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Friedrich Engels 18420412 Nord- und süddeutscher Liberalismus

Friedrich Engels: Nord- und süddeutscher Liberalismus1

[„Rheinische Zeitung" Nr. 102 vom 12. April 1842. Nach Marx Engels Werke, Ergänzungsband Zweiter Teil, Berlin 1982, S. 246-248]

* * * Berlin, im März. Es ist noch nicht lange her, da galt der Süden unseres Vaterlandes für den einzigen Teil desselben, der einer entschiedenen politischen Gesinnung fähig sei; Baden, Württemberg und Rheinbayern schienen die drei einzigen Altäre zu sein, auf denen das Feuer des allein würdigen, unabhängigen Patriotismus entflammen könnte. Der Norden schien in eine träge Gleichgültigkeit, in eine, wenn nicht servile, doch schlaffe und zähe Ermattung zurück gesunken, in der er sich von der freilich großartigen und ungewohnten Anstrengung der Befreiungskriege, an denen der Süden keinen Teil genommen, erholen wollte. Er schien mit jener Tat genug und nun den Anspruch auf einige Ruhe zu haben, so dass der Süden bereits auf ihn herabzusehen, seine Interesselosigkeit zu schelten, seine Geduld zu verspotten begann. Die Ereignisse in Hannover2 wurden vom Süden ebenfalls zu einer Rechtfertigung seiner Überhebung gegen den Norden reichlich ausgebeutet. Während dieser sich anscheinend stiller, tatenloser verhielt, triumphierte jener, pochte auf sein sich entwickelndes parlamentarisches Leben, auf seine Reden in den Kammern, auf seine Opposition, die den Norden unterstützen müsse, während er seine Existenz auch ohne diesen gesichert wisse. – Das ist alles anders geworden. Die Bewegung des Südens ist eingeschlummert, die Zähne der Räder, die sich früher so scharf erfassten und im Umschwung erhielten, sind allmählich abgeschlissen und wollen nicht mehr recht ineinandergreifen, ein Mund verstummt nach dem andern, und die jüngere Generation hat nicht Lust, auf dem Pfade ihrer Vorgänger zu gehen. Dagegen hat der Norden, obwohl die äußern Umstände ihm lange nicht so günstig sind wie dem Süden, obwohl die Tribüne, wo sie nicht ganz mangelt, sich nie zur Bedeutung der süddeutschen erheben konnte, dennoch seit mehreren Jahren einen Fonds von gediegener politischer Gesinnung, von charakterfester, lebendiger Energie, von Talent und publizistischer Tätigkeit aufzuweisen, wie ihn der Süden in seiner schönsten Blütezeit nicht zusammenbrachte. Dazu kommt, dass der norddeutsche Liberalismus unbestreitbar einen höheren Grad von Durchbildung und Allseitigkeit, eine festere historische wie nationale Basis besitzt, als der Freisinn des Südens jemals sich erringen konnte. Der Standpunkt des ersteren ist weit über den des letzteren hinaus. Woher kommt das? Die Geschichte beider Erscheinungen löst diese Frage aufs Klarste.

Als mit dem Jahre 1830 der politische Sinn in ganz Europa zu erwachen, das Staatsinteresse in den Vordergrund zu treten begann, entwickelte sich aus den Tatsachen und Anregungen dieses Jahres in ihrem Zusammenstoß mit den wieder erwachenden Träumen der Deutschtümelei das neue Produkt des süddeutschen Liberalismus. Aus der unmittelbaren Praxis geboren, blieb er dieser getreu und schloss sich ihr in seiner Theorie an. Die Praxis aber, aus der er sich die Theorie konstruierte, war bekanntlich eine sehr weitschichtige, französische, deutsche, englische, spanische usw; Daher kam es, dass auch die Theorie, der eigentliche Inhalt dieser Richtung sehr ins Allgemeine, Vage, Blaue hinauslief, dass sie weder deutsch, noch französisch, weder national, noch entschieden kosmopolitisch, sondern eben eine Abstraktion und Halbheit war. Man hatte einen allgemeinen Zweck, die gesetzliche Freiheit, aber gewöhnlich zwei gerade entgegengesetzte Mittel dafür; so wollte man konstitutionelle Garantien für Deutschland und schlug heute, um dies zu erreichen, größere Unabhängigkeit der Fürsten vom Bundestage, morgen größere Abhängigkeit, aber eine Volkskammer zur Seite der Bundesversammlung vor: zwei Mittel, von denen eins unter den obwaltenden Umständen so unpraktisch war wie das andere. Man wollte heute zur Erreichung des großen Zweckes größere Einheit Deutschlands und morgen größere Unabhängigkeit der kleinen Fürsten gegen Preußen und Österreich. So, über den Zweck immer, über die Mittel nie einig, wurde die bei weitem mächtigere Partei bald von der Regierung überholt und sah ihre Unklugheit zu spät ein. Sodann war ihre Kraft an eine momentane Aufregung, an die Rückwirkung eines bloß äußerlichen Ereignisses, der Julirevolution, geknüpft, und als diese nachließ, musste auch sie entschlummern.

Während dieser Zeit war in Norddeutschland alles weit ruhiger und dem Anscheine nach untätiger. Nur ein Mann strömte damals alle Glut seiner Lebenskraft in lebendigen Flammen aus, und der galt mehr, als alle Süddeutschen zusammen, ich meine Börne. In ihm, der über die Halbheit jener mit aller Energie seines Charakters hinausging, kämpfte sich diese Einseitigkeit ganz und gar durch und überwand so sich selbst. In ihm rang sich aus der Praxis die Theorie heraus und zeigte sich als die schönste Blüte jener. So trat er entschieden auf den Standpunkt des norddeutschen Liberalismus und ward sein Vorläufer und Prophet.

Diese Richtung, der jetzt die Herrschaft über Deutschland nicht mehr abzustreiten ist, gewann durch ihre Basis schon einen volleren Gehalt, eine dauerhaftere Existenz. Sie knüpfte von vornherein ihr Dasein nicht an ein einzelnes Faktum, sondern an die ganze Weltgeschichte und namentlich an die deutsche; die Quelle, aus der sie floss, war nicht in Paris, sie war im Herzen Deutschlands entsprungen; es war die neuere deutsche Philosophie. Daher kommt es, dass der norddeutsche Liberale eine entschiedene Konsequenz, eine Bestimmtheit in seinen Forderungen, ein festes Verhältnis von Mittel und Zweck hat, das der Süddeutsche bisher immer vergebens anstrebte. Daher kommt es, dass seine Gesinnung als ein notwendiges Produkt der nationalen Bestrebungen und darum selbst als national erscheint, dass sie Deutschland nach innen und außen gleich würdig gestellt sehen will und nicht in das komische Dilemma kommen kann, ob man erst liberal und dann deutsch oder erst deutsch und dann liberal sein solle. Daher weiß sie sich gleich sicher vor den Einseitigkeiten dieser wie jener Partei und ist die Spitzfindigkeiten und Sophistereien los, in die diese durch ihre eigenen inneren Widersprüche getrieben wurden. Darum kann sie einen so entschiedenen, so lebendigen, so erfolgreichen Kampf gegen alle und jede Reaktion eröffnen, wie der süddeutsche Liberalismus nie, und darum ist ihr der Sieg am Ende gewiss.

Indes ist der süddeutsche nicht als ein verlorener Vorposten, nicht als ein misslungenes Experiment zu fassen; wir haben durch ihn Resultate errungen, die wahrlich nicht zu verachten sind. Vor allem war er es, der eine deutsche Opposition begründete und so eine politische Gesinnung in Deutschland möglich machte und das parlamentarische Leben erweckte; der das Samenkorn, das in den deutschen Verfassungen lag, nicht einschlummern und verfaulen ließ und den Gewinn aus der Julirevolution zog, der für Deutschland daraus zu erzielen war. Er ging von der Praxis zur Theorie und kam damit nicht durch; so wollen wir es umgekehrt anfangen und von der Theorie in die Praxis zu dringen suchen – ich wette, was ihr wollt, wir kommen so am Ende weiter.

1 Mit diesem Artikel begann Engels seine Mitarbeit an der „Rheinischen Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe". Von ihm erschienen in der Zeit vom 12. April bis zum 29. August 1842 elf Artikel; außerdem brachte die „Rheinische Zeitung" in der Zeit vom 8. bis 27. Dezember 1842 fünf weitere Artikel von Engels.

2 Ereignisse in Hannover - gemeint ist der 1837 mit der Aufhebung der hannoverschen Verfassung von 1833 hervorgerufene Verfassungsstreit und die damit verbundene Entlassung der Göttinger Sieben aus dem Universitätsdienst.

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