II. Der generalisierte Sympathiestreik

II. Der generalisierte Sympathiestreik

Der „generalisierte Streik“ ist die aus dem Französischen stammende Benennung für den Streik, der in einem Ort oder einer Gegend von einem Gewerbe ins andre hinüber greift, bis er eine ganze Reihe oder auch alle Berufszweige umfasst. Am häufigsten kommt er vor als Sympathie- oder Solidaritätsstreik. Es stehen die Arbeiter eines Gewerbes im Kampfe. Von denen eines andern, verwandten Erwerbszweigs werden Streikbrecher- oder andre Dienste gefordert, die die Stellung der Streikenden gefährden können: sie lehnen ab, werden ausgesperrt oder schließen sich ihrerseits dem Kampfe an. Oder es werden während eines Streiks gewisse Arbeiten von Arbeitswilligen ausgeführt; dann erklären die Arbeiter eines andern Gewerbes dieses Werk für „unrein“A und weigern sich, ihre Berufsarbeit daran zu verrichten. Haben zum Beispiel arbeitswillige Maurer die Maurerarbeit an einem Gebäude fertig gestellt, so verweigern die Zimmerleute die ihrige usw. Oder auch mit dem Streik steht es schlecht, die Kämpfenden verlieren den Mut und es droht der Zusammenbruch; die Führer hoffen, durch Ausdehnung des Streiks auf andre Gewerbe den sinkenden Mut wieder zu beleben, oder durch den Druck der öffentlichen Meinung die Orts- oder staatlichen Behörden zum Eingreifen zu bringen. Da wenden sich die Streikenden an ihre Kameraden andrer Erwerbszweige und erbitten von diesen „moralische Hilfe“.

So kann jeder Streik sich über Nacht zu einem gesellschaftlich wichtigen Ereignis erweitern; plötzlich um sich greifen wie ein reißendes Feuer. Ein Streik dieser Art war der „Generalstreik“ von 1902 zu Barcelona. Er entstand aus der Verabredung einiger spanischer Gewerkschaften, unter gewissen Umständen jeden Streik in einem Erwerbszweige auf alle andern Gewerbe zu generalisieren. Als infolge dieses Vertrags die Metallarbeiter nach einigen Wochen des Kampfes die Solidarität ihrer Mitarbeiter anriefen, stand in Barcelona die gesamte Produktion auf einige Tage still.

Der erste Streik der holländischen Eisenbahner im Januar 1903 ist ein Beispiel von der unerwarteten Ausdehnung, die der Sympathiestreik annehmen kann und von seinen bedeutenden gesellschaftlichen Folgen. Wie ein elektrischer Strom durchlief das Gefühl der Klassensolidarität auf einmal das ganze Eisenbahn-Proletariat; eine heroische Kampfesstimmung durchzog es. Die Bourgeoisie geriet auf einen Augenblick außer sich vor Staunen und feiger Angst; die Direktionen der Eisenbahngesellschaften, sowie die Regierung, verloren den Kopf, die Machtmittel des Staates waren während einiger Tage vollkommen desorganisiert, die Regierung stand ratlos. Aber die herrschenden Klassen fassten sich schnell; ein reaktionärer Sturm erhob sich in der Presse und ermutigte die Regierung zu Maßregeln des Zwanges und der Unterdrückung; die Arbeiter wurden in die Defensive gedrängt und zu dem Verzweiflungsstreik vom 5. bis 10. April gegen die Einschränkung des Koalitionsrechtes gehetzt. Und dies alles, diese Periode des Klassenkampfes, so heftig wie er nie zuvor in Holland zwischen Proletariat und Bourgeoisie getobt, hatte seinen Ursprung in einem partiellen Streik der Hafenarbeiter wegen der Frage des Zusammenwirkens mit Nichtorganisierten. Im Verlauf dieses Kampfes weigerten sich einige Eisenbahnarbeiter, Güterwagen zu rangieren, deren Inhalt von Streikbrechern aus den Schiffen befördert, also „unrein“ war. sie wurden entlassen, und der Eisenbahnerstreik war da.

Man sieht, wie der Sympathiestreik, der auf der elementaren Kraft im Proletariat, auf dem Gefühl der Klassensolidarität beruht, zu jeder Zeit wirkliche gesellschaftliche Explosionen hervorbringen, das öffentliche Leben beträchtlich erschüttern kann.

Das Gegenstück des lokalen, generalisierten Sympathiestreiks wäre die internationale Ausdehnung des Streiks eines Gewerbes. Diese Art des Streiks ist bis jetzt äußerst selten. Hie und da haben Hafenarbeiter sich geweigert, Schiffe, die aus einem vom Streik befallenen Hafen kamen oder für einen solchen bestimmt waren, ein- und auszuladen; Bergarbeiter Überstunden zu machen, damit ein Streik ausländischer Kameraden nicht benachteiligt würde. Und im März-Juni des vorigen Jahres fand in Amsterdam und Antwerpen der große Kampf der Diamantarbeiter statt, der, wenngleich er in Amsterdam die Form einer Aussperrung und in Antwerpen die eines Streiks annahm, doch auf internationaler Verabredung beruhte. Das ist fast alles.B Aber die internationale Zusammenschließung der Arbeiter eines Erwerbszweigs, wie diese in den letzten Jahren stattfand bei Zigarren-, Textil-, Hafenarbeitern und andern, deutet an, dass es ohne Zweifel zu internationalen Streiks eines Gewerbes kommen wird. Für gewisse Kategorien von Arbeitern, zum Beispiel für die Hafen- und Bergarbeiter, dürften sich diese schon in nicht ferner Zeit notwendig erweisen.

Es besteht ein tiefer Unterschied zwischen den Bedingungen, woraus der lokal-generalisierte Streik, und denen, woraus der international-ausgedehnte eines Gewerbes hervorgehen kann. Der lokal-generalisierte Sympathiestreik entsteht aus einer augenblicklichen Stimmung. Die Arbeiter werden fortgerissen von dem Anblick, von den beredten Worten ihrer streikenden Kameraden. In der Erregung, in die sie die unmittelbare Einwirkung der Kampfesatmosphäre versetzt, eilen sie den Kämpfenden zu Hilfe. Die Charaktereigenschaften der romanischen Völker, ihr leicht erregbares Naturell, ihr aufwallendes Temperament, machen die Franzosen, Italiener und Spanier mehr geneigt, den generalisierten Streik als ökonomisches Kampfmittel zu gebrauchen wie die nordischen Völker. Es können aber auch andre Umstände, zum Beispiel politische Rechtlosigkeit oder anti-politische Gesinnung des Proletariats, den Boden für diese Art des Streiks abgeben. Der erste Fall liefert die Grundlage der großen generalisierten Streikbewegungen in Russland, worauf wir noch zu sprechen kommen und die dem russischen Proletariat als einzig mögliches Demonstrationsmittel der Unzufriedenheit mit den ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen dienten.

Ganz andre wie die des lokalen Sympathiestreiks sind die Bedingungen des internationalen Streiks eines Gewerbes. Es fehlt da die erregende Kampfesatmosphäre von einem Handeln unter einem unmittelbaren sinnlichen Eindruck ist keine Rede. Die Schranken der Sprache, der Nationalität, der Entfernung wirken eher hemmend. Unbekannte, Fremde sind es, für die man in einen immer unsicheren Kampf sich wagen, seine Existenz aufs Spiel setzen soll. Da erweist sich das Klassengefühl als ungenügend, nur ein klares und äußerst entwickeltes Klassenbewusstsein kann solche Opfer bringen. Der internationale Streik fordert eine viel größere Schulung und festere Organisation der Massen wie der lokal-generalisierte, eine Schulung und Organisation, die zurzeit international noch nicht genügend bestehen. Er fordert, dass die Klassensolidarität in den Massen von einer ab und zu heftig auflodernden Flamme zu einer beständig leuchtenden Glut geworden sei.

Von erfahrenen Gewerkschaftsführern ist oft über den generalisierten Sympathiestreik der Stab gebrochen worden. Und dies deswegen, weil seine Wirkungen für die gewerkschaftliche Organisation fast immer ungünstig gewesen sind. Diese Spielart des Generalstreiks (das Wort als Sammelausdruck genommen) meint Genosse Greulich wohl, wenn er in der Enquete des Mouvement Socialiste den Generalstreik in folgenden Worten verurteilt:

Alle Versuche zum Generalstreik sind bis jetzt erfolglos verlaufen; sie haben den Arbeitern selbst geschadet, mühevoll errichtete Organisationen zerstört und die Arbeiter also gezwungen, diese von neuem zu errichten. Kräftevergeudung! Es ist leicht zu beweisen, dass wo der Generalstreik gepredigt wird, die Gewerkschaftsorganisation sehr rückständig ist. An den Früchten kennt man den Baum! Wo die Gewerkschaften eine gewisse Macht und Lebenskraft erlangt haben, urteilen die Arbeiter, der Generalstreik sei eine Utopie.“

Genosse Greulich spricht hier ausdrücklich von Versuchen zum Generalstreik, die fehlgeschlagen sind, Den allgemeinen, absoluten Generalstreik kann er also nicht meinen, da dieser nicht versucht wurde, ebenso wenig die eine Gegend oder ein ganzes Land umfassenden Streiks eines Gewerbes, da diese bisweilen guten Erfolg gehabt haben. Er meint hier also offenbar den generalisierten Solidaritätsstreik. Und dabei hat er ohne Zweifel zum großen Teil Recht.

Warum aber verlaufen dergleichen Streiks fast immer erfolglos und zeitigen alle die üblen Früchte, die Genosse Greulich ihnen vorwirft? Das wird eine weitere Analyse uns zeigen.

Der Solidaritätsstreik ist ein Symptom von Klassengefühl, das heißt von sozialistischer Gesinnung, denn nur der Sozialismus lehrt die Arbeiter, sich als Einheit, als Klasse zu fühlen. Damit ein Solidaritätsstreik zustande kommen kann, muss dies Gefühl in den Arbeitern schon tiefe Wurzeln gefasst und alle kleinliche Borniertheit, zünftigen Egoismus usw. vernichtet haben. Darum ist der Solidaritätsstreik vor allem andern ein erfreuliches Zeichen von der wachsenden Kraft des sozialistischen Empfindens im Proletariat, und eben darum ist er der Bourgeoisie aufs tiefste verhasst. Einen Streik für bessere Arbeitsbedingungen kann der Bourgeois noch begreifen, kann ihm sogar mitunter noch sympathisch gegenüberstehen. Aber die Arbeit einstellen, die Gesellschaft in Unordnung, die Produktion ins Stocken bringen, nicht des eigenen Gewinns wegen, sondern aus reinem Mitgefühl:C das kann er nicht fassen, es widerstrebt zu sehr seinem eingewurzelten Individualismus. Für einen solchen „frivolen“ Streik hat er nur Wut, wenn die Streikenden stark; wenn sie schwach sind, nur Hohn übrig: er erscheint ihm als ein halb lächerliches, halb abscheuliches Beginnen.

Aber die von jedem Sozialdemokraten geteilte Überzeugung, dass das Solidaritätsgefühl die Grundlage der proletarisch-sozialistischen Moral und den Arbeitern unentbehrlich sei, ist nicht etwa gleichbedeutend mit einer Auffassung, die nur das Solidaritätsgefühl für alle Taten des Proletariats bestimmend, sozusagen zu seinem einzigen Leitstern machen will. Wohl ist das Solidaritätsgefühl ein heller Stern am proletarischen Himmel, aber das Proletariat hat noch andre Gestirne, zu denen es aufblickt. Die schönsten Gefühle werden, wie dem Menschen so der Klasse gefährlich, wenn sie unbedingt befolgt, übermäßig angewendet werden. Das Proletariat hat nicht nur den Geboten der Solidarität zu gehorchen und zu folgen, sondern auch denen der Vorsicht, der Klugheit usw. Vernunft und Erfahrung lehren den Arbeiter, dass er nur solidarisch, gemeinsam mit andern, sich aus Unterdrückung und Erniedrigung zu erheben vermag; Vernunft und Erfahrung sollen ihm aber auch sagen, dass er das Solidaritätsprinzip nicht immer uneingeschränkt durchführen kann und wann es einzuschränken ratsam sei.

Der Proletarier, der aus Solidarität mit Mitarbeitern eines andern Gewerbes in einem Falle ablehnt, an einem „unreinen“ Werke zu arbeiten, glaubt bestimmt, gut zu handeln. Aber er horcht nur auf die Stimme der Solidarität und vergisst darüber alles andre: Er fragt nicht nach der Konjunktur in seinem Gewerbe, nicht nach der Stärke der Gewerkschaft und der der Unternehmerorganisation, nicht nach den Aussichten des Kampfes überhaupt. Er lässt sich ausschließlich von einer Empfindung fortreißen: dies sein Fehler.

Es ist klar, dass eine Arbeiterschaft, bei der sich schon die Empfindung der Klassensolidarität herausgebildet hat, die aber noch nicht zu großer Klarheit der Anschauungen gelangt ist und noch nicht im Lauf des Emanzipationskampfes gelernt hat, ihrer Gefühle Herr zu bleiben, am ehesten zum Solidaritätsstreik neigen wird.

Ein andres Moment, das diesen begünstigt und sich oft zu der oben skizzierten seelischen Verfassung gesellt, ist das Fehlen von starken gewerkschaftlichen Organisationen. Solche Gewerkschaften werden immer abgeneigt sein, am Solidaritätsstreik, der sich leicht zu einer Kraftprobe zwischen Unternehmern und Arbeitern gestaltet, teilzunehmen: es steht für sie zu viel auf dem Spiele. Dabei wird eine starke gewerkschaftliche Organisation nicht leicht in die Lage kommen, an das Mitgefühl der Arbeiterwelt in dieser Form zu appellieren. Es sind fast immer schwache Gewerkschaften, die andre Gewerbe in ihren Kampf mit den Unternehmern mitzureißen versuchen, sei es, weil Streikbrecher in den eigenen Reihen den Sieg gefährden oder der Masse der Kämpfenden der Mut auszugehen droht und sie etwas Neues, Aufregendes braucht, um fest zu bleiben, oder auch, weil die lokale Verallgemeinerung des Streiks mit seinen Folgen von Unbequemlichkeit, Unordnung usw. das letzte Mittel zu sein scheint, durch einen Druck auf die öffentliche Meinung die Unternehmer zum Nachgeben zu zwingen.

Starke, wohl geleitete und gut gefestigte Gewerkschaften werden meistens, wenn der Ausgang eines Kampfes gefährdet ist, diesen zur rechten Zeit abbrechen können, ohne dass die Organisation darunter leidet, und sobald die Verhältnisse günstiger sind, von neuem anfangen. Für diese Taktik ist Crimmitschau ein leuchtendes Beispiel. Schwache, weniger fest gefügte Organisationen dagegen werden versuchen, den Sieg, der ihnen zu entschlüpfen droht, noch mit sozusagen künstlichen Mitteln zu erhaschen, weil eine Niederlage nur zu oft die Zerschmetterung der Organisation bedeutet. Sie werden zum Beispiel versuchen, den Unternehmern die Rohmaterialien zu entziehen, damit die Streikbrecher nicht weiter arbeiten können, oder es ihnen unmöglich machen, die Produkte fortzuschaffen. Oder, wenn sehr viel auf dem Spiele steht, werden sie in Verzweiflung sogar versuchen, das ganze ökonomische Leben der Stadt oder des Landes in Unordnung zu bringen. So forderte, als der verlorene Streik der französischen Bergarbeiter im Jahre 1902 sich seinem Ende näherte, das Streikkomitee in der letzten Stunde alle Gewerkschaften Frankreichs vergebens zum Solidaritätsstreik auf.

Praktisch ist der Solidaritätsstreik nur zu oft der Versuch eines Schwachen, sich an einem andern, ebenso Schwachen zu halten. Ein Versuch, bestimmt zu misslingen. Wo der Sympathiestreik, wie in Frankreich, in die Sitten des Proletariats übergegangen ist, wird es wenig Schwierigkeiten machen, die Arbeiter in den Kampf mitzureißen; ein Appell an ihre Solidarität, ihre Klassenehre wird oft genügen. Aber es wird schwer sein, sie lange im Kampfe zu halten. Wenn einige Zeit vergeht, ohne den Sieg in greifbare Nähe zu bringen, wird die Flut des exaltierten Solidaritätsgefühls leicht wieder zu Ebbe. Es fehlen klar und scharf gefasste Forderungen, die die Streikenden dauernd für den Kampf begeistern, oder, wo solche gestellt wurden, ist ihre Durchsetzung ziemlich aussichtslos. Denn dies ist ein unumgänglicher Nachteil des generalisierten Streiks: die günstige Zeit, spezielle Forderungen durchzusetzen, ist fast nie dieselbe für die verschiedenen Erwerbszweige; es ist also von vornherein fast ausgeschlossen, dass alle mit streikenden Gewerbe gewinnen.

In solcher Lage kann nur die durch Übung und Schulung gewonnene feste Disziplin die Kämpfenden aufrecht erhalten. Sie bildet für jeden einzelnen eine Schutzwehr gegen Mutlosigkeit und Schwäche. Fehlt diese Disziplin, so wird oft der Streik, der unerwartet lawinenartig anwuchs, ebenso unerwartet zusammenbrechen. Wie drohend er aussah, es war kein Mark, keine gesunde Kraft in ihm, innerlich war er hohl und siech. Der Schwache, der sich mit Hilfe andrer auf den. Beinen zu halten hoffte, reißt diese mit in seinen Fall.

Dies ist die Geschichte zahlreicher generalisierter Streiks der letzten Jahre. Wo sie das Unternehmertum überraschen, haben sie manchmal einen zeitlichen Erfolg. Oft aber rächt sich das Unternehmertum für die erlittene Niederlage, indem es zum Kampfe rüstet, durch Lohnkürzung oder auf anderem Wege einen neuen Ausbruch der Empörung bei den Arbeitern provoziert und schließlich den Sieg davon trägt. Denn eine gelungene Überrumpelung ist nicht entscheidend für das Stärkeverhältnis zwischen Unternehmern und Arbeitern.

Aber auch diesen unsicheren Erfolg erringen die Solidaritätsstreiks verschiedener Gewerbe im Allgemeinen nur auf ganz kurze Dauer. Währen sie länger, so enden sie gewöhnlich mit einer Katastrophe. Es gelingt den Arbeitern nicht, ihre Forderungen durchzusetzen, und, was schlimmer ist, die Organisation wird schwer geschädigt oder zerstört.

Also die Schwäche der gewerkschaftlichen Organisation ist eine Wurzel des generalisierten Streiks. Aber er hat noch eine andre: die antiparlamentarische Gesinnung einer schon sozialistisch empfindenden, aber noch nicht sozialdemokratisch bewussten Arbeiterschaft. Mit der Abneigung gegen den Parlamentarismus verbindet sich notwendigerweise die Überzeugung von der Überflüssigkeit der politischen Arbeiterpartei. Bei Arbeitern, die nicht mehr bürgerlich denken, nicht mehr an die Unveränderlichkeit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung glauben, sondern diese durch den Sozialismus ersetzen wollen, und die doch der Sozialdemokratie, dem politischen Kampfe abgeneigt sind, muss sich die Anschauung bilden, die Gewerkschaften seien dazu da, den Kampf gegen den Kapitalismus in seinem ganzen Umfange zu führen. Es muss somit das Wesen der gewerkschaftlichen Organisation verkannt werden, die, im Gegensatz zu der politischen, nicht die Zusammengehörigkeit der Klasse, sondern die weit beschränktere des Gewerbes zur Grundlage, und den Kampf gegen besondere Kapitalisten oder Gruppen von Kapitalisten zur Aufgabe hat.

Ihrem Wesen nach ist die politische Organisation der Arbeiter, die Sozialdemokratie, die Trägerin der weitesten, allgemeinen Klassensolidarität. Ihr Programm bringt die gemeinsamen Interessen aller Proletarier zum Ausdruck. Die antiparlamentarischen revolutionären Gewerkschaften erkennen zwar das allgemeine proletarische Klasseninteresse an, aber nicht seine Trägerin, die politische Arbeiterpartei. Sie müssen also andre Bahnen suchen, ihre Klassensolidarität zu betätigen. Durch ihre mangelhafte politische Einsicht müssen sie die Gewerkschaft zur einzigen Trägerin der Klassensolidarität erheben, ihr eine Arbeit aufbürden, die nicht in ihrem Wesen liegt: Kämpferin für die allgemeinen proletarischen Interessen zu sein. Im Sympathiestreik sehen die revolutionären antiparlamentarischen Gewerkschaften das Mittel, die allgemeine Klassenaktion durch die Gewerkschaft zu führen; er wird bei ihnen zum System. Er soll die beste Waffe sein nicht nur im ökonomischen Kampfe gegen die Unternehmer, sondern auch gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung. Gesellt sich dazu der Glaube, den Unternehmern am leichtesten durch Überraschung, durch einen glücklichen Putsch Zugeständnisse abzwingen zu können, ohne dass eine langjährige Aufklärungs- und Organisationsarbeit notwendig sei, so ist der revolutionäre Antiparlamentarismus fertig. In seinen Konsequenzen führt er regelrecht zum Glauben an den allmächtigen, universalen Generalstreik, dessen Gedanke nur die Ausdehnung des generalisierten Sympathiestreiks ins Maßlose, Überschwängliche ist. In der revolutionäre antiparlamentarischen und anarchistischen Auffassung erscheint der Sympathiestreik als der Johannes dieses Heilands, als sein Einübungsmittel und seine Generalprobe.

Mangel an Klarheit der Anschauungen, an Beherrschung der Gefühle; schwache Gewerkschaften; antiparlamentarischer Sozialismus: da haben wir den Nährboden des generalisierten Streiks. Er hängt also zusammen mit dem Entwicklungsgrade des Proletariats, mit dem Reifegrade seiner Denkweise, seiner gewerkschaftlichen Institutionen und seines politischen Bewusstseins. Aber es ist bei seiner Betrachtung noch andres zu beachten: nämlich die gesellschaftlichen Bedingungen des proletarischen Kampfes. In gewissen Verhältnissen ist der Ausbruch und das rasche Umsichgreifen eines Streiks, sei er noch so unklar und chaotisch, ein überaus erfreuliches Zeichen proletarischen Erwachens. Es ist dies der Fall in Ländern, wo das Proletariat keine politischen Rechte besitzt, also keine legalen Organisationen gründen kann. Da kann der generalisierte Streik, besonders in industriellen Gegenden, wo er der überraschten Regierung unerwartet große Menschenmassen gegenüberstellt, ausgezeichnet wirken, um das Proletariat aufzurütteln, es seine eigene Kraft erkennen zu lernen und mit revolutionärer Energie, Mut und Zuversicht zu erfüllen. Dieser Art waren die generalisierten Streiks, die im Sommer 1903 in Südrussland zum Ausbruch kamen und Hunderttausende Arbeiter umfassten. Sie wurden von den verschiedenen Fraktionen des russischen Sozialismus freudig begrüßt als Zeichen eines beginnenden Erwachens. Der russische Sozialismus tat sein möglichstes, dieser riesenhaften Bewegung Zusammenhang und ein Ziel zu geben und den Kampfesmut der Arbeiter gegen die Urheber ihrer politischen Rechtlosigkeit zu lenken, Die verschiedenen sozialistischen Organisationen schickten Redner zu den Versammlungen, verteilten Tausende Flugblätter unter den Streikenden usw. Diese mächtige Streikbewegung mit halb ökonomischem, halb politischem Charakter bildete sozusagen das Vorspiel der russischen Revolution; sie war die erste Welle der stürmischen Fluten, womit das russische Proletariat heute, nach anderthalb Jahren scheinbarer Ruhe, auf die politische Knechtschaft und die kapitalistische Ausbeutung eindringt.

Im schroffen Gegensatz zu dieser Haltung des russischen Sozialismus steht die, welche unsre spanische Bruderpartei bei den häufigen generalisierten Streiks in ihrem Lande annahm. Mit einer einzigen Ausnahme – beim Streik der Minenarbeiter in Bilbao – hielt sie sich immer frei von jeder Ermunterung oder Beteiligung an solchen Streiks, und widersetzte sich ihnen so lange als möglich. Sie ging dabei von der Erwägung aus, dass die Art, wie der gewerkschaftliche Kampf von den Anarchisten missbraucht wurde, um Kollisionen mit der öffentlichen Gewalt herbeizuführen, dem Proletariat zahlreiche Opfer kostete, seine gewerkschaftlichen Organisationen schwächte, seine politische Freiheit gefährdete, und dies alles ohne jeden Nutzen. „Sobald ein Streik ausbrach“, berichtet Iglesias in der Enquete des Mouvement Socialiste, „in einer Stadt oder einer Gegend, wo die Anarchisten eine gewisse Macht besaßen, – ein Streik um irgend eine Besserung der Arbeitsbedingungen, da wussten sie es so anzufangen, dass bald ein Zusammenstoß zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten stattfand; sie hofften immer, dass aus diesem Zusammenstoß der Funke hervorgehen würde, der die soziale Revolution entfessele. Dies haben sie immer und allezeit ausgesprochen in den Flugblättern, die sie in solchen Fällen veröffentlichten, und es ist dieser Taktik wegen, dass sie sich bemüht haben, jeden Streik von einem Gewerbe, sogar von einer einzigen Fabrik oder Werkstätte, in einen Generalstreik zu verwandeln. Sie haben sich öffentlich jeder Vereinbarung, sogar jeder Unterhandlung widersetzt; sie haben fortwährend gegen die Streik- und Vereinskassen agitiert. Sie wollen einfach die Arbeiter zur Verzweiflung treiben, damit diese durch den Hunger und die Weigerung der Unternehmer, auf alle ihre Wünsche einzugehen, zu gewalttätigen Mitteln greifen.“

Der generalisierte Streik hat also eine andre Bedeutung, je nach dem Lande, der Reife der Arbeiterschaft und dem Entwicklungsgrad der sozialen und politischen Verhältnisse. Er kann die sympathische, obgleich nicht kluge Manifestation sozialistischer Gesinnung einer politisch wie intellektuell noch unklaren Arbeiterschaft sein; oder das erste Erwachen unterdrückter und rechtloser Massen, der Sturmvogel der Revolution, oder auch bloßer Vorwand zu Kollisionen mit der öffentlichen Gewalt, zu hirnlosen anarchistischen Abenteuern.

Was er aber auch sei, immer ist er eine Waffe, die nur ausnahmsweise im proletarischen Emanzipationskampf verwendet werden kann. Seine regelmäßige, systematische Anwendung, wie sie die logische Konsequenz des Begriffs des „unreinen“ Werkes ist, würde das wirtschaftliche Leben unvermeidlich erschüttern. Vom systematisch angewendeten generalisierten Solidaritätsstreik gilt, was mit Unrecht vom politischen Massenstreik, wie der belgische oder italienische, behauptet wird, „dass er jede Existenz, am ersten die des Proletariats, unmöglich machen würde“.

Im Zusammenhang mit dem generalisierten Streik ist aber noch ein letzter Punkt zu untersuchen: der nämlich, wie es sich verhält mit dem von manchen Gewerkschaftsführern behaupteten Vorzuge der so klein, so partiell wie möglich gehaltenen Streiks. Ist es wirklich unter allen Umständen taktisch wünschenswert, jeden Streik so partiell als möglich zu halten, so wäre damit natürlich über den generalisierten, wie über jeden ökonomischen und politischen Massenstreik der Stab gebrochen.

Die Überzeugung vom taktischen Vorzug des partiell geführten Streiks hat in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren besonders in den Ländern, wo starke Arbeiter- wie Unternehmerorganisationen bestehen, sehr zugenommen. Sie hat ihre guten Gründe in der Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie entstand durch die Beobachtung der Tatsache, dass viele Massenstreiks, obwohl gut organisiert und von starken Gewerkschaften geführt, verloren gingen. Da versuchten es die Arbeiter mit dem partiellen Streik … der oft von den Unternehmern mit der allgemeinen Aussperrung beantwortet wurde.

Das Bevorzugen des partiellen Streiks ist eine notwendige Änderung der gewerkschaftlichen Taktik nach dem Aufkommen und Erstarken der Unternehmerverbände. Solange die Unternehmer nicht oder schwach organisiert waren, war der Massenstreik eines Erwerbszweigs, bei genügender Organisation der Arbeiter und soweit günstiger Verhältnisse, oft der kürzeste Weg zum Erfolg. Die ökonomisch schwächeren unter den Unternehmern mussten nach einiger Zeit nachgeben, die Arbeit wurde bei ihnen wieder aufgenommen, und unter dem Druck der Konkurrenz fügten sich die andern ebenfalls. Sind aber die Unternehmer in starken Verbänden organisiert, unterstützen die starken die schwächeren bei Streik oder Aussperrung, so wird der Massenstreik nicht in jedem, aber doch in manchem Gewerbe, ein sehr waghalsiges Unternehmen. Da sind die Chancen einer großen Zahl nacheinander geführter und so partiell als möglich gehaltener Kämpfe oft weit bessere, weil diese Taktik der Masse der Gewerkschaftsmitglieder ermöglicht, für die Kriegskasse zu steuern. Der Streik schrumpft zusammen im Raume, im Nebeneinander, um sich in der Zeit, im Nacheinander auszudehnen.

Aber nicht immer. Es gibt Erwerbszweige, in denen die Unternehmer den partiellen Streik wenig, den Massenstreik unter Umständen sehr fürchten. Dies ist zum Beispiel der Fall im Bergbau, im Transportgewerbe usw. Selbstverständlich nur, wenn die Fortsetzung der Produktion im Augenblick des Streiks vorteilhaft für die Unternehmer ist, also bei guter Konjunktur. Die Beantwortung der Frage: was ist besser, partieller oder Massenstreik, hängt also nicht nur von der wirtschaftlichen Stärke und Organisation der Unternehmer, sondern auch von der Art des Erwerbszweigs und den sonstigen wirtschaftlichen Umständen ab.

Gewiss bringt die gesellschaftliche Entwicklung Tendenzen hervor, die Streiks zu lokalisieren und zu beschränken. Aber diese Tendenzen werden wieder von andern durchkreuzt. Es ist ja unleugbar, dass die Ausdehnung der Streiks im allgemeinen nicht ab-, sondern zunimmt. Die Ursachen sind die Ausdehnung der Großindustrie, die immer größere Arbeitermassen zusammenbringt, sowie das Erwachen dieser Massen, die zwar noch nicht von den gewerkschaftlichen und politischen Organisationen absorbiert sind, aber doch in den Klassenkampf hineingezogen werden.

Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass die gesellschaftliche Entwicklung den partiellen Streik zur allein üblichen und besten Methode im wirtschaftlichen Kampfe machen wird. Der Massenstreik ist keine veraltete, untauglich gewordene Waffe, die in die Rumpelkammer der proletarischen Kampfmittel gehört. Mit der Entwicklung des Klassenkampfes wachsen die Organisationen der Arbeiter wie der Unternehmer an Kraft und Umfang; für beide Parteien wird die Schlacht eine immer ernstere Sache, weil sie droht, einer von beiden verhängnisvoll zu werden, weil beide unendlich mehr zu verlieren haben als früher. Beide Parteien suchen also eine Entscheidung solange als möglich hinauszuschieben, kommt es aber einmal zur Schlacht, so wird sie viel hartnäckiger als früher geführt; bisweilen bis zur völligen Erschöpfung. Es liegt also auch in der Entwicklung, die Zahl der Kollisionen ab-, aber ihren Umfang und ihre Dauer zunehmen zu lassen.

Aus der Betrachtung dieser sich kreuzenden Tendenzen folgt, dass in Zukunft sowohl der partielle wie der Massenstreik zur Anwendung kommen wird. Beide sind je nach Lage und Umständen dem Proletariat vorteilhafter; keiner von beiden weist vor dem andern innerliche, immer gültige Vorzüge auf. Dies aber lässt sich mit Wahrscheinlichkeit behaupten: je mehr die proletarische Masse eines Landes von den gewerkschaftlichen und politischen Organisationen aufgesogen wird, desto mehr werden die oft unförmlichen generalisierten Streiks, diese wirren Knäuel von durcheinander Kämpfenden, abnehmen. An ihre Stelle werden sowohl beschränkte Streiks wie auch ausgedehnte Massenstreiks treten, je nach Umständen, aber deren scharfe Begrenzung wird ein Teil ihrer sorgfältigen Organisierung sein.

A Dies der an die Gesellenkämpfe des Mittelalters mahnende Ausdruck, womit die holländischen antiparlamentarischen revolutionären Gewerkschaften, die den Solidaritätsstreik besonders bevorzugen, das von Arbeitswilligen berührte Werk bezeichnen.

B So hat auch der große Streik der Bergarbeiter im Ruhrgebiet Anlass zu einem Streik der belgischen Kohlenarbeiter, dem der Solidaritätsgedanke nicht fremd war, gegeben.

C Es ist damit nicht gesagt, dass die aus Solidarität Mitstreikenden nicht auch eigene Forderungen steilen können, sondern nur ausgesprochen, dass die Solidarität bei ihnen Hauptmotiv war, in den Streik zu gehen. Die Klassensolidarität des Proletariats beruht ja allgemein auf Unzufriedenheit mit der eigenen Lage, nicht in einer Ideologie hat sie ihre Wurzel, sondern in der alltäglichen Wirklichkeit.

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