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Friedrich Engels 18420514 Rheinische Feste

Friedrich Engels: Rheinische Feste

[„Rheinische Zeitung" Nr. 134 vom 14. Mai 1842. Nach Marx Engels Werke, Ergänzungsband Zweiter Teil, Berlin 1982, S. 255-257]

*x* Berlin, den 6. Mai. Es gibt gewisse Zeiten im Jahre, wo den Rheinländer, der sich in der Fremde herumtreibt, eine ganz besondere Sehnsucht nach seiner schönen Heimat ergreift. Diese Sehnsucht stellt sich namentlich im Frühling, um die Pfingstzeit, die Zeit des rheinischen Musikfestes, ein und ist ein ganz fatales Gefühl. Jetzt, das weiß man leider nur zu genau, jetzt wird es grün am Rhein; die durchsichtigen Wellen des Stromes kräuseln sich im Lenzhauch, die Natur zieht ihr Sonntagskleid an, und jetzt rüsten sie sich zu Hause zur Sängerfahrt, morgen ziehen sie aus, und du bist nicht dabei!

O, es ist ein schönes Fest, das rheinische Musikfest! Auf voll gedrängten, laubgeschmückten Dampfschiffen mit wehenden Flaggen, mit Hörnerschall und Gesang, auf langen Eisenbahnzügen und Postwagenreihen, mit geschwungenen Hüten und wehenden Tüchern kommen die Gäste von allen Seiten herbei geströmt, heitere Männer jung und alt, schöne Frauen mit noch schöneren Stimmen, lauter Sonntagsmenschen mit lachenden Sonntagsgesichtern. Das ist eine Lust! Alle Sorgen, alle Geschäfte sind vergessen; da ist auch kein einzig ernsthaftes Gesicht zu erblicken in dem dichten Gedränge der Ankommenden. Alte Bekanntschaften werden erneuert, neue geschlossen, das junge Volk lacht und schäkert und schwatzt in einem fort, und selbst die Alten, die von ihren lieben Töchtern gewaltsam überredet wurden, trotz Gicht, Podagra, Erkältung und Hypochondrie das Fest mitzumachen, werden von der allgemeinen Lust angesteckt und müssen lustig sein, da sie nun doch einmal mitgegangen sind. Alles bereitet sich zur Pfingstfeier vor, und würdiger kann ein Fest, das von allgemeiner Ausgießung des heiligen Geistes sich herleitet, nicht gefeiert werden, als durch Hingabe an den göttlichen Geist der Freude und des Lebensgenusses, dessen innersten Kern eben der Kunstgenuss bildet. Und von allen Künsten eignet sich keine so sehr dazu, den Mittelpunkt eines solchen geselligen Provinziallandtages zu bilden, wo alle Gebildeten der Umgegend zu gegenseitiger Auffrischung des Lebensmutes und der jugendlichen Fröhlichkeit sich zusammenfinden, als gerade die Musik. War es bei den Alten die komische Darstellung, der Wetteifer tragischer Dichter, was bei den Panathenäen und Bakchosfesten das Volk anzog, so kann dem bei unseren klimatischen und sozialen Verhältnissen nur die Musik entsprechen. Denn, wie uns die bloß gedruckte, nicht zum Gehör sprechende Musik keinen Genuss gewähren kann, so blieb den Alten die Tragödie tot und fremd, solange sie nicht von der Thymele1 und Orchestra2 durch den lebendigen Mund der Schauspieler redete. Jetzt hat jede Stadt ihr Theater, wo allabendlich gespielt wird, während für den Hellenen nur an großen Festen die Bühne sich belebte; jetzt verbreitet der Druck jedes neue Drama über ganz Deutschland, während bei den Alten nur wenige das geschriebene Trauerspiel zu lesen bekamen. Darum kann das Drama keinen Mittelpunkt großer Versammlungen mehr abgeben, eine andere Kunst muss aushelfen, und das kann nur die Musik; denn sie allein lässt die Mitwirkung einer großen Menge zu und gewinnt sogar dadurch an Kraft des Ausdrucks bedeutend; sie ist die einzige, bei der der Genuss mit der lebendigen Ausführung zusammenfällt, und deren Wirkungskreis an Umfang dem des antiken Dramas entspricht. Und wohl mag der Deutsche die Musik, in der er König ist vor allen Völkern, feiern und pflegen, denn wie es nur ihm gelungen ist, das Höchste und Heiligste, das innerste Geheimnis des menschlichen Gemüts aus seiner verborgenen Tiefe ans Licht zu bringen und in Tönen auszusprechen, so ist es auch nur ihm gegeben, die Gewalt der Musik ganz zu empfinden, die Sprache der Instrumente und des Gesanges durch und durch zu verstehen.

Aber die Musik ist dabei nicht die Hauptsache. Was denn? Nun, das Musikfest. Sowenig das Zentrum einen Kreis bildet ohne Peripherie, sowenig ist die Musik dabei irgend etwas, ohne das fröhliche gesellige Leben, das die Peripherie zu diesem musikalischen Zentrum bildet. Der Rheinländer ist durch und durch sanguinischer Natur; sein Blut rollt so leicht durch seine Adern wie frisch gegorener Rheinwein, und seine Augen sehen immer munter und wohlgemut in die Welt hinaus. Er ist das Sonntagskind unter den Deutschen, dem die Welt immer schöner und das Leben immer heiterer erscheint als den übrigen; er sitzt lachend und schwatzend in der Rebenlaube und hat beim Becher alle seine Sorgen längst vergessen, wenn die andern erst stundenlang beraten, ob sie hingehen und desgleichen tun sollen und darüber die beste Zeit verstreichen lassen. Das ist gewiss, kein Rheinländer hat sich jemals eine Gelegenheit zum Lebensgenusse vorübergehen lassen, oder er ist für den größten Narren gehalten worden. Dieses leichte Blut erhält den Rheinländer auch noch eine lange Zeit jung, wo der eigentliche Norddeutsche schon seit Jahren ins Philisterium der Gesetztheit und Prosa übergegangen ist. Der Rheinländer hat all sein Leben lang Spaß an lustigen, übermütigen Streichen, jugendlichen Schwänken oder, wie die weisen, gesetzten Leute sagen, an tollen Narreteien und Verrücktheiten; die lustigsten und flottesten Universitäten sind von jeher Bonn und Heidelberg gewesen. Und selbst der alte Philister, der in Müh' und Arbeit, in der Dürre der Alltäglichkeit versauert ist, mag er auch frühmorgens seine Jungen für ihre mutwilligen Späße abprügeln, so erzählt er ihnen doch abends beim Schöppchen behaglich die alten Schnurren, die er selbst in seiner Jugend verübt hat.

Bei diesem ewig heiteren Charakter der Rheinländer, bei einer so offenen, unbefangenen Sorglosigkeit ist es gar nicht zu verwundern, dass auf dem Musikfeste fast alle mehr wollen als hören und sich hören lassen. Das ist eine Fröhlichkeit, ein bewegtes, zwangloses Leben, eine Frische des Genusses, wie man sie anderswo lange suchen mag. Lauter heitere, wohlwollende Gesichter, Freundschaft und Herzlichkeit für edle, die an der allgemeinen Lust teilnehmen; wie Stunden verfliegen die drei Festtage unter Trinken, Singen und Scherzen. Und am Morgen des vierten Tages, wenn die ganze Freude genossen ist und geschieden werden muss, freut man sich schon wieder in der Hoffnung auf das nächste Jahr, verabredet sich darauf und jeder geht, noch immer heiter und neu belebt, seines Wegs und an sein alltäglich Werk.

1 erhöhter Raum in der Orchestra des altgriechischen Theaters

2 Platz für den Chor im altgriechischen Theater

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