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Ungarische Räterepublik

Im Ergebnis des imperialistischen Krieges, der Niederlage Deutschlands, Österreich-Ungarns und der Türkei, der inneren Zersetzung der österreichisch-ungarischen Monarchie und der wachsenden revolutionären Aktionen der Arbeiter- und Soldatenmassen schüttelte Ungarn am 31. Oktober 1918 die Macht der österreichischen Monarchie von sich ab und erklärte sich als selbständige nationale Republik. Die Macht ging in die Hände der radikalen Parteien des Kleinbürgertums und der Sozialdemokratie über, die eine Koalitionsregierung mit dem Grafen M. Karolyi an der Spitze bildeten. Die Hauptrolle dieser Regierung bestand darin, die revolutionäre Bewegung des Proletariats und der Dorfarmut, dieser Triebkräfte der heranreifenden sozialistischen Revolution, mit Hilfe des sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsapparates im Interesse der Bourgeoisie zu entwaffnen und abzuwürgen. Die Massenbewegung nahm jedoch Formen an, die für die Bourgeoisie immer gefährlicher wurden, insbesondere nach der am 21. November 1918 erfolgten Gründung der Kommunistischen Partei Ungarns. Diese verstand es, im Laufe von drei Monaten, an die Spitze der spontanen Bewegung der proletarischen Massen zu treten und sie ins Fahrwasser des klassenbewussten Kampfes um die Rätemacht zu lenken. Das rapide Wachstum des Einflusses der Kommunistischen Partei veranlasste die Koalitionsregierung am 21. Februar 1919, die Führer der Kommunistischen Partei Ungarns zu verhaften und die kommunistische Zeitung zu verbieten. Diese Maßnahme verstärkte jedoch den Drang der Arbeiter zur Kommunistischen Partei nur noch mehr. Gleichzeitig erlitt die kleinbürgerliche Koalitionsregierung sowohl außenpolitisch als auch innenpolitisch vollkommen Schiffbruch. Rumänische, tschechoslowakische und jugoslawische Truppen besetzten mit Einverständnis und Unterstützung der Entente zwei Drittel des ungarischen Territoriums. Der zentrale, am stärksten industrialisierte Teil des Landes wurde dadurch von seinen Rohstoff- und Brennstoffquellen abgeschnitten. Im Februar und März erwiesen sich alle Anstrengungen der Regierung, die Massen, die an vielen Orten zu einer spontanen Sozialisierung des Großgrundbesitzes und der Industriebetriebe griffen, im Zaum zu halten, als ungenügend. Im März forderte der Vertreter der Entente in einer besonderen Note die Abtretung weiterer, fast ausschließlich von Ungarn bewohnter Gebiete an Rumänien und an die Tschechoslowakei. Die sowohl dem Wachstum der Revolution als auch der Entente vollkommen machtlos gegenüberstehende Regierung demissionierte, worauf die Sozialdemokraten beschlossen, mit der Kommunistischen Partei, deren Einfluss auf die Arbeitermassen von Tag zu Tag zunahm, ein Abkommen zu treffen. Dieses Einvernehmen wurde am 21. März im Budapester Gefängnis erzielt, wo die verhafteten Führer der Kommunistischen Partei eingekerkert waren. Auf Grund dieses Abkommens wurde noch am gleichen Tage die Diktatur des Proletariats ausgerufen und sofort mit der Organisierung der Rätemacht, mit der Vergesellschaftung der Produktions- und Tauschmittel und mit der Vorbereitung der Verteidigung der ungarischen Räterepublik durch die Schaffung einer revolutionären Roten Armee begonnen. Gleichzeitig wurde – ebenfalls auf Grund der getroffenen Vereinbarung – die vollständige Verschmelzung der Kommunistischen und der Sozialdemokratischen Partei zu einer einheitlichen Sozialistischen (später Sozialistisch-kommunistischen) Partei Ungarns durchgeführt. Die ungarischen Kommunisten begingen durch diese Verschmelzung einen verhängnisvollen Fehler: die proletarische Revolution in Ungarn wurde dadurch im Grunde genommen der Führung durch die proletarische Kommunistische Partei beraubt, den Kommunisten wurden die Hände gebunden. Diese Vereinigung, wie überhaupt das ganze Abkommen mit den Kommunisten, war ein geschicktes Manöver der Sozialdemokraten, darauf berechnet, eine Schwächung und Zersetzung sowohl der Kommunistischen Partei als auch der proletarischen Diktatur, die von den Sozialdemokraten heuchlerisch anerkannt wurde, von innen heraus zu erzielen. Die Sozialdemokraten, die zusammen mit den Kommunisten die führenden Posten in der neu entstandenen ungarischen Räterepublik besetzten, taten so, als ob sie die proletarische Diktatur anerkennen und das Abkommen mit den Kommunisten einhalten würden, verrieten jedoch in Wirklichkeit die Revolution. In diesem Verrat lag auch eine der Hauptursachen des Untergangs der ungarischen Räterepublik. „Eine Reihe von Artikeln in der, Roten Fahne' (Wien), dem Zentralorgan der Kommunistischen Partei Österreichs, hat – wie Lenin sagte – eine der Hauptursachen dieses Untergangs aufgedeckt: den Verrat der ,Sozialisten', die in Worten zu Bela Kun übergingen und sich für Kommunisten erklärten, in der Praxis aber keine der Diktatur des Proletariats entsprechende Politik führten, sondern zauderten, kleinmütig wurden, mit der Bourgeoisie anbändelten, teilweise die proletarische Revolution direkt sabotierten und verrieten. Die imperialistischen Räuber (d. h. die bürgerlichen Regierungen Englands, Frankreichs usw.) mit ihrer ungeheuren Macht, die die ungarische Räterepublik umzingelt hatten, verstanden es natürlich, diese Schwankungen innerhalb der Regierung der ungarischen Rätemacht auszunutzen, und erwürgten sie bestialisch durch die Hände der rumänischen Henker“ (Sämtliche Werke, Bd. XXV, S. 33).

Das zentrale Organ der Rätemacht war der Revolutionäre Regierungsrat, der sich aus den Volkskommissaren – Vertretern der Sozialdemokraten und der Kommunisten – unter Vorsitz des „linken“ Sozialdemokraten A. Garbai zusammensetzte. Der tatsächliche Führer der Räteregierung wurde jedoch Bela Kun, der den Posten des Volkskommissars für auswärtige Angelegenheiten bekleidete. Trotz der Beteiligung der Sozialverräter an der Räteregierung gelang es den Kommunisten in Räteungarn, eine Sozialisierung von sämtlichen großen, mittleren und teilweise sogar von den kleinen Industrie-, Handels-, Bank- und Transportunternehmen und von sämtlichen Kultur- und Heilanstalten durchzuführen, an deren Spitze Sowjetkommissare, größtenteils Arbeiter, gestellt wurden; in den Betrieben wurden Betriebsräte mit weitgehenden Vollmachten organisiert. Eine Reihe von Maßnahmen der Rätemacht sicherte den Werktätigen eine Steigerung des Arbeitslohnes, eine Verbesserung der Wohnverhältnisse und eine Erweiterung der Sozialversicherung. Der Kulturarbeit unter den Massen wurde besondere Aufmerksamkeit gewidmet.

Neben dem schweren Fehler der Preisgabe der Selbständigkeit der Kommunistischen Partei begingen die ungarischen Kommunisten jedoch noch einen anderen äußerst schwerwiegenden Fehler, und zwar in der Bauernfrage. Die Räteregierung erließ am 4. April 1919 ein Dekret über die Sozialisierung aller Besitzungen von mehr als 100 Joch (ca. 57 ha) und über die Übergabe dieses Grund und Bodens an „Produktivgenossenschaften“, die aus den Landarbeitern und Knechten des betreffenden Besitztums organisiert wurden. Die Verwaltung der Produktivgenossenschaften wurde „Produktionskommissaren“ übertragen (diese Kommissare entpuppten sich häufig als frühere Großgrundbesitzer oder Gutsverwalter). Der Landhunger der armen und der Mittelbauern Ungarns wurde auf diese Weise überhaupt nicht gestillt. Dieser Umstand stieß die Bauernmassen von der proletarischen Revolution ab und schuf einen günstigen Boden für den konterrevolutionären Einfluss der Großbauernschaft auf diese bäuerlichen Massen. Die Bauernmassen weigerten sich nicht nur, ihre Lebensmittel gegen das von der Räteregierung herausgegebene Papiergeld zu verkaufen, sondern wurden an einzelnen Orten in offene konterrevolutionäre Aktionen und Aufstände der Großbauern hineingezogen, an deren Spitze gewöhnlich Beamte und Geistliche standen. Die Lebensmittelversorgung der Städte war beinahe vollständig unterbunden, und nur durch äußerste Anstrengungen glückte es, die Industriearbeiter mit den allernotwendigsten Lebensmitteln zu versorgen. Diese Umstände erleichterten der ungarischen Bourgeoisie, den Großgrundbesitzern sowie ihren Helfershelfern – den sozialdemokratischen Gewerkschaftsbonzen und kleinbürgerlichen Intellektuellen – in hohem Maße die Organisierung einer konterrevolutionären Bewegung. Die sozialdemokratischen Bürokraten behielten während der ganzen Zeit des Bestehens der Rätemacht alle ihre leitenden Posten im Partei-, Räte- und vor allem im Gewerkschaftsapparat und verwandelten diesen in den Mittelpunkt der Agitation gegen die Rätemacht. Die lokalen Räte wurden nicht nach dem Produktionsprinzip, sondern nach dem territorialen Prinzip gewählt und konnten daher nicht zu Organen werden, die sich unmittelbar auf die Arbeitermassen in den Betrieben stützten. Der reformistische Gewerkschaftsapparat blieb nach wie vor die einzige Organisation, die eine unmittelbare, gut durchorganisierte Verbindung zu den breiten Massen des Industrieproletariats hatte. Die reformistischen Gewerkschaftsbürokraten nutzten jede Schwierigkeit der proletarischen Revolution und insbesondere die Ernährungsschwierigkeiten für ihre Zwecke aus und bereiteten eifrig die Liquidierung der Diktatur des Proletariats vor. Die Folge davon war, dass der sozialdemokratische „Defätismus“ allmählich unter den Arbeitermassen um sich zu greifen begann, wodurch die Schwächung der Tätigkeit sowohl der Organe der Räteregierung als auch der Roten Armee in hohem Grade begünstigt wurde.

Besonders seit Juni wurde die konterrevolutionäre Bewegung zusehends stärker, als die Konterrevolution außer der Organisierung der Sabotage der kleinbürgerlichen Intellektuellen in den Räteämtern auch zur Organisierung von aktiven bewaffneten Aktionen schritt. So brach am 24. Juni auch in der Hauptstadt Ungarns – in Budapest – ein konterrevolutionärer Aufstand aus. Die Haupttruppe des Aufstandes bildeten Offiziersschüler. Auf der Donau erschienen Monitoren mit weißen Flaggen, die das Rätehaus beschossen. Eins der beiden Fernsprechämter wurde von den Weißen besetzt. Nach blutigen Straßenkämpfen wurde der Aufstand im Zeitraum von 24 Stunden niedergeschlagen. Das ungarische Räteproletariat musste jedoch den Aufbau der Rätemacht und den Beginn der sozialistischen Umgestaltung der Volkswirtschaft nicht nur auf dem verstümmelten Territorium Ungarns und nicht nur in erbittertem Kampf gegen innere Schwierigkeiten und innere Feinde durchführen, sondern auch angesichts einer Offensive von außen – angesichts des Wirtschaftsboykotts und der Intervention, die von der Entente mit Hilfe Rumäniens und der Tschechoslowakei organisiert wurden. Die Offensive der rumänischen und tschechoslowakischen Truppen setzte bereits am 17. April 1919 ein. Die noch vollkommen ungenügend organisierte ungarische Rote Armee konnte dem Ansturm nicht standhalten und trat in vollkommener Zersetzung den Rückzug an. Am 2. Mai 1919 war die Diktatur des Proletariats bereits dem Untergang nahe, doch gelang es dem revolutionären Enthusiasmus der Massen und der Entschlossenheit einzelner revolutionärer kommunistischer Führer, die Lage zu retten. Betriebsarbeiter traten kollektiv in die Reihen der Roten Armee ein Im Laufe weniger Tage erstarkte die Rote Armee und konnte, zuerst unter der Führung des „linken“ Reformisten Wilhelm Böhm und später unter der Führung des aus den Reihen der linken Sozialisten stammenden Revolutionärs Eugen Landler, den vordringenden Feinden, insbesondere der tschechoslowakischen Armee, Schlag auf Schlag versetzen und in unaufhörlichen Kämpfen den größten Teil der Tschechoslowakei besetzen, wo eine Slowakische Räterepublik gegründet wurde. Clemenceau, das Oberhaupt der französischen Regierung, forderte im Namen der Entente von der ungarischen Räterepublik die Einstellung der Kriegsoperationen und die Räumung der Slowakei und versprach dafür die Räumung des von den Rumänen besetzten ungarischen Territoriums. Nach einer langen Beratung über diesen Vorschlag auf dem Rätekongress gab die Räteregierung ihr Einverständnis zur Räumung der von der Roten Armee besetzten Gebiete. Wie jedoch zu erwarten war, wurde die Räteregierung von der Entente betrogen: nach der Räumung der Slowakei wurden die ungarischen Gebiete jenseits der Theiß, trotz des von Clemenceau gegebenen Versprechens, von den rumänischen Truppen nicht freigegeben Darauf ging die Rote Armee am 20. Juli zum Angriff über, dessen Plan der Entente jedoch durch den Verrat ehemaliger Offiziere bereits lange vorher bekannt war. Die Offensive endete mit der Zertrümmerung der Roten Armee. Angesichts der Niederlage der Roten Armee, der durch die Wirtschaftsblockade äußerst verschärften Ernährungsschwierigkeiten, der konterrevolutionären Bewegung im Innern des Landes, des offenen Verrats der Sozialdemokraten, die mit der Entente unmittelbare Verhandlungen über die Liquidierung der Rätemacht anknüpften, schließlich angesichts der feindlichen Haltung der bäuerlichen Massen beschloss die Räteregierung am 1. August, zu kapitulieren und die Macht einer „Gewerkschaftsregierung“ aus sozialdemokratischen Gewerkschaftsbürokraten zu übergeben, die sofort das kapitalistische Privateigentum und den bürgerlichen Staatsapparat wiederherstellte. Nach einigen Tagen wurde diese Regierung von der Bourgeoisie gestürzt.

Die ungarische proletarische Revolution zeitigte trotz allen ihren schweren Fehlern äußerst wichtige positive Ergebnisse. Sie vereitelte die für das Frühjahr 1919 geplante große Kriegsaktion der Entente gegen Sowjetrussland, indem sie die dazu bestimmten Kräfte Rumäniens und Frankreichs in Anspruch nahm. Sie legte Zeugnis ab vom revolutionären Heldentum und von der schöpferischen Kraft der Arbeiterklasse und erbrachte den Beweis, dass bereits in den Verhältnissen des Jahres 1919 in den mitteleuropäischen Ländern die proletarische Revolution und die proletarische Diktatur möglich waren. Dadurch, dass sie – wenn auch nur auf kurze Zeit – das tausendjährige Joch der herrschenden Klassen Ungarns abschüttelte, schuf sie revolutionäre Traditionen, die eine gewaltige Triebkraft der kommenden zweiten ungarischen proletarischen Revolution sind. Die Lehren der proletarischen Diktatur in Ungarn bilden eine wertvolle Bereicherung des ideologischen und politischen Rüstzeugs des revolutionären Proletariats der ganzen Welt. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 8]

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