Leipziger Volkszeitung 19110403 Zur Abrüstungsdebatte

Leipziger Volkszeitung: Zur Abrüstungsdebatte

[„Leipziger Volkszeitung“, Nr. 77, 3. April 1911, ungezeichneter Leitartikel]

Die Parteipresse beginnt, sich mit dem von uns im Leitartikel der letzten Freitagsnummer angeschnittenen Thema der Abrüstung zu beschäftigen. Vorerst lediglich in abweisender Form, mag diese Form manierlich sein, wie in der „Breslauer Volkswacht“, oder unmanierlich, wie in der „Schwäbischen Tagwacht“, die sich sonst auf ihren „Anstand“ gern etwas zugute tut, jetzt sich aber nicht scheut, uns die armseligsten Motive zu unterschieben. Doch da die Schwäbische Tagwacht selber wörtlich erklärt, dass sie sich auf eine sachliche Widerlegung unserer Auffassung nicht einlassen will, so fällt sie selbstredend von vornherein außer Betracht. Die „Dresdner Volks-Zeitung“ wendet sich ebenfalls gegen uns. Sie glaubt es wenigstens zu tun. In Wirklichkeit jedoch sagt sie nur mit anderen Worten das gleiche, was wir gesagt haben, wenn sie schreibt:

Was Richtiges in jenen Ausführungen ist, besonders dass Militarismus, Imperialismus und Kapitalismus aufs engste zusammengehören, das ist nichts Neues, das weiß jedermann in unserer Partei. Diese Erkenntnis kann unsere Partei aber keineswegs davon abhalten, auch auf dem Gebiete des Rüstungswesens, wie auf allen anderen Gebieten des politischen und sozialen Lebens Forderungen zu stellen, deren Erfüllung eine Erleichterung für die Völker bedeuten würde, deren Nichterfüllung aber die Unfähigkeit der kapitalistischen Regierungen beweist, die Wohlfahrt der arbeitenden Menschheit zu fördern.“

Das ist justement das gleiche, was wir geschrieben haben, und wir freuen uns, die „Dresdner Volks-Zeitung“ wider ihr Bewusstsein in dieser Frage auf unserer Seite zu wissen.

Sehen wir uns die Artikel an, mit denen am Schluss der vorigen Woche die Parteipresse die Stellung der Reichstagsfraktion zu rechtfertigen suchte, so lief der eine, aus der bekannten Berliner Korrespondenz stammende Leitartikel, den fast alle Parteiblätter brachten, auf die schillernde, oberflächliche Phrase hinaus: Die Beschränkung der Rüstungen scheitert an der Beschränktheit unserer leitenden Staatsmänner. Hier wird also das weltpolitische Problem der internationalen Abrüstung verwandelt in eine Personenfrage. Herr Bethmann-Hollweg ist zu dumm, um die Wichtigkeit des Abrüstungsgedankens zu begreifen. Wäre er zufällig ein bisschen gescheiter, so stünde der Abrüstung nichts im Wege. Über diese Theorie vom dummen Feinde ein Wort zu verlieren, ist wohl überflüssig.

Auf einem anderen, wenn auch freilich nicht sonderlich höheren Standpunkt steht der „Vorwärts“, wenn er im Leitartikel vom 31. März den Reichskanzler in der Hauptsache mit den Waffen der moralischen Entrüstung angreift. Wir unterschätzen im politischen Kampf keineswegs diese Waffe und es ist auch unser Bemühen, die Arbeiterklasse nicht nur rein verstandesgemäß über das Wesen des Kapitalismus aufzuklären, sondern sie auch mit tiefstem moralischen Abscheu vor einer Gesellschaftsordnung zu erfüllen, die vom Menschenblut lebt und deren Grundlage Elend und Unterdrückung ist. Aber wer nun einmal diese Natur des Kapitalismus begriffen hat, der wird sich nicht darüber entrüsten, dass an diesem Dornbusch keine Feigen wachsen, der wird nur um so eifriger dafür sorgen, dass der noch mit den Dornbüschen des Kapitalismus besetzte Landstrich frei werde für die Feigenbäume des Sozialismus. Und dass unter den bestehenden Verhältnissen an eine Durchführung des sozialdemokratischen Antrags auf Einschränkung der Rüstungen nicht zu denken ist, das sagt auch der „Vorwärts“, indem er schreibt:

Wir Sozialdemokraten sehen nicht nur die Gefahren, wir wissen auch das Mittel der Abhilfe: ein Übereinkommen mit England zur Einschränkung der Rüstungen. Wir wissen allerdings, dass unsere Politik den Widerstand des Bürgertums findet, wissen, dass unsere Ziele nur erreichbar sind durch den Sieg der Demokratie in Europa und namentlich in Deutschland.“

Was heißt: Sieg der Demokratie in Deutschland? Heißt das Sieg der Fischbeck, Kopsch und Wiemer? Das ist natürlich ausgeschlossen; denn niemand wird diese Leute für Demokraten halten und sodann sagt ja der „Vorwärts“ selber, dass unsere Politik den Widerstand des Bürgertums findet. Heißt es vielleicht: Sieg einer Demokratie, zu der wir in Deutschland außer in den Vororten Berlins, den Wohnsitzen der Breitscheid und Gädke, nirgends auch nur den leisesten Ansatz sehen? Auch das ist ausgeschlossen. Kurzum: dieser Sieg der Demokratie, den der „Vorwärts“ selber als unerlässlich für ein Übereinkommen mit England zur Einschränkung der Rüstungen bezeichnet, kann nur der Sieg der Sozialdemokratie sein. Woraus hervorgeht, dass auch unser Zentralorgan eine Einschränkung der Rüstungen unter der Herrschaft des Kapitalismus für ausgeschlossen hält. Dass die Partei das klipp und klar ausspricht und sich von Illusionen befreit, die nur ein Rest vergangener Zeiten sind, das ist unser ganzes Ziel.

Freilich, unser Mitarbeiter, dem wir im gestrigen Leitartikel das Wort gaben, steht auf dem Standpunkt, dass eine Einschränkung der Rüstungen schon unter kapitalistischen Verhältnissen denkbar sei. Die Bourgeoisien der verschiedenen Staaten könnten sich über den „nationalen Staat“ hinwegsetzen und ihre Regierungen zwingen, immer weiter auf dem Wege internationaler Vereinbarungen zu gehen, wie es z.B. zur Regelung des gemeinsamen Raubes in Asien bereits geschehen sei.

Kein Wunder daher, wenn die fortgeschrittene Bourgeoisie Englands und Frankreichs diesen Gedanken der internationalen Interessengemeinschaft, jetzt, wo es ihr auf den Finger brennt, auch in der Frage der Rüstungen ventiliert […]

Dem Proletariat kann diese kapitalistische Friedenspolitik weder ein Ziel sein noch auch widerspricht sie seinen Interessen. Eine solche Politik würde im Resultate dazu führen, den bestehenden Staat unter allen Umständen zu untergraben. Hört die Kriegshetze auf, so fällt eines der schwersten Hindernisse für unsere Propaganda fort, der nationalistische Koller. Eine Abschwächung der „nationalen“ Gegensätze kann nur dazu führen[, die Stoßkraft des internationalen Proletariats zu vergrößern].“

In der Tat, damit hat unser Mitarbeiter vollkommen recht. Diese kapitalistische Friedenspolitik kann unmöglich dem Proletariat ein Ziel sein. Sie ist im Grunde nur die Illusion der herrschenden Klassen, die „gute Seite“ des Kapitalismus, d.h. Ausbeutung der Arbeiterklasse beibehalten, die „schlechte“ aber, d.h. die ewige Gefährdung ihres Reichtums durch stärkere konkurrierende Nachbarstaaten beseitigen zu können. Daher der Versuch, an Stelle der wilden Konkurrenz auf dem Weltmarkt mit dem Säbel in der Faust das Kartell zu setzen, ein weltpolitisches Syndikat zur gründlicheren Ausraubung schwächerer Länder. Das, was im Wirtschaftsleben die Trusts leisten, soll auf dem Gebiete der Weltpolitik durch internationale Verabredungen erreicht werden. Aber ebenso wenig wie wir die Politik der Wirtschaftskartelle unterstützen, werden wir uns vor den Wagen weltpolitischer Kartelle spannen lassen. Sie bilden nur Versuche des Kapitalismus, dem Sozialismus auszuweichen und seine Konsequenzen abzubrechen, Versuche, die notwendigerweise scheitern und die die Sozialdemokratie nicht durch Übernahme der Parole: Einschränkung der Rüstungen stützen sollte.

Was wir diesen kapitalistischen Ängstesprüngen entgegenzusetzen haben, ist die Parole des Sozialismus und nichts als Sozialismus. In seinem großzügigen Werke: „Das Finanzkapital“ setzt Genosse Hilferding im Schlusskapitel: „Das Proletariat und der Imperialismus“ auseinander, dass das Proletariat die entwickeltste Erscheinungsform kapitalistischer Politik, den Imperialismus nicht bekämpfen kann mit den Waffen einer versunkenen Zeit. Die Arbeiterklasse kann der Wirtschaftspolitik des Imperialismus nicht die Losung der überwundenen Freihandelsära entgegensetzen. Doch wir wollen die prächtige Stelle im Zusammenhang her setzen:

Kann aber das Kapital keine andere Politik machen als die imperialistische, so kann das Proletariat der imperialistischen nicht eine Politik entgegensetzen, die die Politik der Zeit der Alleinherrschaft des industriellen Kapitals war; es ist nicht Sache des Proletariats, der fortgeschritteneren kapitalistischen Politik gegenüber die überwundene der Freihandelsära und der Staatsfeindschaft entgegenzusetzen. Die Antwort des Proletariats auf die Wirtschaftspolitik des Finanzkapitals, den Imperialismus, kann nicht der Freihandel, kann nur der Sozialismus sein. Nicht das reaktionär gewordene Ideal der Wiederherstellung der freien Konkurrenz, sondern völlige Aufhebung der Konkurrenz durch Überwindung des Kapitalismus kann jetzt allein das Ziel proletarischer Politik sein. Dem bürgerlichen Dilemma: Schutzzoll oder Freihandel entrinnt das Proletariat mit der Antwort: Weder Schutzzoll noch Freihandel, sondern Sozialismus, Organisation der Produktion, bewusste Regelung der Wirtschaft nicht durch und zu Nutzen der Kapitalmagnaten, sondern durch und zu Nutzen der Gesamtheit der Gesellschaft, die sich endlich auch die Wirtschaft unterwirft, wie sie die Natur unterworfen hat, seitdem sie ihren Bewegungsgesetzen auf die Spur gekommen ist. Der Sozialismus hört auf, ein fernes Ideal zu sein, hört selbst auf, ein „Endziel“ zu sein, das nur richtunggebend auf die „Gegenwartsforderungen“ einwirkt, und wird zu einem wesentlichen Bestandteil der unmittelbaren praktischen Politik des Proletariats. Gerade in jenen Ländern, in denen sich die Politik des Bürgertums am vollständigsten durchgesetzt hat, die politisch demokratischen Forderungen der Arbeiterklasse in ihren sozial bedeutsamsten Stücken verwirklicht sind, muss der Sozialismus als einzige Antwort auf den Imperialismus in den Vordergrund der Propaganda gerückt werden, um die Unabhängigkeit der Arbeiterpolitik zu sichern und ihre Überlegenheit zur Wahrung der proletarischen Interessen zu erweisen.“

Die Nutzanwendung dieser glänzenden Ausführung auf die schwebende Streitfrage liegt zu nahe, als dass wir sie noch besonders zu ziehen brauchten. Dem bürgerlichen Dilemma: weiterrüsten oder abrüsten? entrinnt die Sozialdemokratie mit der Antwort: weder weiterrüsten noch abrüsten, sondern Sozialismus.

Kommentare