Friedrich Engels‎ > ‎1842‎ > ‎

Friedrich Engels 18420918 Zentralisation und Freiheit

Friedrich Engels: Zentralisation und Freiheit

[Rheinische Zeitung. Nr. 261, 18. September 1842. Beiblatt. Nach Marx Engels Gesamtausgabe (MEGA). Erste Abteilung. Werke – Artikel Entwürfe, Band 3. Berlin 1985, S. 623-626]

* x * Es erscheint auf den ersten Anblick hin unbegreiflich, dass in Frankreich ein Ministerium, wie das Guizotsche, sich so lange halten, ja dass es überhaupt zur Herrschaft gelangen konnte. Gegenüber einer Kammer, die Vollmacht hat, über Ernennung und Absetzung der Minister, gegenüber einer freien, einflussreichen Presse, gegenüber den freiesten Institutionen Europas, gegenüber einer konzentrierten, heftig gegen ihn eingenommenen öffentlichen Meinung hat Guizot, der Minister de l’étranger, nun fast zwei Jahre reagiert, die Presse verfolgt, der öffentlichen Meinung getrotzt, die Kammer geleitet, aufgelöst, eine neue berufen, die Ehre Frankreichs vor den Großmächten kompromittiert und den Ruhm der Inpopularität, den er sich erstrebt, in vollem Maße errungen. Und der Mann, der dies Alles getan hat, der den Franzosen zwei Jahre von ihrer Geschichte entwendet hat, darf sich einer so starken Partei in der Kammer rühmen, dass nur eine forcierte Koalition der entgegengesetztesten Meinungen ihm Gefahr bringen kann.

Das Ministerium Guizot ist die Blütezeit der Juliregierung, der Triumph Louis Philippes und die bitterste Demütigung aller Derer, die von der Julirevolution die Befreiung Europas erwartet hatten. Die Prinzipien der Volkssouveränität, der freien Presse, der unabhängigen Geschworenen-Justiz, der parlamentarischen Regierung sind in Frankreich faktisch vernichtet. Das Ministerium Guizot hat den reaktionären Tendenzen, die in Frankreich sich wieder Geltung zu verschaffen wussten, die Krone aufgesetzt, und die Ohnmacht des französischen Liberalismus vor den legitimen Gewalten Europas offen zur Schau getragen.

Das Faktum steht fest. Die Reaktion in ganz Europa jubelt darüber. Die liberale Partei muss es alle Tage hören, dass Frankreich täglich seine Institutionen verleugne, seine Geschichte seit 1789 Lügen strafe, Kammern wähle, deren Liste allein schon ein Pasquill auf die Julirevolution sei, kurz, dass das liberalste Volk in Europa durch jede seiner Handlungen den Liberalismus verrate. Und die Liberalen, namentlich die gutmütigen Deutschen, werden schamrot und stammeln ein paar ungewaschene Entschuldigungsgründe, mit denen es ihnen selbst nicht recht Ernst ist, hoffen im Stillen auf eine liberale Kammer und ganz im Geheimen, ganz verstohlen – auf einen neuen Juli.

Die Tatsache kann nicht nur zugegeben werden, ohne dem Prinzip der Freiheit Eintrag zu tun, sie muss sogar eben um dieses Prinzips willen in den Vordergrund gestellt werden. Sie hat zwei Ursachen; die Eine ist von den kühneren Freisinnigen öfter schon den Reaktionären entgegengestellt worden, die Halbheit und Zweideutigkeit der französischen Verfassung, in der das Prinzip der Freiheit nie entschieden ausgesprochen und durchgeführt ist; die Andere ist die Zentralisation.

Trotz Cormenins Broschüre, trotz seiner glänzenden und beredten Verteidigung der französischen Zentralisation, bleibt diese die Hauptursache des Rückschritts in der französischen Gesetzgebung. Cormenin beweist eigentlich Nichts, obwohl fast Alles in seinem Buche richtig und gut ist. Denn er begründet die Zentralisation nicht in den allgemeinen Gesetzen der Vernunft, sondern entschuldigt sie durch die besondere Natur des französischen Volksgeistes und durch den Gang der Geschichte.

Das sind Gründe, die wir einstweilen annehmen können, denn vorher haben wir den Beweis zu liefern, dass eine solche Zentralisation unvernünftig und deshalb die Ursache der oben angegebenen Wirkungen ist.

Die Zentralisation in der extremen Gestalt, wie sie jetzt in Frankreich herrscht, ist ein Hinausgehen des Staats über seine Schranke, über sein Wesen. Die Schranke des Staats aber ist einerseits das Individuum, andererseits die Weltgeschichte. Beide Seiten werden von der Zentralisation verletzt. Indem der Staat sich ein Recht anmaßt, das nur der Geschichte zukommt, vernichtet er die Freiheit der Einzelnen. Die Geschichte hat von Ewigkeit her das Recht gehabt, und wird es immer behalten, über das Leben, das Glück, die Freiheit des Einzelnen zu verfügen; denn sie ist Tat der ganzen Menschheit, sie ist das Leben der Gattung und als solches souverän; gegen sie kann Keiner sich auflehnen, denn sie ist das absolute Recht. Der Geschichte gegenüber kann Keiner sich beklagen, denn wie sie ihm auch mitgeteilt hat, so hat er immer sein Leben genossen, oder einen Anteil an der Entwickelung der Menschheit gehabt, was mehr ist als aller Genuss. Wie lächerlich, wenn die Untertanen eines Nero, eines Domitian sich beklagen wollten, dass sie nicht zu einer Zeit, wie die unsrige ist, geboren wurden, wo das Köpfen und Braten so leicht nicht geht; oder wenn die Schlachtopfer des mittelalterlichen Glaubenseifers der Geschichte zum Vorwurf machten, dass sie nicht nach der Reformation und unter toleranten Regierungen gelebt hätten! Als ob ohne das Leiden der Einen die Andern hätten den Fortschritt machen können! So haben die englischen Arbeiter, die jetzt bitteren Hunger leiden müssen, zwar ein Recht, gegen Sir Robert Peel und die englische Verfassung zu klagen, nicht aber gegen die Geschichte, die sie zu Trägern und Vertretern eines neuen Rechtsprinzips macht. Nicht so der Staat. Er ist immer ein besonderer und kann nie das Recht in Anspruch nehmen, das die ganze Menschheit in ihrer Tätigkeit und Entwickelung der Geschichte allerdings besitzt, das Recht, den Einzelnen dem Allgemeinen zu opfern.

So begeht der Zentralisationsstaat allerdings eine Ungerechtigkeit, indem er, wie es in Frankreich geschieht und Cormenin es zugibt, die Provinzen dem Zentrum opfert und so eine Oligarchie, eine Aristokratie der Lokalität einführt, die nicht weniger ungerecht und unvernünftig ist, als die Aristokratie des Adels und des Geldes. Die Freiheit ist durch die Gleichheit wesentlich bedingt, und bei aller égalité devant la loi ist der Unterschied zwischen Parisern und Provinzialen dennoch, was Bildung, Teilnahme an der Volkssouveränität und wahrem, sittlichen Lebensgenuss betrifft, mehr als genug, um die französischen Institutionen in ihrer naturgemäßen Entwicklung zur vollen Freiheit hin zu hemmen.

Die Geschichte der Zentralisation in Frankreich, wie überall, geht der des Absolutismus parallel. Ludwig XI. ist der Begründer beider; die Hugenottenkriege waren der letzte bedeutende Versuch der Provinzen, sich gegen die Hegemonie von Paris aufzulehnen, und von dieser Zeit an ist die Oberherrlichkeit der Hauptstadt über Frankreich allgemein anerkannt. Denn so wie mit der Zentralisation des Staates Ernst gemacht wird, kann die lokale Zentralisation, die Hegemonie des Mittelpunkts, nicht ausbleiben. So lange der Absolutismus anhielt, hatte nur Paris Vorteil von ihm, die Provinzen mussten sich mit den Staatskosten und der allergnädigsten Willkür begnügen. Alle Bildung, aller Esprit, alle Wissenschaft aus ganz Frankreich konzentrierte sich in Paris, lebte für Paris; die Presse arbeitete nur in und für Paris; das Geld der Provinzen, das der Hof an sich zog, verschwendete er in und für Paris. Dadurch entstand aber jenes große Missverhältnis der Bildung zwischen Paris und dem Lande, das sich, so wie der Absolutismus zum Falle kam, in einer für Frankreich höchst nachteiligen Gestalt entwickelte. Die Zentralisation allein machte die Revolution möglich, so wie sie einmal geworden ist; die Zentralisation aber hatte auch den Riss zwischen Paris und dem Lande schon so groß gemacht, dass Paris sich wenig um das Wohl der Provinzen kümmerte, so lange es selbst nicht von dem allgemeinen Drucke berührt wurde. Die Reichsstände, die Vertreter des gedrückten Landes, nicht die Stadt Paris, begannen das Revolutionswerk; erst als die Fragen prinzipiell wurden und das Interesse der Hauptstadt beteiligt wurde, ergriff diese die Initiative und beherrschte den Gang der Ereignisse. Hierdurch aber wurde die Teilnahme des Landes erschlafft, und diese und die in seinem Sinne gewählten Vertreter gaben durch ihre Apathie Napoleon die Gelegenheit, sich allmählich bis zum Kaiserthrone aufzuschwingen. Unter der Restauration, als die Parteien sich entwickelten, kam derselbe Kampf des Landes und der Hauptstadt zum Vorschein; Paris hatte bald ein klares Bewusstsein sich errungen und entschied sich gegen die Bourbons und das Königtum von Gottes Gnaden; das Land, bei seiner geringem Bildung, stellte wenig Liberale ins Feld, war großenteils apathisch und deshalb für das Bestehende, oder gar fanatisch für das ancien régime. Die Julirevolution wurde deshalb bloß von Paris gemacht; die große Masse der Gleichgültigen war zu träge, sich gegen die Hauptstadt und ihr neues Prinzip zu erheben; die ungebildetsten Gegenden des Landes blieben den Bourbons treu, konnten aber gegen die Zentralisation Nichts ausrichten. Seitdem aber hat fast jede Kammer einen Gewinn der Julirevolution nach dem andern sich rauben lassen, und das hat außer andern Ursachen auch die Zentralisation verschuldet. Denn zu den Kammern schicken alle Teile des Landes Deputierte, und trotz Wahlbeherrschung und Bestechung zeigt doch jeder Wahlbezirk durch seine Wahl die Stufe seiner politischen Bildung an. Der sich bestechen und beherrschen lässt, ist ja eben selbst nicht frei und entschieden; er tut also ganz Recht, wenn er durch die Wahl eines ministeriellen Deputierten sich der ihm zukommenden Bevormundung unterwirft. Der Widerspruch der Julirevolution und der Kammern von 1842 ist der Widerspruch der Hauptstadt und des Landes. Frankreich kann durch Paris wohl Revolutionen machen, freie Institutionen mit Einem Schlage schaffen, aber sie nicht erhalten. Wer sich die Kammer von 1842 nicht erklären kann, zeigt dadurch, dass er Franzosen und Pariser verwechselt hat, dass der Widerspruch der Zentralisation ihm nicht zum Bewusstsein gekommen ist.

Seien wir nicht ungerecht! Der Widerspruch, an dem die Zentralisation leidet, ist unleugbar; lassen wir ihr aber auch ihr historisches und vernünftiges Recht zukommen! Die Zentralisation ist – und darin liegt ihre Rechtfertigung – das Wesen, der Lebensnerv des Staats. Jeder Staat muss notwendig der Zentralisation zustreben, jeder Staat ist zentral, von der absoluten Monarchie bis zur Republik hin; Amerika so gut wie Russland. Kein Staat kann der Zentralisation entbehren, der Föderativstaat eben so wenig wie der ausgebildete Zentralstaat; so lange Staaten bestehen, wird jeder Staat ein Zentrum haben, jeder Staatsbürger nur Kraft der Zentralisation seine staatsbürgerlichen Funktionen verrichten. Bei dieser Zentralisation kann die Kommunalverwaltung, kann Alles, was einzelne Staatsbürger oder Korporationen betrifft, ganz gut freigegeben werden, muss es sogar, denn weil die Zentralisation in den Einen Mittelpunkt zusammengedrängt ist, weil Alles hier in Einem ist, muss ihre Tätigkeit notwendig eine allgemeine sein, ihre Kompetenz und Vollmacht Alles in sich schließen, was allgemein gilt, Alles aber, was nur Diesen oder Jenen angeht, frei lassen. Hieraus folgt das Staatsrecht der Zentralgewalt, Gesetze zu erlassen, die Verwaltung zu beherrschen, Staatsbeamte zu ernennen u. s. w.; hieraus folgt zugleich der Grundsatz, dass die richterliche Gewalt durchaus nicht mit dem Zentrum zusammenhängen darf, sondern dem Volk anheimfällt – Geschworenengerichte, dass, wie bereits gesagt, Kommunalangelegenheiten u.s.w. nicht in ihr Ressort gehören u. s.w.

Das zentrale Wesen des Staats bedingt übrigens nicht, dass ein Einziger der Mittelpunkt sei, wie in der absoluten Monarchie; sondern nur, dass ein Einzelner im Mittelpunkte stehe, wie es in der Republik der Präsident eben so gut kann. Es ist nämlich nicht zu vergessen, dass die Hauptsache nicht die im Zentrum stehende Person, sondern das Zentrum selbst ist.

Wir kommen wieder auf unsern Anfang zurück. Die Zentralisation ist das Prinzip des Staats, und dennoch ist es mit der Zentralisation notwendig verknüpft, dass sie den Staat zwingt, über sich selbst hinauszugehen, sich, das Besondere, als Allgemeines, Letztes und Höchstes zu konstituieren, auf die Befugnis und Stellung, die allein der Geschichte zukommt, Anspruch zu machen. Der Staat ist nicht, wie er dafür gilt, die Realisierung der absoluten Freiheit – sonst wäre die obige Dialektik des Staatsbegriffes nichtig – s ndern bloß der objektiven Freiheit. Die wahre subjektive Freiheit, die jener gleichberechtigt ist, verlangt eine andere Form der Verwirklichung, als den Staat.

Kommentare