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Friedrich Engels 18420510 Tagebuch eines Hospitanten

Friedrich Engels: Tagebuch eines Hospitanten

[Nach Marx Engels Werke, Ergänzungsband Zweiter Teil, Berlin 1982, S. 249-254]

I

[Marheineke]

[„Rheinische Zeitung" Nr. 130 vom 10. Mai 1842]

In einer Stadt wie Berlin würde der Fremde ein wahres Verbrechen gegen sich selbst und den guten Geschmack begehen, wenn er nicht alle Merkwürdigkeiten in Augenschein nehmen würde. Und doch geschieht es nur zu häufig, dass das Allerbedeutendste in Berlin, das, wodurch die preußische Hauptstadt sich so sehr vor edlen andern auszeichnet, von Fremden unbeachtet bleibt; ich meine die Universität. Nicht die imposante Fassade am Opernplatz, nicht das anatomische und mineralogische Museum mein' ich, sondern die soundso vielen Hörsäle mit geistreichen und pedantischen Professoren, mit jungen und alten, lustigen und ernsthaften Studenten, mit Füchsen und bemoosten Häuptern, Hörsäle, in denen Worte gesprochen sind und noch täglich gesprochen werden, denen mit der Grenze Preußens, ja des deutschen Sprachgebietes kein Ziel der Verbreitung gesetzt ist. Es ist der Ruhm der Berliner Universität, dass keine so sehr wie sie in der Gedankenbewegung der Zeit steht und sich so zur Arena der geistigen Kämpfe gemacht hat. Wie viele andere Universitäten, Bonn, Jena, Gießen, Greifswald, ja selbst Leipzig, Breslau und Heidelberg, haben sich diesen Kämpfen entzogen und sind in jene gelehrte Apathie versunken, die von jeher das Unglück der deutschen Wissenschaft war! Berlin dagegen zählt Vertreter aller Richtungen unter seinen akademischen Lehrern und macht dadurch eine lebendige Polemik möglich, die dem Studierenden eine leichte, klare Übersicht über die Tendenzen der Gegenwart verschafft. Unter solchen Umständen trieb es mich, von dem jetzt allgemein gewordenen Rechte des Hospitierens Gebrauch zu machen, und so ging ich eines Morgens, als gerade das Sommersemester begann, hinein. Mehre[re] hatten schon angefangen zu lesen, die meisten begannen gerade heute. Das Interessanteste, das sich mir darbot, war die Eröffnung der Vorlesungen von Marheineke über die Einführung der Hegelschen Philosophie in die Theologie. Überhaupt hatten die ersten Vorlesungen der hiesigen Hegelianer in diesem Semester ein ganz besonderes Interesse, weil manche schon im Voraus auf direkte Polemik gegen die Schellingsche Offenbarungsphilosophie rechnen ließen, von den andern aber erwartet wurde, dass sie mit einer Ehrenrettung der gekränkten Manen Hegels nicht zurückhalten würden. Marheinekes Kolleg war zu augenscheinlich gegen Schelling gerichtet, um nicht eine besondere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das Auditorium war schon lange vor seiner Ankunft gefüllt, junge und alte Männer, Studenten, Offiziere und wer weiß was sonst noch, saßen und standen dicht aneinandergedrängt. Endlich tritt er ein; das Sprechen und Summen verstummt auf der Stelle, die Hüte fliegen wie auf Kommando ab. Eine feste, kräftige Gestalt, ein ernstes, entschiedenes Denkerantlitz, die hohe Stirn umkränzt von Haaren, die in der sauren Arbeit der Gedanken ergraut sind; beim Vortrage selbst ein nobler Anstand, nichts von dem Gelehrten, der seine Nase in dem Heft vergräbt, aus dem er liest, nichts von theatralisch-gekünstelter Gestikulation; jugendlich aufrechte Haltung, das Auge fest auf der Hörermenge ruhend; der Vortrag selbst ruhig, würdig, langsam, aber stets fließend, schmucklos, aber unerschöpflich an schlagenden Gedanken, von denen einer den andern drängt und immer noch schärfer trifft als der vorhergehende. Marheineke imponiert auf dem Katheder durch die Sicherheit, die unerschütterliche Festigkeit und Würde, zugleich aber durch den freien Sinn, der aus seinem ganzen Wesen hervor leuchtet. Heute aber trat er in einer ganz eigenen Stimmung aufs Katheder, imponierte seinen Zuhörern auf eine noch weit mächtigere Weise als sonst. Hatte er ein ganzes Semester lang die unwürdigen Äußerungen Schellings über den toten Hegel und seine Philosophie geduldig ertragen; – hatte er die Vorträge Schellings bis zu Ende ruhig angehört – und das ist für einen Mann wie Marheineke wahrlich keine Kleinigkeit –, so war nun der Moment gekommen, wo er den Angriff erwidern, wo er gegen stolze Worte stolze Gedanken ins Feld führen konnte. Er begann mit allgemeinen Bemerkungen, in denen er die heutige Stellung der Philosophie zur Theologie in meisterhaften Zügen schilderte, erwähnte Schleiermachers anerkennend, von dessen Schülern er sagte, sie seien durch sein zum Denken anregendes Denken zur Philosophie geführt worden, und diejenigen, die einen andern Weg eingeschlagen, hätten es selbst zu büßen. Allmählich ging er zur Hegelschen Philosophie über und trat bald in eine leicht bemerkbare Beziehung zu Schelling.

Hegel", sagte er, „wollte vor allem, dass man sich in der Philosophie über seine eigene Eitelkeit erhebe und sich nicht etwa vorstelle, als habe man etwas Besonderes gedacht, bei dem es nun sein Bewenden haben könne; und namentlich war er der Mann nicht, der mit großen Versprechungen und blendenden Worten auftrat, sondern er überließ es ruhig der philosophischen Tat, für ihn zu sprechen. Er ist nie der miles gloriosus1 in der Philosophie gewesen, der von sich selbst viel Rühmens machte. – Jetzt freilich hält sich keiner für zu unwissend und zu beschränkt, um über ihn und seine Philosophie absprechen zu können, und wer eine gründliche Widerlegung derselben in der Tasche hätte, würde unfehlbar sein Glück machen; denn wie sehr man sich mit einer solchen insinuieren würde, sieht man an denen, welche nur versprechen, sie zu widerlegen, und es hintennach nicht halten."

Bei diesen letzten Worten brach der Beifall des Auditoriums, der sich bisher schon in einzelnen Zeichen kundgetan, in eine stürmische Akklamation aus, die, in einer theologischen Vorlesung neu, den Dozenten sehr frappierte und in ihrer frischen Ursprünglichkeit merkwürdige Vergleiche zuließ mit dem durch Subskription mühsam aufgebrachten, dürren Vivat am Schlüsse der von Marheineke bekämpften Vorlesungen. Er beschwichtigte den Zuruf durch Handbewegung und fuhr fort:

Diese erwünschte Widerlegung ist indes noch nicht da und wird auch nicht kommen, solange noch Gereiztheit, Verstimmung, Neid, überhaupt Leidenschaft an der Stelle der ruhigen, wissenschaftlichen Prüfung gegen sie aufgewandt werden; solange man Gnostik und Phantastik für hinreichend hält, um den philosophischen Gedanken vom Throne zu stürzen. Die erste Bedingung dieser Widerlegung ist freilich die, den Gegner richtig zu verstehen, und da gleichen freilich manche der Feinde Hegels dem Zwerge, der gegen den Riesen kämpfte, und dem noch bekannteren Ritter, der sich mit Windmühlen herumschlug."

Dies ist der Hauptinhalt der ersten Marheinekeschen Vorlesung, soweit er das größere Publikum interessieren dürfte. Marheineke hat wiederum gezeigt, wie mutig und unverdrossen er immer auf dem Kampfplatze ist, wenn es gilt, die Freiheit der Wissenschaft zu verteidigen. Er steht vermöge seines Charakters und Scharfsinns weit mehr als Nachfolger Hegels da als Gabler, dem man gewöhnlich diesen Titel gibt. Der große, freie Blick, mit dem Hegel das ganze Gebiet des Denkens überschaute und die Erscheinungen des Lebens auffasste, ist auch Marheinekes Erbteil. Wer will ihn verdammen, dass er seine langjährige Überzeugung, seine mühsame Errungenschaft nicht einem Fortschritte opfern will, der erst seit fünf Jahren ins Leben getreten ist? Marheineke ist lange genug mit der Zeit fortgeschritten, um zu einem wissenschaftlichen Abschluss berechtigt zu sein. Es ist eine große Eigenschaft an ihm, dass er sich selbst mit den äußersten Extremen der Philosophie auf gleichem Boden weiß und ihre Sache zur seinigen macht, wie er dies edle Tage seit Leos „Hegelingen" bis zu Bruno Bauers Entsetzung2 getan hat.

Marheineke wird übrigens diese Vorlesungen nach dem Schlüsse derselben drucken lassen.3

F. O.

II

[von Henning]

[„Rheinische Zeitung" Nr. 134 vom 24. Mai 1842]

In einem geräumigen Hörsaal saßen ein paar Studenten zerstreut und erwarteten den Dozenten. Der Anschlag an der Türe zeigte an, dass Professor von Henning um diese Stunde einen öffentlichen Vortrag über preußische Finanzverfassung beginnen werde. Der durch Bülow-Cummerow an die Tagesordnung gebrachte Gegenstand sowie der Name des Dozenten, eines der älteren Schüler Hegels, zog mich an, und es wunderte mich, dass sich nicht mehr Teilnahme zu finden schien. Henning trat ein, ein schlanker Mann in seinen „besten Jahren", mit dünnem blondem Haar, und begann in rasch fließender, vielleicht etwas zu ausführlicher Rede seinen Gegenstand darzustellen.

Preußen", sagte er, „zeichne sich vor allen Staaten dadurch aus, dass seine Finanzverfassung durchaus auf dem Grunde der neueren nationalökonomischen Wissenschaft erbaut sei, dass es den bis jetzt einzigen Mut gehabt habe, die theoretischen Resultate eines Adam Smith und seiner Nachfolger praktisch durchzuführen. England z.B., von dem doch die neueren Theorien ausgegangen, stecke noch bis über die Ohren im alten Monopol- und Prohibitivsystem, Frankreich fast noch mehr, und weder Huskisson in jenem noch Duchâtel in diesem Lande habe mit seinen vernünftigeren Ansichten die Privatinteressen überwinden können – von Österreich und Russland gar nicht zu reden; während Preußen das Prinzip des freien Handels und der Gewerbefreiheit entschieden anerkannt und alle Monopole und Prohibitivzölle abgeschafft habe. So stelle uns diese Seite unserer Verfassung hoch über Staaten, die in anderer Beziehung, in Entwickelung der politischen Freiheit uns weit vorausgeeilt seien. Wenn nun unsere Regierung in finanzieller Hinsicht so Außerordentliches geleistet habe, so sei auf der andern Seite auch anzuerkennen, dass sie ganz besonders günstige Verhältnisse zu einer solchen Reform vorgefunden. Der Schlag von 1806 habe reines Feld geschaffen, worauf das neue Gebäude aufgeführt werden konnte; eine Repräsentativverfassung, in der sich die besonderen Interessen hätten geltend gemacht, habe ihr die Hände nicht gebunden. Leider aber fänden sich immer noch alte Herren, die in ihrer Beschränktheit und Grämlichkeit das Neue bekrittelten und ihm den Vorwurf machten, dass es unhistorisch, aus der abstrakten Theorie heraus, unpraktisch, gewaltsam konstruiert sei; als ob seit 1806 die Geschichte aufgehört habe und es ein Vorwurf für die Praxis sei, mit der Theorie, der Wissenschaft übereinzustimmen; als ob das Wesen der Geschichte der Stillstand, das Drehen im Kreise, nicht aber der Fortschritt sei, als ob es überhaupt eine von aller Theorie bare Praxis gebe!"

Es wird mir erlaubt sein, diese letzten Punkte, mit denen die öffentliche Meinung in Deutschland und namentlich in Preußen sich gewiss einverstanden erklären wird, näher zu betrachten; es ist sehr an der Zeit, dem ewigen Gerede einer gewissen Partei von „historischer, organischer, naturgemäßer Entwickelung" vom „naturwüchsigen Staat" usw. entschieden entgegenzutreten und vor dem Volke jene glänzenden Gestalten zu entlarven. Wenn es Staaten gibt, die allerdings Rücksichten auf die Vergangenheit zu nehmen haben und zu einem langsameren Fortschritt genötigt sind, so findet dies auf Preußen keine Anwendung. Preußen kann nicht schnell genug fortschreiten, sich nicht rasch genug entwickeln. Unsere Vergangenheit liegt begraben unter den Trümmern des vorjenaischen Preußens, ist fortgeschwemmt von der Flut der napoleonischen Invasion. Was fesselt uns? Wir haben nicht jene mittelalterlichen Klötze mehr an den Füßen nachzuschleppen, die so manchen Staat am Gehen hindern; der Schmutz vergangener Jahrhunderte klebt nicht mehr an unseren Sohlen. Wie kann man also hier von historischer Entwickelung reden, ohne eine Zurückführung ins ancien régime im Sinne zu haben? Einen Rückzug, der der schmählichste sein würde, der jemals dagewesen ist, der die glorreichsten Jahre aus der preußischen Geschichte aufs feigste verleugnen würde, der – bewusst oder unbewusst – Verrat am Vaterlande wäre, indem er wieder eine neue Katastrophe wie die von 1806 nötig machte. Nein, es ist sonnenklar, dass Preußens Heil allein in der Theorie, der Wissenschaft, der Entwickelung aus dem Geiste liegt. Oder, um es von einer andern Seite zu fassen, Preußen ist kein „naturwüchsiger", sondern ein durch Politik, durch Zwecktätigkeit, durch den Geist entstandener Staat. Man hat dies neuerdings von französischer Seite her als die größte Schwäche unseres Staats darstellen wollen; im Gegenteil ist dieser Umstand, wenn er nur recht benutzt wird, unsere Hauptstärke. So hoch der selbstbewusste Geist über der bewusstlosen Natur steht, so hoch kann Preußen, wenn es will, sich über die „naturwüchsigen" Staaten stellen. Weil die provinzielle Verschiedenheit in Preußen so groß ist, so muss, um keinem unrecht zu tun, die Verfassung rein aus dem Gedanken erwachsen; ein allmähliches Verschmelzen der verschiedenen Provinzen macht sich dann von selbst, indem die besonderen Eigentümlichkeiten sich alle in die höhere Einheit des freien Staatsbewusstseins auflösen, während sonst ein paar Jahrhunderte nicht hinreichen würden, um die innere legislative und nationale Einheit von Preußen hervorzubringen und der erste erschütternde Stoß für den inneren Zusammenhalt unseres Staats Folgen haben müsste, für die kein Mensch einstehen kann. Den andern Staaten ist durch einen bestimmten Nationalcharakter der Weg vorgezeichnet, den sie zu nehmen haben; wir sind frei von diesem Zwange; wir können aus uns machen, was wir wollen; Preußen kann mit Hintansetzung aller Rücksichten rein den Eingebungen der Vernunft folgen, kann, wie kein anderer Staat, von den Erfahrungen seiner Nachbarn lernen, kann, und das tut ihm keiner nach, als Musterstaat für Europa dastehen, auf der Höhe seiner Zeit, das vollständige Staatsbewusstsein seines Jahrhunderts in seinen Institutionen darstellen.

Das ist unser Beruf, dazu ist Preußen geschaffen. Sollen wir diese Zukunft um ein paar hohle Phrasen einer verlebten Richtung verschachern? Sollen wir der Geschichte selbst nicht hören, die uns den Beruf anweist, die Blüte aller Theorie ins Leben hinüber zu führen? Preußens Basis, ich sage es noch einmal, sind nicht die Trümmer vergangener Jahrhunderte, sondern der ewig junge Geist, der in der Wissenschaft zum Bewusstsein kommt und im Staat seine Freiheit sich selber schafft. Und wenn wir vom Geist und von seiner Freiheit ließen, so verleugneten wir uns selbst, so verrieten wir unser heiligstes Gut, so mordeten wir unsere eigene Lebenskraft und wären nicht wert, länger in der Reihe der europäischen Staaten zu stehen. Dann würde die Geschichte mit dem furchtbaren Todesurteil über uns kommen: „Du bist gewogen und zu leicht gefunden!"

F.O.

1 prahlende Aufschneider

2 Bruno Bauer wurde als Privatdozent an der Bonner Universität Ende März 1842 amtsenthoben.

3 Philipp Marheineke, „Einleitung in die öffentlichen Vorlesungen über die Bedeutung der Hegelschen Philosophie in der christlichen Theologie. Nebst einem Separatvotum über B. Bauers Kritik der evangelischen Geschichte." Berlin 1842.

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