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Friedrich Engels 18420802 Brief an Marie Engels

Friedrich Engels: Brief an Marie Engels

in Ostende

[Nach Marx Engels Werke, Ergänzungsband Zweiter Teil, Berlin 1982, S. 500-504]

Berlin, 2. Aug. 1842

Liebe Marie!

Über Deinen langen Brief hab' ich mich sehr gefreut, und im Hinblick auf das kreuzweise beschriebene viele Papier die Strafpredigt sehr rasch überlesen, so dass ich nicht einmal mehr weiß, was Du mir für Vorwürfe machst. Dass Frl. Jung1 ohne Zweifel ein sehr krauses Gesicht wird gemacht haben, als sie las, wie Hermann das liebe Institut mit seinem wahren Namen: Kloster belegte, kann ich mir schon denken, ebenso dass ich ihn einen leichtsinnigen Menschen nannte. Glücklicherweise denken aber nicht alle Menschen so schlimm vom Leichtsinn wie Deine ehemalige Sündenregistervorreiterin. Und das ist gut. Was sollte sonst auch aus uns beiden werden, nicht wahr? Ich lass mich auch von meinem Hauptmann angrunzen und rüffeln und denke: et soll wol egal sein, und dreh' ihm eine Nase: und wenn er's mir zu arg macht, wie vorigen Mittwoch, wo alle andern dispensiert waren und ich allein, bloß weil mein Bursche mich nicht abbestellt hatte, um 12 Uhr mittags mit auf den Schießplatz wandern musste, um eine unausführbare Lumperei nicht ausführen zu sehen – in solchen Fällen meld' ich mich krank, und zwar diesmal wegen Zahnschmerzen, wodurch ich mir einen Nachtmarsch und ein zweistündiges Exerzieren erspart habe. Heute muss ich mich leider wohl wieder gesund melden. Dabei geh' ich spazieren, wenn es mir beliebt, Berlin ist groß, und bei unsrer Kompanie nur drei Offiziere, die mich kennen, die begegnen mir also höchstwahrscheinlich nicht, und das einzige wäre, wenn sie mir den Kompanie-Chirurg zuschickten, das hat aber gute Wege und höchstens, wenn er mich nicht zu Hause träfe, würd' ich eine Nase besehen. Et soll wol egal sein!

Du scheinst ein enormes Talent zu haben, Bekanntschaften zu machen. Ist das Mädel vier Wochen in Bonn und kennt mir richtig schon die halbe Universität mit Namen und hat sich schon einen interessanten lahmen Studenten angeschafft, der ihr täglich sechsmal begegnet! Der interessante lahme Student mit der Brille und dem blonden Bart! Sie haben ihm gewiss die Beine im Duell entzwei geschossen! Warum hinkt er nur immer des Weges? Hinkt er interessant oder gewöhnlich wie andre Lahme? An welchem Fuß ist er lahm, am rechten oder an beiden? Trägt er nicht einen Hut mit einer roten Hahnenfeder? Sollte es nicht der diable boiteux2 sein? Ich möchte gerne Näheres von dem interessanten, lahmen, bärtigen, bebrillten, scharf kuckenden Studenten wissen.

Hast Du dies Bekanntschaftenmachen in Ostende fortgesetzt? Ist da nicht auch so ein interessanter hinkender Fläminger, der Dir täglich sechsmal am Strande begegnet? Gib mal acht.

Aus dem Kloster bin ich glücklich

Fort und darf mich frei bewegen,

Schwatzen, lachen darf ich wieder,

Mich sogar ins Fenster legen!

Ach wie traurig, als im Kloster

Von Duennen rings umlauert

Ich bei steter Arbeit saß,

Abgepfercht und eingemauert!

Singend hört ich Heidelberger

Draußen oft vorübergehen,

Und ich durfte nicht ans Fenster,

Nicht die flotten Burschen sehen.

Frei bin ich und will mich freuen

Meiner kaum erworbnen Freiheit,

Grünes, frisches Leben will ich

Nach der grauen Einerleiheit!

Auf! Die neuen Kleider will ich

Unverzüglich mir anziehen,

Und mich übersiedeln nach der

Flottsten der Akademien.

Poppelsdorf und Königswinter!

Rolandseck und Drachenfels!

Staunt ob meiner Augen Feuer,

Staunt ob meiner Zähne Schmelz!

Und ich wett', soviel Ihr sein mögt

Fakultätskommilitonen,

In acht Tagen höchstens wisst Ihr

Allzusammen, wo wir wohnen.

Gastwirt Stamm, und sag uns Dank,

Dass bei Dir wir abgestiegen,

Weil seitdem Studenten zahllos

Zechend Dir im Garten liegen.

Und nun vollends beim Spaziergang,

Welche Massen mich umschwärmen,

Wie sich die Professorstöchter

Einsam, unbegleitet härmen!

Seht den Schweif von flotten Burschen,

Der mir hängt am kleinen Finger,

Graf d'Alviella, von Szczepansky,

Lauter kühne Flaschenzwinger!

Herr von Diest, der Vielverliebte,

Tut mir treuen Dienst als Läufer,

Singend amüsiert mich Bunsen,

Tanz' ich, ist Chapeau mir Pfeifer!

Eins nur liegt mir in Gedanken:

Wenn ich fern dem Schwarme gehe,

Dass ich immer einen hübschen

Hinkenden Studenten sehe.

Alle andren sind beschäftigt,

Haben Dienst für mich getan,

Doch was fang ich mit dem hübschen,

Intressanten Lahmen an?

* *

*

Mit der Nordsee flachem Strande

Will ich nun mein Bonn vertauschen;

Statt Studentenliedern hör' ich

Nun des Meeres Brandung rauschen.

Unter Belgiern und Franzosen

Geh' am Strande ich spazieren,

Wie im Kloster muss französisch

Ich die Unterhaltung führen.

Auch hat sich ein Schweif gefunden,

Der mich auf der Promenade,

Der mich bis ins Meer verfolget,

Wenn ich morgens geh' und bade.

Sonst ist alles wie in Bonn,

Und ich kann durchaus nicht klagen,

Essen und Logis ist gut,

Auch der Wirt ist zu ertragen -

Eins nur fehlt mir: Unter allen,

Die hierher zum Bade kamen,

Find' ich, weh mir Armen! auch nicht

Einen interessanten Lahmen!

Nicht wahr, das ist Dir so recht aus der Seele geschrieben? Ich will's Dir auch komponieren, damit Du es singen kannst. Die Komposition bekommst Du aber erst auf Deinen nächsten Brief zur Antwort, denn ich würde Dich durch eine so reichliche Beschenkung ohne Zweifel verwöhnen. Ich hab' aber andre Dinge zu tun, als Dich fortwährend zu besingen, das kann nur als Belohnung für einen ausgezeichnet langen Brief verstattet werden.

Du musst einmal sehen, dass Du in Ostende die Vlaemsche oder Nederduitsche Taal lernst, das ist eine sehr klobige Sprache, welche aber ihre Vorzüge hat und jedenfalls sehr komisch ist. Wenn Du noch Plattdeutsch kennst, so musst Du das Flämische so ziemlich verstehen können.

Ich hab' auch jetzt einen Hund, den ich von August Bredt aus Barmen bekommen habe, als er hier fortging. Es ist ein hübscher junger Wachtelhund, viel größer als der edle Mira und total verrückt. Er zeichnet sich durch viel Talent zum Kneipen aus, des Abends, wenn ich in einer Restauration esse, sitzt er immer dabei und lässt sich sein Teil abtreten oder hospitiert bei allen, die da sind. Auch zeichnet er sich durch ein total unsichtbares Halsband aus. Schwimmen kann er ausgezeichnet, aber er ist zu wahnsinnig, um Kunststücke zu lernen. Eins hab' ich ihm beigebracht, wenn ich ihm sage: Namenloser (so heißt er), das ist ein Aristokrat, so wird er grenzenlos wütend gegen den, den ich ihm zeige, und knurrt scheußlich.

Während aller Aussicht nach das Jahr einen vortrefflichen Rheinwein bringen wird, ist der Grüneberger schändlich schlecht geraten. Kennst Du den Grüneberger? Der Grüneberger ist ein Lausitzer Wein, er wächst nur im Sande und bringt nie gute Trauben, außer in einem ganz nassen Jahr; wenn die Beeren aus der Härte eines Steins in die des Holzes übergegangen sind, d.h. wenn man mit einem Messer hineinschneiden kann, so sind sie reif. Sie werden mit einer Dampfmaschine gekeltert und man rechnet, dass zur Kelterung von 100 Beeren zirka zwölf Pferde Kraft in einer Stunde hinreichen. Der beste Grüneberger ist Anno 40 gewachsen. Er kann nicht in Fässern aufbewahrt werden, weil er das Holz entzwei frisst; wenn er gut ist, so muss man ein Dutzend Stecknadeln aufessen und dann ein Glas Grüneberger trinken, und wenn die Nadeln nicht binnen fünf Minuten aufgelöst und vertilgt sind, so taugt der Wein nichts. Es ist ein sehr nachhaltiger Wein, denn wenn man einen Schluck trinkt, so ist einem der Hals vier Wochen lang wund. Er hat ein sehr feines Bouquet, so dass nur Kenner den Geruch von dem des Essigs unterscheiden können. Scheidewasser und Weinessig durcheinander kommt im Geschmack diesem edlen Getränk am nächsten. Im übrigen hast Du jetzt genug, ich muss noch an die Mutter schreiben. Adieu

Dein Bruder

Friedrich

Berlin, 8. Aug. 42

1 Vorsteherin des Großherzoglichen Mädcheninstituts in Mannheim.

2 hinkende Teufel

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