! Hinc illae lacrimae [daher jene Tränen]! Hier fließen die Tränen des Herrn Grey! Und in der Tat: er hat recht. Augenblicklich gibt es kein sichereres Mittel, das erwachende Klassenbewusstsein des englischen Proletariats im Interesse der englischen Bourgeoisie wieder einzulullen, [als] wenn es gelänge, die wachsenden Lasten der Weltpolitik für die englischen Arbeiter wieder herunterzudrücken. Hier heißt es: es muss schlimmer werden, ehe es besser wird.

Bei Licht besehen sieht also die „Bruderhand“, die uns über den Kanal und die Vogesen gestreckt wird, eigentümlich aus. Sie gleicht eher einer fetten Bourgeoisfaust. Freilich werden auch diese Bourgeoisdeklamationen gegen das Wettrüsten den Gang dieses Wettrüstens nicht vermindern. Dazu sind die Triebkräfte, die diesen Rüstungswahnsinn herbeigeführt haben, viel zu wuchtig und elementar. Und gerade diese unaufhörlichen, ins Gigantische wachsenden Ausgaben für Rüstungszwecke bilden eins der wesentlichen Hilfsmittel, um den Zusammenbruch der bestehenden Gesellschaftsordnung zu beschleunigen.

Die Sozialdemokratie ist die schärfste Gegnerin der Kriege. Aber sie bekämpft ihn dadurch, dass sie den Massen nachweist, dass nur der Sozialismus der Friede ist, der Kapitalismus aber Krieg. Wenn die kapitalistische Gesellschaft die Wahrheit dieses Satzes durch ihre Wettrüstungen selber beweist, so kann ihr die Partei als Partei dafür nur dankbar sein. Wir haben keine Veranlassung, den Augenblick des kapitalistischen Zusammenbruchs hinauszuschieben oder die kapitalistischen Gegensätze, die diesen Zusammenbruch herbeiführen müssen, abzuschwächen.

Auf dem Parteitage zu Jena sagte Genosse Bebel: Wir Sozialdemokraten haben alles Interesse daran, dass die sozialen Gegensätze ständig sich zuspitzen und verschärfen. Das ist das richtige Wort für sozialrevolutionäre Politik, und so soll es bleiben.

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