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Konflikte zwischen ZK und Dumafraktion

Das Zentralkomitee unternahm eine Reihe von Schritten, um mit der Dumafraktion in steter Fühlung zu stehen und sie anzuleiten. Die Beziehungen zwischen der Fraktion und dem ZK bahnten sich nur langsam in der wünschenswerten Richtung an, die Fehler der Fraktion aber erschwerten noch mehr die Möglichkeit der Zusammenarbeit.

Vor dem Beginn der Dumasitzungen beabsichtigten die rechten Abgeordneten, an den Zaren ein Begrüßungstelegramm zu senden, und in der 3. Duma-Sitzung wurde denn auch eine Adresse beschlossen. Die Fraktion fasste den Beschluss, der Erörterung der Adresse nicht beizuwohnen, da sie sich einem entschlossenen Auftreten nicht gewachsen fühlte.

Das ZK war der Auffassung, dass die Dumafraktion sich an der betreffenden Sitzung beteiligen und sich über die Lage im Lande aussprechen sollte. Doch es war zu spät: die Fraktion hatte ihren Beschluss bereits zur Ausführung gebracht. Als Antwort auf die Deklaration der Regierung verlas die Fraktion eine von Potressow ausgearbeitete und von ihr selbst noch beschnittene Deklaration. Roschkow, als Vertreter des ZK, fand den Deklarationsentwurf ungenügend und legte der Fraktion einen vom ZK ausgearbeiteten Deklarationsentwurf vor. In der Deklaration der Fraktion fehlten solche Losungen, wie z. B. die Konfiskation des Grund und Bodens, die Konstituierende Versammlung; statt konkreter Forderungen in der Arbeiterfrage wurde in allgemeinen Wendungen eine Hebung der Lage der Arbeiterklasse verlangt usw. Das ZK kam zu der einmütigen Feststellung, dass die Deklaration den Aufgaben der Fraktion nicht entspricht, und richtete an die Fraktion einen Brief, in dem in kameradschaftlicher Form die Mängel ihrer Arbeit aufgewiesen wurden.

Zu scharfen Zusammenstößen mit dem ZK kam es auch in folgenden Fragen. Die Fraktion beschloss, neben der Rechts-, Agrar-, Arbeiter-, Selbstverwaltungskommission u. a. m. noch eine „politische" Kommission zwecks Erörterung aller taktischen Fragen zu bilden. Das ZK erhob Protest gegen diesen Beschluss, da es ihn für statutenwidrig hielt. Es bedurfte eines Vetos des ZK, um die Fraktion von diesem Beschluss abzubringen. Vom Beschluss des Londoner Parteitags ausgehend, hielt das ZK die Beteiligung der Fraktion an der oppositionellen Beratung, der auch Mitglieder des Polnischen Kolo und die „Partei der friedlichen Erneuerung" beiwohnten, für unzulässig. Zu allgemeinen informatorischen Beratungen der Oppositionsgruppen, ohne Polen und ohne die „Partei der friedlichen Erneuerung", hielt das ZK gegebenenfalls die Entsendung einer Delegation aus zwei bis drei Genossen, nach erfolgter Beschlussfassung der Fraktion in der betreffenden Frage, für zulässig. Der Beschluss der Fraktion, für Lwow, Mitglied der „Partei der friedlichen Erneuerung", zu stimmen, falls seine Wahl von sozialdemokratischen Stimmen abhängen würde, wurde vom ZK ebenfalls einmütig angefochten: in der Resolution des Londoner Parteitags wird diese Partei als rechte bezeichnet und der Kampf gegen sie als eine rechte Partei vorgeschrieben. Daraufhin hob die Fraktion ihren Beschluss auf. Einen Grund zu ernsten Misshelligkeiten bildete die Weigerung der Fraktion, in legalen Versammlungen vor den Wählern mit Berichten aufzutreten. Solche Versammlungen waren von großer Bedeutung, insbesondere für Petersburg, wo boykottistische Stimmungen und Unzufriedenheit mit der Fraktion stark ausgeprägt waren. Das ZK verlangte von der Fraktion eine Revision dieses Beschlusses, dessen Wortlaut uns nicht bekannt ist, – jedenfalls hat es sich darum gehandelt, dass die Fraktion es vorzog, das Auftreten in solchen Versammlungen zu vermeiden. „Bekanntlich hat die Fraktion in der vorigen Tagungsperiode den Besuch der Arbeiter- und Parteiversammlungen durch die sozialdemokratischen Abgeordneten solchen Bedingungen unterworfen, die ihn praktisch fast unmöglich machen" (aus dem Brief von N. [Roschkow?] in Nr. 39 des „Proletarij).

Die von der Fraktion begangenen politischen Fehler riefen unter den Arbeitern und in der Partei starken Unwillen hervor. In einer Reihe großer Organisationen, besonders in Moskau, Petersburg, Iwanowo-Wosnessensk, Odessa, war die Meinung verbreitet, die Boykott-Taktik wäre richtig gewesen, die Fraktion habe durch ihr Verhalten die boykottistischen Positionen gefestigt. Im Winter und Frühjahr 1908 nahmen diese Stimmungen die Form des Otsowismus an.

Mit Rücksicht auf diese Stimmungen richtete das ZK an die Ortsorganisationen einen Brief über die Dumafraktion, veröffentlicht in Nr. 21 des „Proletarij" vom 26. (13.) Februar. In diesem Brief bezeichnet das ZK den Wahlausgang unter den gegebenen Verhältnissen für die Sozialdemokratie als gut, verweist auf die äußerst ungünstige Situation, in der die Fraktion arbeiten muss. „Das ZK stellt natürlich die politischen Fehler der Fraktion und ihre Verantwortlichkeit für diese Fehler nicht in Abrede, hält es aber zugleich für notwendig, darauf zu verweisen, dass viele Mängel der Tätigkeit der Fraktion durch das Fehlen einer systematischen Beeinflussung der Fraktion durch die Partei bedingt sind." Das ZK verweist ferner darauf, dass sehr vieles in der Arbeit der Fraktion von den Ortsorganisationen abhängt, und teilt mit, dass sich zwischen ihm und der Dumafraktion gegenseitiges Verständnis und Übereinstimmung in den Hauptfragen der Dumaarbeit entwickelt. Das ZK empfiehlt den Parteiorganisationen, der Fraktion Petitionen, Erklärungen mit der Bitte einzusenden, in der Duma Fragen zur Sprache zu bringen, die die Interessen der Arbeitermassen berühren, wie z. B. Arbeitslosigkeit, Teuerung, Gewerkschaften, Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse usw.

Erschwerend für normale Beziehungen zwischen dem ZK und der Fraktion waren die unaufhörlichen Fehler dieser letzteren sowie die inneren Kämpfe im ZK und in der bolschewistischen Zentrale. Der Optimismus des ZK, dessen Ausdruck wir im obigen Brief finden und den es aus den Erfahrungen der ersten Dumatagung schöpfte, hatte eine Reihe schwerer Prüfungen zu bestehen. Doch nach der Dezemberkonferenz 1908 schlug die Arbeit der Fraktion, trotzdem in ihr die Menschewiki zahlenmäßig die Mehrheit hatten, solche Bahnen ein, dass offene Liquidatoren, wie Beloussow, mit der Fraktion brechen mussten.

Die Versuche des ZK, die Arbeit der Fraktion zu beeinflussen, wurden von den Menschewiki als Bekrittelung und Hetze gegen die Fraktion gewertet.

Anderseits verfiel ein Teil der Bolschewiki, in der Hauptsache ehemalige Boykottisten, in das entgegengesetzte Extrem – sie verlangten, man solle der Fraktion ein Ultimatum stellen. Dieser ultimatistische Standpunkt kommt im „Proletarij" in den Artikeln von G. Alexinski und Schanzer zum Ausdruck.

Im Artikel „Was nun?" („Proletarij" Nr. 34) schrieb Alexinski:

„… Werfen wir einen Rückblick auf die Tätigkeit der Fraktion während der ersten Tagung der III. Duma, so müssen wir – natürlich zu unserem größten Bedauern – feststellen, dass diese Tätigkeit nicht einmal Null, sondern eine negative Größe ist, und dass wir statt des erwarteten Nutzens in politischer Beziehung dadurch nur Schaden erlitten haben … Welchen Schluss kann und muss man daraus ziehen? Nur den einen: Wir Bolschewiki, die wir in übergroßer Mehrheit für die Nichtbeteiligung an der III. Duma waren, hatten mit unserem Misstrauen gegenüber der zukünftigen Tätigkeit der Fraktion nur allzu recht. Was muss die Partei tun, um aus dieser Situation einen ehrenvollen Ausweg zu finden? Auf den ersten Blick wäre die Abberufung der Fraktion aus der Duma der einfachste Ausweg …"

Alexinski will den otsowistischen Standpunkt weiter kritisieren, erklärt aber, dass er ihn nicht als anarchistischen betrachtet. „Kann aber die Partei sie (die Fraktion) abberufen, wie es die Otsowisten wollen?" – fragt Alexinski. „Ich glaube, es wäre ein falscher Schritt, und zwar aus folgendem Grunde. Die gegenwärtige Fraktion ist nämlich, wie das ZK selber sagt, in Bezug auf Parteigeist nicht auf der Höhe. Sie hat bereits Parteidirektiven und ZK-Direktiven verletzt, und – man muss offen sein – sie wird sich in ihrer Mehrheit ganz einfach weigern, dem Beschluss über ihre Abberufung nachzukommen" … Man darf die Fraktion – sagt Alexinski – auch deshalb nicht abberufen, weil ein solcher Schritt für die Partei und ihren linken Flügel schwere Folgen haben kann. Die Partei muss der Fraktion zwei Ultimatums stellen: über bedingungslose Unterwerfung unter die Beschlüsse der Partei und ihres ZK sowie über die Arbeit außerhalb der Duma.

Noch schärfer wird die Frage der „ultimatistischen" Taktik von Marat (W. Schanzer) gestellt; im Artikel „Zur Frage der Taktik der sozialdemokratischen Dumafraktion" („Proletarij" Nr. 36) schreibt er: „… In allen ihren Aktionen bewegte sich die Fraktion stets in der Richtung des geringsten Widerstands, in der Richtung des Kompromisses, eng-praktischer Erwägungen und verfiel dabei nicht selten dem parlamentarischen Kretinismus." Marat führt eine Reihe von Beispielen aus der Tätigkeit der Fraktion an, die seine Behauptung über ihren Opportunismus stützten, und schließt mit folgenden Worten: „Es ist Zeit, ihr (der Fraktion) ein Ultimatum zu stellen, das von ihr strengste Unterwerfung unter die Parteidisziplin verlangt, Beteiligung an der Parteiarbeit außerhalb der Duma, Agitations- und Propaganda-Arbeit durch entschlossenes Auftreten in der Duma, durch Vertretung, und zwar eine entschiedene Vertretung des Programms und der Taktik der Partei, durch demonstrative Proteste gegen die Mundtotmachung der proletarischen Abgeordneten, gegen die stille, aber gewaltsame Entfernung des einen nach dem andern. Entweder muss die Fraktion zu einer wahren Parteiorganisation und in ihrem ganzen Auftreten und ihrer Taktik konsequent werden, oder aber die Partei wird andere Maßnahmen ergreifen, aus der Fraktion einige Opportunisten entfernen oder sogar die Fraktion abberufen müssen."

Zur Charakteristik der Linie des „Proletarij" in der Frage der Dumafraktion sei auch auf den Artikel in Nr. 35 „Zur Frage der Tätigkeit unserer Dumafraktion", von M., verwiesen. Zu diesem Artikel brachte die Redaktion eine Anmerkung, die für die Beurteilung der innerparteilichen Lage sehr charakteristisch ist. Die Redaktion bringt den Artikel von M. als Diskussionsbeitrag, der die Eindrücke eines unmittelbaren Beobachters der Tätigkeit der Fraktion widerspiegelt, ist aber doch der Auffassung, dass der Verfasser die Lage zu optimistisch beurteilt, „indem er die Sache so darstellt, als ob die Fraktion keine durchdachte opportunistische Linie hätte. Es ist richtig, dass es ihr aus verschiedenen Gründen nicht gelungen ist, eine konsequent menschewistische Linie durchzuführen. Es kann aber nicht geleugnet werden, dass, soweit eine Linie sich allmählich herausbildete, sie eine opportunistische war…" Die Redaktion bemerkt ferner, dass es sich um den russischen, nicht um den badischen Opportunismus handelt, d. h. dass es kein offener Opportunismus ist, der für das Gesamtbudget stimmt, wie es in süddeutschen Landtagen der Fall gewesen ist. Die Fraktion unterscheidet sich von den reformistischen Parlamentariern der deutschen Sozialdemokratie „in dem gleichen Maße wie unser einheimischer Menschewismus, der noch nicht alle revolutionären Traditionen zum alten Eisen geworfen hat, sich vom westeuropäischen unterscheidet". [Band 12]

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