V. Der politische Massenstreik I. Die Tatsachen des politischen Massenstreiks Die Arbeiterklasse leidet ebenso sehr an politischer Unterdrückung wie an ökonomischer Ausbeutung. Sie hat politische Rechte notwendig wie die Luft zum Atmen. Sei es, um sich Raum für den gewerkschaftlichen Kampf zu erobern, der ohne Koalitionsrecht, Streikrecht, Presse- und Redefreiheit nicht geführt werden kann. Sei es, um den Staat auf den Weg der Sozialgesetzgebung zu zwingen, die allein die Elendsten der Proletarier zu dem Punkte zu erheben vermag, da sie mit dem Willen und der Kraft zum Klassenkampf erfüllt werden. Das einzige Mittel, mit dem das Proletariat im modernen Staate direkt und unaufhaltsam politischen Einfluss ausüben kann, ist das Wahlrecht. Deswegen ist es das wichtigste Recht, der Schlüssel aller andern Rechte und Freiheiten und dem Proletariat für seinen weiteren Fortschritt in der kapitalistischen Gesellschaft unentbehrlich. Die Forderung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts ist deshalb die politische Grundforderung des Proletariats. Sie wird in allen Ländern erhoben, wo das Proletariat anfängt, zum Bewusstsein seiner Klassenlage zu kommen und sich gegen Ausbeutung und Unterdrückung zu widersetzen. In der Gegenwart erscheint die Idee des allgemeinen Wahlrechts eng verknüpft mit der sozialdemokratischen Bewegung in Deutschland; der Kampf für das Wahlrecht erschien Lassalle das am besten geeignete Mittel, die Arbeiter zu erwecken und zu organisieren; in Belgien, Österreich-Ungarn, Holland, Schweden, Russland: überall ist es die Sozialdemokratie, welche die Arbeitermassen auf mannigfachen Wegen in den Kampf für das allgemeine Wahlrecht führt. Die Idee des allgemeinen Wahlrechts ist jedoch nicht notwendig mit der Sozialdemokratie verknüpft. Schon bevor diese als Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung entstanden war, hatte die Forderung des allgemeinen Wahlrechts die Arbeiter bereits in einem Lande zu gemeinsamer politischer Aktion zusammengeführt: in England. Die Mittel, mit denen die Arbeiterklasse im Laufe fast eines Jahrhunderts, und in sehr verschiedenen Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung, den Kampf für das Wahlrecht führt, sind natürlich sehr verschieden. Zu ihnen gehören: Versammlungen, Straßenmanifestationen, Petitionen, Volksabstimmungen, Artikel in der Presse usw. Führen sie zu keinem Resultat, dann liegt es auf der Hand, dass die Arbeiterklasse versuchen wird, das ihr unentbehrlich scheinende Recht, das erst den friedlichen politischen Klassenkampf ermöglicht, gewaltsam zu erzwingen. Die Straßendemonstrationen nehmen einen immer bedrohlicheren, revolutionären Charakter an, Krawalle und Revolten entstehen, und es entsteht auch in diesem Stadium der Bewegung, sofern das Proletariat schon eine Vergangenheit von industriellen Kämpfen hinter sich hat, die Idee des politischen Streiks. Nicht gleich zu Beginn der kapitalistischen Produktionsweise erscheint die Niederlegung der Arbeit dem Proletariat die seiner Lage im Produktionsprozesse entsprechende Form der Gewalt. Was der große Redner Mirabeau in einem hellseherischen Augenblick erkannte und den zivilisierten Klassen seiner Zeit zurief: „Passen Sie auf! Bringen Sie nicht dieses Volk in Wut, das, um schrecklich zu sein, bloß untätig zu bleiben brauchte“ das kommt den Arbeitern selbst erst im Verlauf einer langen Entwicklung von Kämpfen und Empörungen gegen die kapitalistische Gesellschaft klar zum Bewusstsein. Die Idee des politischen Massenstreiks kann nur erwachen in einer Arbeiterschaft, die schon von den sozialen Verhältnissen zum gewerkschaftlichen Kampfe im großen Maßstäbe gedrängt wurde, aber sich noch nicht im Besitze des wichtigsten politischen Rechts, des allgemeinen Wahlrechts, befindet. Es nimmt darum nicht wunder, dass wir das erste Aufdämmern der Idee des politischen Massenstreiks in England finden. Dort hatte schon in den dreißiger und vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts die Entwicklung der Großindustrie zu einem ununterbrochenen ökonomischen Kampfe zwischen Arbeitern und Unternehmern geführt. Von politischer Demokratie war keine Rede. Noch fehlte den Arbeitern das erste Bürgerrecht. Da kam unter den Chartisten der Plan eines allgemeinen Feierns, eines „heiligen Monats“ zur Erlangung der Volkscharte auf, deren erste und wichtigste Forderung das allgemeine Wahlrecht war. Es war dies der erste Gedanke einer Beeinflussung der politischen Verfassung durch Niederlegung der Arbeit, Aussetzung der Arbeit als proletarisches Machtmittel der der Arbeiterklasse eigentümlichen Form der Gewalt. Ob diese bei dem friedlichen Streik Halt machen würde, oder nötigenfalls auch zu andern, beim damaligen Stand der Technik in Frage kommenden Gewaltmitteln übergehen musste darin waren bekanntlich die Chartisten uneinig, da sich unter ihnen sowohl Anhänger der „physischen Gewalt“, wie der „nur-moralischen Gewalt“ befanden. Niemals wurde ein Versuch gemacht, den Plan des „heiligen Monats“ zu realisieren. Dies sei ausdrücklich hervorgehoben, weil einige Gegner des politischen Streiks die von den englischen Unternehmern in den Textildistrikten angezettelten Streiks und Unruhen vom Jahre 1842 als einen derartigen Versuch vorführen. So schreibt unter andern Genosse Greulich in seinem Bericht für die Enquete des Mouvement Socialiste: „Der Generalstreik ist ein kindischer Traum schlecht organisierter Arbeiter. Die englischen Arbeiter haben von 1830 bis 1840 in diesem Traum gelebt und sie haben manchmal bemerkenswerte Versuche gemacht, ihn zu verwirklichen Versuche, neben welchen der heutige Generalstreik nur Kinderspiel ist. Sie besetzten ganze industrielle Distrikte und brachten die Arbeit in allen Fabriken und Minen zum Stillstand. Revolutionäre Energie fehlte ihnen nicht, wo ihnen Widerstand begegnete; sie belagerten die Fabriken und setzten sie in Brand; sie kämpften tapfer gegen Polizei und Militär. Und wenn der Generalstreik ein entscheidendes Mittel gewesen wäre, so hätte der englische Staat nicht genug Soldaten gehabt, sie zu bezwingen. Aber dieser Versuch der englischen Arbeiter von 1842 hat gar nichts gemein mit dem politischen Massenstreik, wie die Sozialdemokratie ihn versteht. Folglich beweist er auch nichts gegen ihn. Der von Greulich gemeinte Streik war, wie schon Engels in seinem Werke über die Lage der arbeitenden Klassen in England ausführte, ein planloser Aufstand, in den die liberalen Fabrikanten die Arbeiter hinein jagten Es ist ganz richtig, dass die Arbeiter Fabriken und Minen stillsetzten, sie wussten nur selbst nicht, zu welchem Zweck sie es taten. Von einem allgemeinen Zweck oder Ziel war nämlich bei ihnen gar keine Rede. „Einige“, sagt Engels, „wollten die Volkscharte durchsetzen; andre, die dies für zu frühzeitig hielten, bloß die Lohnsätze von 1840 erzwingen. Wäre der Aufstand von Anfang an eine bewusste Arbeiterinsurrektion gewesen, er wäre wahrlich durchgedrungen. Aber diese Massen, die von ihren Brotherren auf die Straße gejagt waren, ohne es zu wollen, die gar keine bestimmte Absicht hatten, konnten nichts ausrichten.“ Es hat also keinen Sinn, den Ausstand von 1842, wie Greulich es macht, als Argument für die Nutzlosigkeit des politischen Massenstreiks auszuspielen. Das hat Bernstein bereits 1894 in der Neuen Zeit (XII, 1, S. 690-91 ff.) nachgewiesen. Zum politischen Streik, wie die Mehrheit der Sozialdemokratie ihn unter Umständen für zweckmäßig hält, fehlten den englischen Arbeitern damals einige Hauptbedingungen: entwickeltes Klassenbewusstsein und Einigkeit zwischen politischer und gewerkschaftlicher Bewegung. Die Masse der Gewerkschaftsmitglieder stand dem Chartismus sehr kühl gegenüber und zeigte sogar für die Opfer des politischen Klassenkampfes eine ganz erstaunliche Gleichgültigkeit. Der Chartismus seinerseits verhielt sich zur Gewerkschaftsbewegung teilnahmslos. Der Owensche Sozialismus wieder erwartete von der politischen Arbeiterbewegung, vom Chartismus, nur böses für die Arbeitersache: brachte er doch Unwillen und Unmut unter die besitzenden Klassen, die Owen für den Sozialismus zu gewinnen hoffte. Dieser utopische Sozialismus betrachtete sogar die Gewerkschaftsbewegung weder als ein notwendiges Kampfmittel der Arbeiter gegen die ihnen vom Kapitalismus drohende Verelendung, noch als eine Schule des Klassenkampfes, sondern nur als embryonäres Organ der zukünftigen Produktionsweise. Gewerkschaftliche Arbeiterbewegung, politische Arbeiterbewegung und Sozialismus waren somit im England der vierziger Jahre noch geschieden und standen einander sogar feindselig gegenüber. Den englischen Arbeitern fehlte noch jede klare Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse, die allein zum einheitlichen Empfinden, Denken und Handeln führt. Diese gesellschaftliche Einsicht, dieses einheitliche Denken besitzen heute, auch in Ländern, wo die Schulbildung äußerst mangelhaft ist, wie Belgien und Italien, die Arbeiter in viel höherem Masse wie damals in England. Auch bei dem russischen städtischen Proletariat ist das jüngst zutage getreten. Dieser Fortschritt ist die Frucht der sozialdemokratischen Propaganda. Überall wo in den letzten Jahrzehnten ein industrielles Proletariat aufkam, sind die Grundgedanken des modernen wissenschaftlichen Sozialismus gleichsam von der Wiege ab in die Arbeiter eingedrungen und haben ihr Denken und Handeln beeinflusst. Dazu gesellen sich die Wirkungen der internationalen Solidarität. Die Kenntnis der Kämpfe des Proletariats in den am frühesten entwickelten Ländern und die aus ihnen geschöpften Erfahrungen gestatten den Arbeitern der Länder des späteren Kapitalismus, viel schneller zum Bewusstsein ihrer Klassenlage zu kommen, als es ohne diese Kenntnis der Fall wäre. Wenn in England die Idee des politischen Massenstreiks zuerst aufgetaucht ist, so ist das Geburtsland des ersten Versuchs seiner Verwirklichung Belgien. Das England der vierziger und das Belgien der achtziger Jahre hatten die industrielle Entwicklung, sowie die politische Rechtlosigkeit des Proletariats gemein. Auch in Belgien kam der Gedanke, auf dem Wege der Arbeitseinstellung für das grundlegende politische Recht, das Wahlrecht zu kämpfen, erst ernstlich auf, nachdem die Arbeiter die gesellschaftlichen und politischen Wirkungen des Massenstreiks aus eigener Erfahrung kennen gelernt hatten. Der spontane Massenstreik von 1886 im Bergbau und in der Glasindustrie, der die Bourgeoisie auf einige Tage in großen Schrecken versetzte, wurde für die spätere Entwicklung der belgischen Arbeiterbewegung von großer Bedeutung. Als der sozialistische Einfluss wuchs und die Parole des allgemeinen Wahlrechts bei den Massen einzuschlagen begann, erschien den belgischen Arbeitern, falls die gewöhnlichen Mittel der Agitation versagen würden, der politische Streik als Zwangsmittel zur Eroberung des allgemeinen Wahlrechts als ganz selbstverständlich. Ehe wir die Einwendungen gegen den politischen Massenstreik prüfen und die Voraussetzungen seines Gelingens untersuchen, wollen wir uns über seine Praxis orientieren. Die internationale Arbeiterbewegung hat schon eine ganze Reihe, in dem Ziele wie in der Ausführung äußerst verschiedene, von verhältnismäßigem Erfolg gekrönte, wie gänzlich fehlgeschlagene Versuche des politischen Streiks zu verzeichnen. Bei der Wiedergabe dieser Versuche halten wir uns für die Darstellung der beiden belgischen und der schwedischen Streiks an den Bericht, den der Vorstand der holländischen Sozialdemokratie im Auftrage des internationalen Büros veröffentlichte. Unsrer Darstellung der italienischen Streiks liegen die Berichte der italienischen, deutschen und französischen Parteipresse zugrunde. „Unsre belgischen Kameraden“ lautet der Bericht der holländischen Sozialdemokratie „haben hinsichtlich des politischen Streiks die reichste Erfahrung. Zweimal machten sie von diesem Kampfmittel Gebrauch; das erste Mal erreichten sie einen verhältnismäßig bedeutenden Erfolg, das zweite Mal unterlagen sie. Der belgische Streik von 1893 zur Eroberung des allgemeinen Wahlrechts war der erste seiner Art. Ihm voran ging eine jahrelange, unaufhörlich geführte Propaganda. Die gewerkschaftliche Organisation war 1893 unter den belgischen Arbeitern noch sehr schwach, und auch die politische Parteibildung ließ noch viel zu wünschen übrig. Aber der lange Feldzug für das allgemeine Wahlrecht hatte die Arbeiter zwei Dinge gelehrt: erstens, alle ihre Kräfte auf einen Punkt zu konzentrieren, das allgemeine Wahlrecht als den Hauptzweck zu betrachten, für den alles aufs Spiel zu setzen sei; zweitens, der politischen Leitung der Sozialdemokratie zu vertrauen und zu folgen. Nicht nur war in der Masse das Klassenbewusstsein erwacht, es war auch in einer politischen Forderung zum konkreten Ausdruck gekommen. Als der allgemeine Rat der Partei die Losung ausgab, zu streiken, folgte in den großen Städten und industriellen Zentren die Masse der Arbeiter unmittelbar seiner Parole, Diese politische Geschultheit, eine Frucht jahrelangen Kampfes, ist unsrer Überzeugung nach eine der Ursachen, die den Streik von 1893 zum Erfolge führten. Eine zweite Hauptursache war sein unerwarteter Ausbruch und der Schrecken, den er demzufolge unter der Bourgeoisie verbreitete. Zum ersten Male in der Geschichte richteten die Arbeiter die Waffe der Streiks gegen den Staat. Jede neue Äußerung ihrer Kraft und Kampfesfähigkeit erschreckt die Bourgeoisie um so mehr, je weniger sie sie erwartete. Einen Augenblick lang glaubte sie, ihr Ende sei gekommen. So ging es den meisten Ländern bei der ersten Maifeier 1890; so erging es auch im Jahre 1893 der Bourgeoisie in Belgien. Die Furcht vor der Revolution, von der sie in dem Streik ein Vorspiel sah, die Furcht vor dem Abmarsch von Zehntausenden Grubenarbeitern nach Brüssel verwirrte die Bourgeoisie für einen Augenblick und lähmte ihren Willen. Sie wehrte sich zwar mit Hilfe ihrer gewöhnlichen Gewaltmittel, Polizei und Soldaten, aber ihre Abwehr war unsicher und schwankend. Lieber machte sie Konzessionen und gab teilweise nach, als dass sie sich der Gefahr einer in ihren Augen drohenden Revolution ausgesetzt hätte. Ein Kompromiss also, ein halber Sieg des Proletariats die Einführung des zwar allgemeinen, aber ungleichen Wahlrechts war das Resultat des ersten politischen Streiks. Zweifellos war dieses Resultat dazu angetan, das Kraftbewusstsein des Proletariats in hohem Masse zu stärken. Der Streik von 1902 dagegen erzwang von der belgischen Bourgeoisie nicht die geringste Konzession. Er war wohl zu beachten viel umfangreicher als der von 1893; dreihunderttausend Arbeiter nahmen an ihm Teil; Organisation und Geschultheit hatten zugenommen; die allgemeine Begeisterung war sicher nicht geringer als 1893. Und doch vermochte er weder die geschlossene Majorität im Parlament noch die reaktionären Parteien außerhalb desselben auch nur im Geringsten aus dem Geleise zu bringen. Hervorragende Theoretiker der Sozialdemokratie haben als Ursache des Misslingens das parlamentarische Bündnis mit den Liberalen bezeichnet, das die revolutionäre Bewegung des Proletariats lähmte. Wir wollen hierauf nicht weiter eingehen und nicht untersuchen, inwieweit eine verkehrte Taktik die Niederlage herbeiführte. Eine Wiederholung derselben würde sich natürlich in Zukunft leicht vermeiden lassen. Deutlich erkennbar aber war, dass die bürgerliche Klasse, nun sie den politischen Streik kannte, nicht mehr die Flucht bei seinem Herannahen ergriff, sondern sich mit allen Unterdrückungsmitteln, die dem kapitalistischen Staat zur Verfügung stehen, zur Wehr setzte. Und das ohne Angst, und in dem Bewusstsein, dass diese Unterdrückungsmaßregeln bei den augenblicklichen Machtverhältnissen zwischen den Klassen wohl imstande sind, dem Ausharrungsvermögen des Proletariats im politischen Streik die Spitze zu bieten. Was aber den zweiten belgischen Streik für das internationale Proletariat so äußerst wichtig macht, ist die Art, in der die belgischen Arbeiter den Rückzug antraten. Es glückte ihnen, den verlorenen Streik im richtigen Augenblick abzubrechen und die Bewegung in bester Ordnung aufzuheben. Sie vollbrachten, was besiegten Heeren immer als großer Ruhm angerechnet worden ist: sich nach der Niederlage in vollkommenster Disziplin zurückzuziehen. Das Beispiel, das sie gaben, beweist, welche Eigenschaften und Kräfte Bewusstsein und Kampfesstimmung beim Proletariat schaffen. Das dürfte genügen, um die Vorstellung zu beseitigen, als ob jede Niederlage bei einem politischen Streik gleichbedeutend mit einer Katastrophe sein müsste. Der belgische Streik von 1902 hat bewiesen, dass das ebenso wenig bei dieser Kampfesform der Fall zu sein braucht, als bei dem ökonomischen Massenstreik, und dass die Gefahren, die unvermeidlich mit einem Streik verbunden sind, der sich gegen einen so mächtigen Feind wie der moderne Staat richtet, durch Einheit in der Leitung und im Auftreten sehr vermindert werden. Auch die belgische Bewegung kostete dem Proletariat Opfer, und die traurigen Ereignisse von Brüssel und Löwen, wo bei einer Manifestation sechs Arbeiter von bürgerlichen Nationalgardisten getötet wurden, leben noch in der Erinnerung aller. Aber die Einheit von Leitung und Massenbewegung, die Einmütigkeit, mit der die Arbeit niedergelegt und wieder aufgenommen wurde, bewahrte die belgischen Arbeiter vor den entnervenden Folgen einer Niederlage, vor dem demoralisierenden Schauspiel, die Kämpfer von gestern, ihres Brotes beraubt, wie Parias vertrieben, dem Elend überliefert zu sehen. Vergeltungsmaßregeln von Seiten der Unternehmer kamen so gut wie gar nicht vor. Die Organisationen blieben ungeschwächt, und die Wahlen, die unter dem direkten Eindruck der Ereignisse und einer heftigen antisozialistischen Reaktion bei den durch die klerikale Agitation stark beeinflussten Mittelschichten vorgenommen wurden, ergaben zwar hier und da einen kleinen Rückgang, aber über das ganze Land doch einen Zuwachs von 16000 Stimmen. Wohl erschlaffte eine Zeitlang die Bewegung für das allgemeine Wahlrecht, es ist aber noch die Frage, ob dies allein auf den missglückten Streik zurückzuführen ist, oder ob nicht auch ohne diesen die parlamentarische Niederlage, das heißt die Ablehnung des sozialistisch-liberalen Antrages auf Verfassungsrevision, zu einer zeitweiligen Erschlaffung geführt haben würde. Ist dies doch auch ohne Streik in Österreich und in Holland der Fall gewesen. Und wie Genosse Viktor Adler kürzlich sehr mit Recht bemerkte, ist eine solche Erschlaffung vollkommen natürlich, da man unmöglich eine Bewegung jahrelang ununterbrochen auf dem Siedepunkt erhalten kann. Wir gehen nun zu dem schwedischen Streik über und wollen die Aufmerksamkeit auf die hauptsächlichsten Unterschiede zwischen diesem und den beiden belgischen lenken. Erstens war er ausdrücklich als Demonstration und nicht als Zwangsmittel angekündigt. Die schwedischen Arbeiter wollten auf diese Weise zeigen, dass sie zugunsten des allgemeinen Wahlrechts auf ihren Lohn Verzicht leisteten und während der wichtigen Tage der Verhandlungen über die Wahlrechtsanträge im Parlament ihr ganzes Interesse auf die große politische Entscheidung konzentrierten. Dieser ausdrücklich ausgesprochene Zweck des Streiks hatte natürlich den Vorteil, ein direktes Misslingen von vornherein auszuschließen. Ein zweiter wichtiger Punkt ist die im Voraus bestimmte Dauer. Vorher schon war festgestellt, dass der Streik sofort nach Beendigung der Verhandlung der Wahlrechtsanträge im Parlament aufgehoben werden, also nur wenige Tage dauern sollte. Dieser Beschluss nahm der bürgerlichen Presse mehr oder weniger die Gelegenheit, den Streik als Vorspiel der Revolution hinzustellen und die öffentliche Meinung gegen die Arbeiter aufzuhetzen. So wie der erste belgische, endete auch der schwedische Streik mit einem halben Siege des Volkswillens, einem Kompromiss, der in diesem Falle die Form eines Aufschubs der endgültigen Entscheidung annahm.A Die total unzureichenden Wahlrechtsanträge der bürgerlichen Parteien wurden verworfen, ebenfalls aber auch der der Sozialdemokratie, und die Regierung wurde aufgefordert, binnen zwei Jahren einen neuen Entwurf einzureichen. In Bezug auf den Umfang gab der schwedische Streik dem belgischen sicher nicht nach. In Stockholm standen nicht nur die gesamte Industrie und die Bauwerke still, sondern auch die Arbeiter an den Staatsbahnen und Gasfabriken, im Reinigungsdienst usw. streikten, keine einzige bürgerliche Zeitung konnte erscheinen. War er auch noch so sehr als Demonstration angekündigt, so brachte der Streik das ökonomische Leben doch fast zum Stillstand und verursachte der Bevölkerung große Unbequemlichkeiten. Auch hier war, ebenso wie in Belgien, das Proletariat durch einen jahrelangen Feldzug für das allgemeine Wahlrecht zur Einigkeit erzogen und im politischen Bewusstsein geschult. Die Leitung lag ausschließlich in den Händen der Sozialdemokratie, und um Vergeltungsakte der Unternehmer zu verhüten, wurden die Gewerkschaften vollkommen aus dem Spiel gelassen; der Aufruf zum Streik ging allein von der sozialdemokratischen Parteileitung aus. Infolge dieser Taktik, der großen Einigkeit und Disziplin kostete die Bewegung den Gewerkschaften so gut wie keine Opfer. Nur in einer großen Fabrik schritten die Unternehmer nach Beendigung des Streiks zur Aussperrung, die jedoch bald wieder aufgehoben wurde. Zum Schlusse wollen wir noch mitteilen, dass nach der Überzeugung unserer schwedischen Parteigenossen auch hier der Sieg zu einem guten Teile dem für die Bourgeoisie unerwarteten Ausbruch des Streiks zu danken ist. „Der Sieg ist uns“, schreibt der Abgeordnete Hjalmar Branting, „teilweise durch Überrumpelung geglückt und wir wissen, dass wir in Zukunft mit viel schärferen Racheakten der Unternehmer zu rechnen haben werden.“ Es ist also klar, dass, um Erfolg zu haben, eine Wiederholung des Streiks die Bourgeoisie, sei es durch längere Dauer, sei es durch größeren Umfang oder auf andere Weise, viel empfindlicher als das erste Mal treffen müsste. Soweit der Bericht des Vorstandes der holländischen Sozialdemokratie. Wir kommen nun zu dem holländischen Streik vom 5. bis 10. April 1903. Seine Ursache waren bekanntlich die Zwangsgesetze, die aus Anlass des glänzenden Sieges vom 2. Februar, wobei Hafenarbeiter wie Eisenbahnangestellte die vollständige Annahme ihrer Forderungen errangen von der Regierung eingebracht wurden. Es zeigte sich bald nach diesem Siege, dass die Bourgeoisie die Möglichkeit eines zweiten ähnlichen niemals zulassen würde: fast unmittelbar nach Beendigung des Streiks erschienen in der reaktionären Presse Artikel, welche die Regierung aufforderten, den Eisenbahnangestellten das Streikrecht zu nehmen und seine Ausübung den andern Arbeiterkategorien zu erschweren. Ende Februar erschienen die nachher etwas gemilderten Vorlagen, die den Streik für die Eisenbahnangestellten und für die Arbeiter im öffentlichen Dienst mit Gefängnis bis zu 6 JahrenB bedrohten und das Postenstehen für die übrige Arbeiterschaft sehr erschwerten. Noch bevor die Gesetze bekannt waren, hatten sich die Arbeiter, durch den hetzerischen Ton der bürgerlichen Presse gewarnt, zur Verteidigung zusammengeschlossen. Die Eisenbahnergewerkschaft hatte schon früher die Provokationen der bürgerlichen Presse mit der Aufforderung an ihre Mitglieder beantwortet, sich auf das erste Signal für den Streik bereit zu halten, Die Hafenarbeiter von Amsterdam (um derentwillen die Eisenbahner am 31. Januar in den Solidaritätsstreik getreten waren) erklärten sich bereit, ihnen Hilfe zu leisten. Von einem Generalstreik war nicht die Rede, und es war ein Beweis für die Schwäche der Gewerkschaftsbewegung, dass die so genannten neutralen Gewerkschaften, von denen die meisten mehr oder weniger unter anarchistischem Einfluss standen und über den Generalstreik große Worte zu machen pflegten, im Bewusstsein ihrer Ohnmacht schwiegen. Das Verteidigungskomitee, in dem Sozialdemokraten, Nur-Gewerkschaftler und Anarchisten zusammenwirkten, betrieb die Agitation im Lande mit großer Energie. An einem und demselben Tage wurden im ganzen Lande Massenversammlungen abgehalten, denen ungefähr 50.000 Arbeiter beiwohnten. Der einträchtigen und begeisterten Bewegung gelang es aber doch nicht, die Zurücknahme der Zwangsgesetze zu erwirken. Ebenso wenig hatten die wiederholten Anstrengungen der sozialdemokratischen Fraktion in der Kammer Erfolg. Genosse Troelstra versuchte vergeblich, die Regierung auf den Weg der Versöhnung und Billigkeit zu bringen durch Vertagung der Verhandlung über die Strafgesetze bis nach dem Zeitpunkt, wo das Resultat der gleichfalls durch das Gesetz anzuordnenden Enquete über die Arbeitsbedingungen des Eisenbahnpersonals bekannt sein würde, Minister Kuyper, der „starke Mann“, weigerte sich, darauf einzugehen: den Eisenbahnern sollten ihre Rechte genommen werden, noch ehe ihre Beschwerden gehörig geprüft worden waren. Die Provokation eines Ausbruchs der Verzweiflung passte in den Plan der Regierung, die ihre Kraft und Entschlossenheit in der Verteidigung der kapitalistischen Interessen zu zeigen begierig war und ihre militärischen und andern Vorbereitungen vorzüglich getroffen hatte. Auch hoffte sie, dass eine Niederlage die Sozialdemokratie sowie die unabhängigen Gewerkschaften auf Jahre hinaus lahm legen werde. Ende März erschienen die abgeänderten Vorlagen. Die Liberalen, die bisher Scheinopposition getrieben, schwenkten ab und ihre ganze Presse stimmte eine Lobeshymne auf die sachliche Ruhe und Mäßigung der klerikalen Regierung an, die so vernünftig gewesen war, auf die Ratschläge der liberalen Partei zu hören. Alle bürgerlichen Parteien machten nun geschlossen gegen die Arbeiter Front. Als die Kammer am 1. April zusammentrat, wurde sie durch die Mitteilung überrascht, dass den Bestimmungen der Geschäftsordnung zuwider die Zwangsgesetze schon am nächsten Tage zur öffentlichen Verhandlung kommen sollten. Am 2. April hielten die politischen und gewerkschaftlichen Organisationen, die sich dem Verteidigungskomitee angeschlossen haften, abermals eine Versammlung ab. Die Arbeiter standen jetzt vor einer unmittelbaren Gefahr, die Zeit der ruhigen Überlegung war vorüber, die Verhandlungen über die Gesetze hatten an diesem Tage schon begonnen und in wenigen Tagen würde alles entschieden sein. Die Arbeiter mussten sich jetzt entweder damit abfinden, den Kampf auf das Parlament zu beschränken und von den sozialdemokratischen Abgeordneten führen zu lassen oder außerhalb des Parlaments den Weg des Streiks beschreiten. In beiden Fällen war die Niederlage gewiss; die Folgen einer Niederlage außerhalb der Kammer würden aber augenscheinlich ganz andrer Natur sein als die einer nur-parlamentarischen. Erst in dieser Versammlung der Verbands- und Vereinsvorstände wurde, als bereits die Arbeiter den Strick an der Gurgel fühlten, der endgültige Beschluss zum Streik gefasst. Vergebens warnte Genosse Oudegeest, Vorsitzender der Eisenbahnergewerkschaft, mit ernsten Worten vor dem Kampf. In den zwei Monaten, die seit dem erwähnten Aufruf an die Eisenbahner verflossen waren, hatte sich vieles geändert. Die Eisenbahngesellschaften hatten ihre Maßnahmen getroffen, „Ordnungsbünde“, das heißt Vereine von Arbeitswilligen errichtet oder ermutigt, durch Spekulation auf persönlichen Vorteil und durch Drohungen usw. die Unschlüssigen, Halbherzigen und Schwachen von der Gewerkschaft gelöst. Wohl umfasste sie äußerlich noch eine starke Zahl von Mitgliedern, aber innerlich war die Organisation sehr geschwächt und ihre Kampfeslust hatte erheblich abgenommen. Die christlichen Gewerkvereine gar hatten sich aus hündischer Anhänglichkeit an ihre regierenden Glaubensgenossen für die Zwangsgesetze erklärt und leisteten ihnen mit aller Macht Vorschub. Das Militär stand im ganzen Lande bereit, alle Bahnhöfe, Rangierbahnhöfe und Gleisübergänge zu besetzen und jede Berührung zwischen Streikenden und Nichtstreikenden so gut wie unmöglich zu machen. Aber der Geist des Widerstandes war durch das brutale Vorgehen der Regierung in den Arbeitern zum äußersten geweckt worden: die Versammlung hörte nicht auf die Warnungen Oudegeests, sondern nur auf die Ausführungen derjenigen Mitglieder des Komitees, die die Sachlage günstiger beurteilten und zur Durchführung des Streiks rieten. Der Streik in den Transportbetrieben (Eisenbahn- und Hafenbetriebe) wurde beschlossen. Von den anarchistischen Elementen wurde betont, dass es sich nicht um einen Manifestations-, sondern um einen Pressionsstreik handele: die Zurückziehung oder Verwerfung der Gesetze sollte sein Ziel sein. Über die Dauer des Streiks wurde nichts vereinbart, ebenso wenig ein Datum des Beginns genannt: stillschweigend galt der 5. April. Der Beschluss sollte geheim bleiben; in der Nacht vom 4. zum 5. April stellte sich jedoch heraus, dass die Behörden gewarnt waren. Vom ersten Tage des Streiks an zeigte sich, dass der Geist unter dem Eisenbahnpersonal ein andrer war als am 31. Januar. Sogar Amsterdam, das alle besonders verlässlich geglaubt hatten, stellte eine große Anzahl Arbeitswillige. Der Verkehr wurde zwar erschwert, aber nicht wie damals aufgehoben. Die Tatsache, dass aus Amsterdam immer wieder Züge nach verschiedenen Richtungen abgingen, entmutigte die Arbeiter der Bahnhöfe, wo, wie in Harlem, Haag, Rotterdam, Utrecht, der Streik ziemlich allgemein ausgebrochen war. Am zweiten Tage dehnte sich der Streik etwas aus, im Norden und Osten stand die Sache ziemlich gut. Im katholischen Süden wurde dagegen nur an einigen Orten ganz vorübergehend gestreikt. Von einem allgemeinen Eisenbahnerstreik war jedoch keine Rede. Die Eisenbahngesellschaften schickten gleich am ersten Tage des Kampfes den Streikenden die Kündigung ins Haus, wenn sie sich nicht nach einer bestimmten Frist wieder zur Arbeit stellten; dies hatte in vielen Orten große Entmutigung besonders der Frauen zur Folge. Den Ausstand der Hafenarbeiter in Amsterdam beantworteten die Unternehmer gleich mit einer allgemeinen Aussperrung aller beim Hafenbetrieb beteiligten Arbeiter (ungefähr 4000), die sie noch mehrere Wochen nach Beendigung des politischen Streiks aufrecht erhielten und womit sie der Organisation dieser Arbeiter einen Schlag versetzten, der heute noch immer nicht überwunden ist. In Rotterdam nahm der Hafenarbeiterstreik, wenn er auch nicht allgemein war, doch unverhoffte Dimensionen an. Zum ersten Mal wurden diese Arbeiter erfreulicherweise in eine allgemeine Bewegung hineingezogen. Am 8. April war die Verhandlung in der Kammer über die Gesetze fast zu Ende, die Diskussion wurde nur von den Sozialdemokraten geführt; zur Obstruktion konnten sie aber nicht schreiten, weil der Streik dazu zu schwach stand. Unter diesen Umständen proklamierte das Verteidigungskomitee, um den Eisenbahnern zu Hilfe zu kommen und deren Schwäche zu verbergen, am 8. April nachmittags den Generalstreik in allen Betrieben. Dies war natürlich das letzte Notsignal. Ihm gehorchten in Amsterdam die 8000 Diamantarbeiter (bekanntlich die bestorganisierte Arbeiterkategorie) und die Mehrzahl der bei den Baubetrieben Beteiligten. Der Streikversuch der Bäcker und Typographen misslang. Von den Kommunalarbeitern legten einige Kategorien (Beleuchtung und Reinigung) die Arbeit nieder, die teilweise vom Militär übernommen wurde. Außerhalb Amsterdams wurde hier und dort in den größeren Städten in einzelnen Betrieben (Baubetrieb, Metallbearbeitung, Typographie) gänzlich oder teilweise gestreikt. Im Ganzen umfasste der Streik über das ganze Land 50-60.000 Arbeiter, wovon ungefähr 30.000 in Amsterdam. Zweifelsohne würde der Massenstreik bei längerer Dauer in einer Anzahl von Gewerken an Ausdehnung gewonnen haben. Aber schon am 9. April nachmittags war das Gesetz in der zweiten Kammer angenommen und damit jedes weitere Streiken, sei es als Mittel des Widerstandes oder des Protestes, nutzlos geworden. Dabei stand es mit dem Kampfesmut der Eisenbahner recht schlecht und jeder weitere Tag des Streikens musste dies offenkundiger machen und ihre Niederlage verschlimmern. Unter diesen Umständen beschloss das Komitee in der Nacht vom 9. zum 10. April. den Streik aufzuheben. Dies wurde am folgenden Morgen bekannt gegeben, und obgleich es hier und dort nicht ohne Schwierigkeiten abging, waren doch in einigen Tagen alle Streiks beendet, die mit der allgemeinen Bewegung zusammenhingen. In der Nacht vom 10. zum 11. April hielt das Verteidigungskomitee mit den Vorständen der Verbände und Vereine nochmals eine Versammlung ab, um von der plötzlichen Aufhebung des Streiks Rechenschaft abzulegen. Da wurde von anarchistischer Seite die empörende Beschuldigung erhoben, dass die Sozialdemokratie die Bewegung verraten habe, und nach einer Diskussion, welche zwei volle Nächte dauerte und während welcher es viele recht hässliche Momente gab, wurde aus den wichtigsten Gewerkschaften eine Kommission zu dem Zwecke ernannt, diesen „Verrat“ des nähern zu untersuchen. Selbstverständlich konnte die Kommission, die in ihrer Mehrheit aus Nur-Gewerkschaftlern und Gegnern der Sozialdemokratie bestand, keine Spur des angeblichen Verrats entdecken. So endete die mit so großer Begeisterung begonnene Bewegung mit einer Niederlage, deren Folgen durch Verwirrung und Zwietracht sehr verschlimmert wurden. Die Kapitalisten, die diese Arbeiter, vor denen sie kurz vorher gezittert hatten, jetzt uneinig und wehrlos sahen, übten furchtbare Vergeltung. Sie fühlten sich in ihrem Vorgehen ermutigt durch die Haltung der Regierung, die die Streikenden „Verbrecher“ nannte, und durch die rachsüchtige Stimmung fast der gesamten Bourgeoisie. Die Eisenbahngesellschaften gaben das Beispiel der Massen-Maßregelung; sie sperrten über 1500 Angestellte aus. Die andern Unternehmer blieben nicht zurück; die Zahl der Gemaßregelten betrug im Lande ungefähr 500; eine beispiellos hohe Zahl auf 50.000 Streikende! Sie nahm nur sehr langsam ab, da sich fast alle Unternehmer weigerten, Arbeiter, die sich am Streik beteiligt hatten, wieder in Arbeit zu nehmen. Nach Verlauf eines Jahres waren noch Hunderte von Opfern vorhanden, die nur notdürftig unterstützt werden konnten. Der Streik der Eisenbahnangestellten brach vollständig zusammen. Die Streikenden konnten bei Wiederaufnahme der Arbeit keine einzige Bedingung stellen, ihre Zahl war dazu zu schwach und ihre Entnervung zu groß. Ihre Organisation wurde fast ganz vernichtet und erholt sich nur langsam und schwer.C Auch eine ganze Reihe von andern Gewerkschaften wurde ernstlich geschwächt, besonders in Amsterdam verloren sie Tausende von Mitgliedern. Eine Schreckensherrschaft der Gesinnungsriecherei begann, und noch heute hat sich die holländische Gewerkschaftsbewegung nicht ganz von dem Schlage erholt, der ihr vor zwei Jahren versetzt wurde. Aus dem Vorhergehenden ist klar ersichtlich, weshalb sowohl der Streik der Eisenbahner wie der Generalstreik ein Fiasko erleiden musste. Die ökonomische Organisation war mangelhaft, die Vorbereitung und Führung ungenügend, das politische Bewusstsein der Massen gering. Und der Gegner, der den Streik erwartete, hatte Zeit gehabt, alle seine Vorbereitungen zu treffen. Dennoch war der Streik eine psychologische Notwendigkeit. Der unerhörte Sieg der Eisenbahner am 2. Februar hatte das Seine dazu beigetragen, das Proletariat übermütig zu machen und zur Überschätzung seiner Kräfte zu verleiten. Die Anarchisten hatten seit Jahren den Generalstreik als Allheilmittel, im Gegensatz zur gewerkschaftlichen und politischen Organisation, gepredigt, und ihr Einfluss auf die Gewerkschaften war groß. Aber die Hauptursache, warum der Streik als letztes, verzweifeltes Verteidigungsmittel bei den Arbeitern aufkommen musste, lag in dem Fehlen des allgemeinen Wahlrechts. Mehr als die Hälfte der Arbeiter besitzt kein Stimmrecht, und diese Sachlage schloss die Möglichkeit für das Proletariat aus, auf dem Wege des politisch-parlamentarischen Kampfes die Regierung zu stürzen, die einem Teil ihrer Klasse das erste, unentbehrliche Recht des Arbeiters in der kapitalistischen Gesellschaft aus der Hand schlagen wollte. Das Klassenbewusstsein war zu stark, als dass die Arbeiter sich hätten ohne Kampf entrechten lassen; die politische Schulung aber zu schwach, um sich entschließen zu können, den Kampf auf die Agitation im Lande und die Tätigkeit der sozialdemokratischen Abgeordneten im Parlament zu beschränken. Einem großen Teil der Arbeiter wäre dies gleichbedeutend mit einem Verzicht auf den Kampf überhaupt erschienen. So war sowohl der Streik wie die Art und Weise, wie er geführt und abgeschlossen wurde, dem Entwicklungsgrade der niederländischen Arbeiterbewegung genau angepasst. Es ist klar, dass, wiewohl die Arbeiter beabsichtigten, durch den Streik die Regierung zur Zurückziehung der Gesetze zu zwingen, er als Zwangsmittel tatsächlich viel zu schwach war und in Wirklichkeit nur die Bedeutung eines Protestes hatte. ★ ★ ★ Auch ein Proteststreik, aber von unvergleichlich größerem Umfang und mächtigerer Wirkung wie der holländische, war der italienische Generalstreik vom 16. bis 20. September 1904. Er unterscheidet sich von den schwedischen, belgischen und holländischen Streiks vor allem durch seinen ganz spontanen Charakter. Von Organisation und planmäßigem Zusammengehen konnte nicht die Rede sein, weil er vollkommen unerwartet ausbrach. Deswegen bestand er eigentlich aus einer Anzahl lokaler, neben- und nacheinander stattfindender Streiks, die nur durch das moralische Band der gleichen mächtigen Erregung verknüpft waren. Am Morgen des 15. September verbreitete sich die Nachricht durch Italien, dass in Castelluzzi Carabinieri wieder auf organisierte Arbeiter geschossen und zwei von ihnen niedergestreckt hatten. Diese Bluttat war das neue Glied einer Reihe von Morden, die von den Verteidigern der kapitalistischen Ordnung innerhalb weniger Monate zu Berra, Candela, Giarratana und Buggerru verübt worden waren. Wieder und wieder hatte das Proletariat in Volksversammlungen gegen diese Blutwirtschaft protestiert und die Forderung erhoben, sein Leben vor Gewalttaten geschützt zu wissen. Jetzt bemächtigte sich seiner eine grimmige Empörung. Blitzartig, ohne Überlegung, aus der Tiefe seines Mitgefühls und seiner Entrüstung heraus, beschloss es, zur stärksten Form des Protestes zu greifen, die das Proletariat in der kapitalistischen Gesellschaft besitzt: zur Verweigerung seiner Arbeitskraft, die diese ganze Gesellschaft am Leben hält. „Zwei Stunden, nachdem das Blatt Il Tempo die Nachricht aus Sizilien unter der Arbeiterschaft von Monza verbreitet hatte, war der Streik dort beschlossen. Um Mittag standen die Räder still: 7000 Arbeiter streikten. Am Abend desselben Tages proklamierten die Mitglieder der Mailänder Arbeitskammer den Generalstreik, nachdem man noch 24 Stunden vorher dieses Mittel des Protestes abgewiesen hatte, als es nach der Bluttat in Sardinien vom Genossen Dugoni vorgeschlagen worden war. Vom Morgen des 16. September an ruhte in Mailand alle Arbeit: Man gibt die Zahl der Streikenden auf 80.000 bis 100.000 an.“D In der Nacht vom 15. bis 16. September verfassten die in Rom anwesenden Mitglieder des Vorstandes und der Kammerfraktion der sozialdemokratischen Partei sowie der erste politische Redakteur des Avanti einen Aufruf, worin die Initiative der Arbeitskammer von Mailand begrüßt und den Organisationen empfohlen wurde, den Generalstreik in der größtmöglichen Ausdehnung und Intensität über ganz Italien zu veranlassen. Dieser Aufruf konnte aber nur für Rom die Kampfparole ausgeben, da alle Blätter, die ihn verbreiteten, zurückgehalten wurden. Seine Verbreitung zeigte sich aber auch unnötig, denn schon griff der Streik überall um sich. Unter dem Eindruck der Ereignisse von Sestri, wo ebenfalls auf Arbeiter geschossen worden war und zwölf davon verwundet wurden, kam es in Ligurien zum Ausstand, noch ehe die Bluttat von Castelluzzi bekannt wurde. In Genua gingen am Morgen des 17. September die Angestellten der Straßenbahn, die Gasarbeiter und die der Elektrizitätswerke zum Streik über. Am Mittag wurde von der Arbeitskammer der Generalstreik dekretiert und zwei Tage lang stand alles wirtschaftliche Leben vollkommen still. In Rom, wo der Streik am Abend des 17. September erklärt wurde, umfasste er ebenfalls, bis auf die Gasarbeiter, alle Betriebe. Auch die Tagespresse stellte ihr Erscheinen ein. Es folgten Turin, Bologna, Livorno, Biella und Hunderte von kleineren Städten. Als der Streik hier zu Ende ging, begann er in Mantua, Venedig, Neapel, Florenz, Ravenna und anderen Orten. Die Möglichkeit zum gleichzeitigen Massenstreik über ganz Italien fehlte, da die Zeitungen entweder nicht erschienen oder beschlagnahmt wurden, aber der Telegraphenverkehr bis zum 18. September nur der Regierung zur Verfügung stand. An diesem Tage wurde die Ordre der Mailänder Arbeitskammer durchgelassen, die Arbeit am 19. wieder aufzunehmen. Die Mailänder Volksversammlung jedoch billigte diesen Beschluss nicht, die Arbeiterschaft nahm die Arbeit erst am 21. September wieder auf. Auch auf dem Lande pflanzte der Streik sich fort; in der rein landwirtschaftlichen Provinz Mantua verließen 120.000 Landarbeiter die Felder; bis in die kleinsten Gebirgsdörfer wurde seine Wirkung gespürt. Die Zahl der Streikenden ist nicht genau anzugeben, dürfte sich aber einer Million genähert haben. Nur eine, im Wirtschaftsgetriebe aber sehr wichtige Arbeiterkategorie hielt sich dem Streik fern: in dem großen Chore der Solidarität fehlte die Stimme der Eisenbahner. Nur in Siena und Neapel nahmen sie an der Bewegung Teil. Ihr Fehlen dürfte teilweise dem ganz unerwarteten Ausbruch der Bewegung geschuldet sein, da eine unmittelbare Mobilisation für diese Arbeiter infolge der Art ihrer Arbeit und der Form ihrer Organisation nicht möglich war. Eine noch größere Rolle dürften indessen die Bedenken gespielt haben, die auf den Ausbruch eines Eisenbahnerstreiks je länger je mehr hemmend wirken müssen: das Bewusstsein der unermesslichen Tragweite eines Stillstandes des Verkehrs, seiner schweren gesellschaftlichen Folgen und der großen persönlichen Gefahren, die das Streiken für diese Arbeiter mit sich bringt. Eine so allgemeine und gewaltige Erregung in der Arbeiterwelt konnte an ihnen nur deshalb vorbeigehen ohne sie mitzureißen, weil für sie in weit höherem Grade als für die Arbeiter anderer Betriebe ihre ganze Existenz bei dem Streik auf dem Spiele stand. Alles in allem bekundeten die Massen während des Streiks eine höchst anerkennenswerte Gesittung und Mäßigung. Nur hie und da kam es zu einigen im Vergleich zu einer solchen Riesenbewegung ganz unwesentlichen Ausschreitungen, die zudem, wie in Genua und Neapel, nicht auf Rechnung der organisierten Arbeiter zu setzen sind, sondern vorn Großstadtpöbel verübt wurden. In einigen großen Städten verzichtete die Regierung vom ersten Tage des Streiks an auf die Ausübung jeder Polizeifunktion, sei es aus Besorgnis vor blutigen Konflikten oder in der Hoffnung auf Exzesse des Lumpenproletariats, um dadurch die ganze Bewegung diskreditieren zu können. Dadurch stand die Arbeiterbewegung unerwartet vor der neuen Verpflichtung, auf der Stelle den Sicherheitsdienst zu organisieren; in Mailand geschah es mit gutem Erfolge, in Genua gelang es nicht immer, der schlechten Elemente Herr zu werden. Kommen wir jetzt zu den Früchten des Streiks. Von positiven Erfolgen in der Gesetzgebung oder von positiver Niederlage konnte in diesem Falle nicht die Rede sein, weil der Streik ausschließlich Manifestation war. Es handelte sich also hauptsächlich um moralische Wirkungen, und dies macht begreiflich, dass seine Folgen äußerst verschieden beurteilt worden sind. In der Beurteilung des Streiks machen sich drei Wertschätzungen bemerkbar, je nachdem der Beurteilende der Linken, dem Zentrum oder dem rechten Flügel der Sozialdemokratie angehört. Dieselben Wirkungen, die von dem einen freudig begrüßt wurden, schienen dem andern der Sache des Proletariats nur Schaden zufügen zu können. Für Turati zum Beispiel sind es betrübende Folgen des Streiks, dass es der Reaktion gleich nach seiner Beendigung gelang, Neuwahlen durchzusetzen, und dass er dem parlamentarischen Zusammenschluss der Sozialdemokratie mit den radikalen und republikanischen Parteien ein plötzliches Ende machte. Dagegen beurteilte Enrico Leone, damals Redakteur des Avanti, die Sachlage folgendermaßen: „Der Generalstreik hat gezeigt, dass das Proletariat keinen Grund mehr hat, seine Abgeordneten in der gesetzgebenden Körperschaft Zeit und Kraft durch Unterstützung irgend einer bürgerlichen Regierung vergeuden zu lassen. Die Masse wird selbst imstande sein, von einem Tag bis zum andern Rechte zu erobern. Die Abgeordneten dürfen sich nicht kleiner Errungenschaften halber einschüchtern lassen, welche die Gewerkschaften ohne viel Mühe auf direktem Wege gewinnen würden, sobald sie wollen.“ Der Streik war ohne Zweifel – und das ist unsres Erachtens seine große Bedeutung das erste historisch-gewaltige Auftreten des Proletariats als revolutionäre Klasse im sozialen Leben Italiens. Bis jetzt hatte es immer gekämpft politisch verbunden mit dem städtischen Kleinbürgertum und dem Kleinbauerntum: im Streik trat es zum ersten Mal unabhängig, als eine die ganze kapitalistische Gesellschaftsordnung bekämpfende Klasse auf. Durch den Streik lernte es den unsicheren schwankenden Charakter seiner ehemaligen politischen Bundesgenossen kennen, die sich als schärfste Gegner der revolutionären Aktion des Proletariats entpuppten.E Der Streik erwies, wie tiefe Wurzeln der sozialistische Gedanke unter den Massen getrieben hatte, wie lebendig das Bewusstsein ihrer gemeinsamen Interessen und ihrer geschichtlichen Mission in ihnen geworden war. Seine nächste Wirkung für das Proletariat war eine Kräftigung seiner wirtschaftlichen Organisation, eine Zunahme seines Selbstgefühls, eine bessere Würdigung der Notwendigkeit des politischen Kampfes. Die Gewerkschaften wurden sich neben ihrer Macht, ihrer Aufgabe mehr bewusst, nicht nur wirtschaftliche Berufsinteressen zu vertreten, sondern auch Träger und Organe der proletarischen Politik zu sein. Auf ihrem letzten Kongress sind diese Bestrebungen auch zum Ausdruck gekommen. Im Allgemeinen steigerte der Streik das Machtgefühl des Proletariats in hohem Masse, es hat seine Unentbehrlichkeit im Produktionsprozess kennen gelernt und ist entschlossen, jedem ernsten Angriff auf seine Rechte wie jeder Vergewaltigung den äußersten Widerstand entgegenzusetzen. Zweifellos hat der Streik die gesellschaftliche Stellung des Proletariats gestärkt und wird gewiss die Wirkung haben, die herrschenden Gewalten zur Vorsicht anzuhalten, die Vergewaltigung kämpfender Arbeiter durch die Verteidiger der Ordnung zu beschränken. Ein Proletariat, das tatsächlich gezeigt hat, dass es vor keinem Opfer zurückschreckt, um seine Empörung über die Verletzung seiner elementaren menschlichen Rechte, sein Mitgefühl mit den gemordeten Brüdern den herrschenden Klassen eindringlich zu Gemüte zu führen – ein solches Proletariat flößt ihnen ganz andre Furcht und ganz andern Respekt ein, wie eins, das seinen Schmerzen nur in ohnmächtigen Worten Ausdruck gegeben hätte. Der Streik war eine Mahnung an die bürgerlichen Klassen, denn er zeigte ihnen ihre Abhängigkeit vom Proletariat, er war zudem eine Drohung, wie viel Leiden und Verderben ein solches Proletariat der ganzen Gesellschaft bereiten könnte, wenn die Machthaber ihm durch Angriffe auf seine Rechte oder sein Leben die Wiederholung einer solchen Tat der Empörung aufdrängen würden. Sehr verschieden in ihren Wirkungen auf die Massen waren die Folgen des Streiks auf dem Gebiet des politisch-parlamentarischen Kampfes. Sie haben zu erheblichen Veränderungen in der politischen Lage und den Verhältnissen der Parteien geführt, die dem parlamentarischen Einfluss der Sozialdemokratie nicht günstig waren. Unter dem Eindruck des Streiks fanden sich schnell alle bürgerlichen Elemente in gemeinsamer Sozialistenhetze zusammen. Als es den Reaktionären gelang, die Ansetzung von Neuwahlen zu erreichen, fand eine allgemeine Mobilisation gegen die Sozialdemokratie statt. Der Klerikalismus unterstützte öffentlich seinen langjährigen Todfeind, den antiklerikalen Liberalismus, wo es galt, einen Sozialisten zu bekämpfen. Giolitti siegte, aber nur mit Hilfe der schwärzesten Reaktion. Die Sozialdemokratie kämpfte allein gegen alle bürgerlichen Parteien, da sich das Bündnis der Volksparteien gelöst hatte, das unter dem Druck der auf die Maiaufstände von 1898 folgenden Reaktion entstanden war, als eine Vereinigung der Sozialisten mit der bürgerlichen Demokratie. Gegenüber der bürgerlichen Koalition konnte es der Sozialdemokratie nicht gelingen, alle ihre Mandate zu behaupten, sondern nur solche gewann [sie], die sie aus eigener Kraft, ohne den Bund der Volksparteien, errungen hatte. Die für die sozialistischen Kandidaten abgegebene Stimmenzahl verdoppelte sich aber nahezu (von 164.946 auf 316.000), die Zahl der sozialistischen Vertreter im Parlament nahm dagegen etwas ab. Die Wahlen, die im Zeichen des Generalstreiks standen und nach der Darstellung der Regierung das „Urteil des Volkes“ über ihn bilden sollten, brachten also der Sozialdemokratie einen großen politischen Erfolg, wenn auch eine parlamentarische Niederlage. Es ist jetzt begreiflich, wie ganz verschieden, je nach dem Standpunkt des Beurteilers, das Urteil über einen Streik ausfallen muss. Wer im proletarischen Emanzipationskampfe der parlamentarischen Lage und den parlamentarischen Errungenschaften der Sozialdemokratie die größte Bedeutung zumisst, wird abfällig über die Wirkungen des Streiks urteilen, die diese Lage ungünstig beeinflussten und weitere Errungenschaften für die nächste Zukunft unwahrscheinlich machten. Wer aber die Solidarität, die Kampffähigkeit und das revolutionäre Klassenbewusstsein der Massen am höchsten stellt, die Stärkung der proletarischen Organisation und ihre Erfüllung mit revolutionärem Bewusstsein, der wird den Streik als eine ruhmreiche Episode im proletarischen Klassenkampfe und als einen Schritt zu weiteren Erfolgen betrachten, wenn er sich auch nicht dem Bedenken verschließen wird, dass unter dem Eindruck dieser imposanten Massenbewegung augenblicklich eine gewisse Überschätzung dieses exzeptionellen Mittels gegenüber den täglichen politisch parlamentarischen Kampfesmethoden sowie der wirklichen Macht des Proletariats wahrscheinlich ist, wie sie in den angeführten Worten Leones tatsächlich zutage tritt. Die Opfer des Generalstreiks sind für das italienische Proletariat erhebliche gewesen, wenn auch in seinem Verlaufe von der Waffe nur mäßig Gebrauch gemacht worden ist und Massenmaßregelungen seitens der Unternehmer, wie dies in Holland der Fall war, nicht vorkamen. Dagegen wüteten die Gerichte in der schlimmsten Weise; bis Ende Februar wurden bereits an hundert Jahre Gefängnis verhängt nicht selten zwei bis drei Jahre pro Kopf. Eine große Anzahl Prozesse war damals noch in der Schwebe. ★ ★ ★ Wenn es auch heute noch ebenso untunlich ist, eine zusammenhängende Darstellung von der russischen revolutionären Streikbewegung zu geben, wie ein Endurteil über diesen Riesenkampf zu fällen, der auf dem Felde der Geschichte des Proletariats eine neue mächtige Furche zieht, so ist es noch viel unmöglicher, in einer Abhandlung über den Generalstreik an den russischen Ereignissen schweigend vorbeizugehen. Das russische Proletariat ist das erste, das die Waffe des Streiks mit revolutionär-politischen Zielen zum Zwecke des Sturzes der herrschenden Staatsgewalt angewendet hat. Zudem geschieht die Anwendung in einer Form, die bisher niemals vorgekommen ist und deren Möglichkeit in der Sozialdemokratie nie ernstlich vermutet und untersucht wurde. Deshalb ist die russische Revolution, deren Einleitung und eigenartige Form die Streikbewegung bildet, für das westeuropäische Proletariat nicht nur in ihren Zielen, sondern auch in ihren Mitteln von eminentester Bedeutung, kann sie diesem Proletariat in vielen, wenn auch selbstverständlich nicht in allen Punkten die reichste Anregung und Belehrung für seine eigenen zukünftigen Kämpfe geben. Daher wird im Folgenden versucht werden, einen Umriss der wichtigsten Begebenheiten der Streikbewegung in Russland zu geben und aus ihnen einige vorläufige Schlüsse zu ziehen. An eine erschöpfende Übersicht ist nicht zu denken, nicht nur, weil es an zuverlässigen zusammenhängenden Nachrichten über die Bewegung mangelt, sondern auch, weil diese noch nicht abgeschlossen ist, mit kurzen Unterbrechungen immer noch fortdauert und zu jeder Zeit wieder zu riesigen Dimensionen anschwellen kann. Im Abschnitt über den generalisierten Streik führten wir den südrussischen Streik von 1903 als ein Beispiel dafür an, welche ausgezeichnete Waffe der Sympathiestreik zur Aufrüttelung eines Industrieproletariats sein kann, dem alle Mittel des öffentlichen gewerkschaftlichen wie politischen Tätigkeit versagt sind. Diese Streikbewegung von 1903 war die erste großartige Explosion des russischen Proletariats, seine erste Massenerhebung gegen den furchtbaren Druck der ökonomischen, sozialen und politischen Ungerechtigkeit.F Sie war aber auch der Mustertyp der revolutionären Erhebung, deren gewaltigem Anschwellen es gelingen wird, den Felsblock des Absolutismus fortzuschwemmen, sie war die erste Flutwelle der russischen Revolution. Die Ursachen dieser Revolution haben uns hier nicht zu beschäftigen. Die heutige Streikbewegung konnte nur in einem Lande entstehen und um sich greifen, in dem revolutionärer Zündstoff massenhaft aufgehäuft lag. Sie ist das Ergebnis der ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklung Russlands während einer Reihe von Jahrzehnten. Der ostasiatische Krieg beschleunigte in hohem Masse das Reifen dieser Entwicklung, indem er den Absolutismus um den Rest seines militärischen, wirtschaftlichen und moralischen Prestiges brachte. Die Unsicherheit, die infolge der asiatischen Niederlagen und der Gärung im Lande bei den Gewalthabern einriss, ihre Entmutigung und Verwirrung nach dem Tode Plehwes, das augenblickliche Nachlassen der Zügel und die Politik der Scheinkonzessionen, zu denen sich die Regierung auch unter dem Eindruck dieses Attentats entschloss, sind einige der wichtigsten Faktoren, die den Ausbruch der proletarischen Erhebung ermöglichten und begünstigten. Die Veranlassung zur Erhebung war ebenso unscheinbar, wie dies bei fast allen bedeutenden geschichtlichen Ereignissen der Fall gewesen ist. Die geheime Organisation der Petersburger Scharfmacher beschloss, die Mitglieder von Gapons Arbeiterverein aus den Fabriken hinauszuwerfen; die Entlassung einiger Arbeiter der Putilow-Werke war ihr erster Schritt. Dies bildet den Ausgangspunkt einer Bewegung, die Millionen von Menschen umfassen und den ersten entschiedenen Schritt Russlands auf der Bahn der politischen Revolution zur Folge haben sollte. Aus Solidarität mit den Entlassenen traten ihre Arbeitskollegen in den Ausstand, und in wenigen Tagen legten sämtliche 12.000 Arbeiter dieses Riesenbetriebes die Arbeit nieder. Am 17. Januar breitete sich die Streikbewegung unter den Arbeitern andrer Gewerbe aus, unter anderem auch in einigen Werft- und Eisenbahnwerkstätten. Am Abend des 20. umfasste der Streik mindestens 75.000, am 22. war er zu über 200.000 Mann angeschwollen. Fast die gesamte Tagespresse musste ihr Erscheinen einstellen; in allen Fabriken und Betriebswerkstätten ruhte die Arbeit, auch in solchen, in denen nur Weiber und Kinder beschäftigt werden. In diesen Tagen nahm die Bewegung unter dem Einfluss der Sozialdemokratie einen politisch-revolutionären Charakter an. Neben den an die Unternehmer gerichteten. die Arbeitsbedingungen betreffenden Forderungen erhoben jetzt die Streikenden den Ruf nach einer konstituierenden Versammlung und einer demokratischen Verfassung: das Proletariat der Hauptstadt hatte mit dem Streik als wichtigste Kampfeswaffe dem Absolutismus den offenen Krieg erklärt. Der 22. Januar kam und brachte das furchtbare Gemetzel unter den zum Zaren um Hilfe und Rettung in kindlicher Arglosigkeit hinziehenden Scharen. Die Petersburger Arbeiterschaft aber blieb trotz des erlittenen entsetzlichen Aderlasses standhaft, und es gelang nicht, sie zum Abbruch des Streiks zu zwingen. An jenem Tage ging die Sonne des Zarismus unter, das alte Seelenleben des Volkes schwand dahin eine schwere Vergangenheit von grauer Unwissenheit, naiver Anbetung, kindlich-mystischem Aberglauben, Ehrfurcht und Demut. Und es ging auf die Sonne des proletarischen Klassenbewusstseins – endlich dämmerte für Russland der Tag. Die Salven, die am 22. Januar 2000 wehrlose Männer, Frauen und Kinder niederstreckten, gaben das Signal zu einer revolutionär-politischen Streikbewegung, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. In wenigen Tagen erstreckte sie sich von Petersburg bis zum Kaukasus, von Polen bis Ostsibirien; überall wo im unendlichen russischen Reich Fabriken oder Werkstätten, Gruben oder Werften vorhanden sind, überall wo Proletarier leben, entstanden den Gemordeten Tausende von Rächern, erhob sich gegen den Absolutismus eine drohende Armee von todesmutigen Kämpfern. Und überall war der politisch-ökonomische Streik, in der Regel mit Versammlungen, Demonstrationen, politischen Reden auf den Straßen verbunden, wie ein zweischneidiges Schwert zugleich gegen die politische Tyrannei und die kapitalistische Ausbeutung gerichtet. Mit festem Fuße hatten die russischen Arbeiter die politische Arena betreten. Schon am 23., dem Tag nach dem Petersburger Blutbad, brach der Streik in Moskau und Kowno aus, als unmittelbare Antwort der russischen Arbeiterschaft auf den bestialischen Unterdrückungsversuch der Regierung. Am 25. umfasste er in Moskau 30.000 Mann. Zur selben Zeit, zwischen dem 24. und 26. Januar, erfasste er Reval und Riga, bald auch Windau und Libau im Nordwesten, das ferne Saratow im Osten und die Eisenbahnwerkstätten der Linien Kursk-Brest und Moskau-Kasan. Am 27. gab es in Petersburg trotz des Schreckensregiments Trepows, der Füsilladen, der Verhaftungen und der Deportationen nach den Dörfern, noch 150.000 Streikende; anfangs Februar war ihre Zahl auf 20.000 gesunken, gegen Mitte des Monats jedoch wieder auf 40.000 angeschwollen. Unter ihnen waren von neuem die Tausende Arbeiter der Putilow-Werke. Unterdessen hatte sich die Bewegung über Estland (Massenstreiks in Narva und Reval), Lettland (lang dauernde Massenstreiks in Riga, Libau, Mitau und Windau), Litauen und Weißruthenien (Massenstreiks in Wilna, Kowno, Grodno, Gomel), an der ukrainischen Küste (Odessa), auf der Krim (Kertsch), in Georgien (Tiflis, Batum, Kutais) und Armenien (Baku) ausgebreitet, vor allem in Polen aber einen neuen, gewaltigen Herd gefunden. Am 27. Januar begann der Streik in Warschau und Lodz, schon am selben Tage umfasste er hier wie dort an 100.000 Arbeiter. Mit reißender Schnelligkeit verbreitete er sich über sämtliche polnische Fabrik- und Bergwerksdistrikte, unter andern in Czenstochowa, Pabianice, Radom, Dombrowa und Sosnowice. Die Gesamtzahl der Streikenden in Russisch-Polen wird auf mindestens eine halbe Million angegeben. Im Ganzen dehnte sich die Streikbewegung über 150 Städte aus und dauerte länger als anderthalb Monate mit unverminderter Kraft. Es gab gewissermaßen nicht eine Industriestadt im europäischen Russland, in der nicht die gesamte Arbeiterschaft oder doch wenigstens die einiger wichtigerer Zweige die Arbeit niedergelegt hätte. In vielen Gegenden dauerten die Streiks der Fabrik- und Grubenarbeiter mehrere Wochen. Während der zweiten Hälfte des Februar pflanzte sich die Bewegung unter neuen Kategorien von Arbeitern, Angestellten und Beamten fort. Außer den eigentlichen Handarbeitern streikten in vielen Städten Apotheker, Kommis, Angestellte der Banken; in einem Falle sogar die Polizei. Ein neues Zentrum erwuchs der Bewegung in dieser Zeit im Dongebiet, wo anfangs März an 250.000 Arbeiter sich im Ausstand befanden. Das wichtigste Geschehnis jener Tage jedoch sind die gegen Ende Februar immer häufiger werdenden Eisenbahnerstreiks. Anfang März umfassten sie, außer dem kaukasischen Gebiet, dreizehn Eisenbahnlinien, worunter Moskau-Kasan, Moskau-Windau, Moskau-Kiew, Moskau-Warschau, Rostow-Wladikawkas, die Weichselbahn usw. Bis weit nach Sibirien pflanzte sich der Eisenbahnerstreik fort; auch unter den Arbeitern der Eisenbahnen oder der Eisenbahnwerkstätten von Krasnojarsk und Tschita in Transbaikalien brach er aus. Eisenbahnlinien, die sich über Tausende von Werst hinziehen und die wichtigsten Bevölkerungszentren verbinden, mussten den Verkehr vollständig einstellen. Sowohl der Warentransport wie die Beförderung der Passagiere hörte auf; in den Depots und Werkstätten ruhte die Arbeit vollständig. Vor allem wurde der Getreidehandel schwer getroffen; eine große Menge Getreide, die nicht weiterbefördert werden konnte, verfaulte auf den Bahnhöfen. Man schätzt den Verlust auf mehr als 100.000 Tonnen. Die in riesenhafte Dimensionen gewachsenen Eisenbahnerstreiks wurden zu einer der mächtigsten Waffen im Kampfe gegen den Absolutismus. Sie bedrängten die Regierung so sehr, dass sie die „Militarisation“ der Arbeiter aller Eisenbahnen, außer denen der mittelasiatischen Linien, befahl, also den Kriegszustand über das gesamte Bahngebiet des Reiches proklamierte. Anfang März militarisierte sie, um auch den Petersburger Streiks ein Ende zu machen, sämtliche Arbeiter der dortigen Staatsfabriken. Nachdem die erste grandiose Streikwelle von Januar-Februar ganz Russland erschüttert hatte, trat während der Monate März-April eine gewisse Ruhepause ein. Unter dem Eindruck der Niederlage von Mukden und der 1.-Mai-Feier nahm die Bewegung wieder einen neuen Aufschwung. Der Mai sah unter anderem die Generalstreiks am ersten und vierten des Monats in Warschau, den Massenstreik der Bäcker in Moskau, die Generalstreiks in Odessa und Petersburg. Anfang Juli folgen dann die mit offenem Aufstand verbundenen Massenstreiks in Odessa, später im Sommer die fast ununterbrochenen Unruhen im Kaukasus. In Warschau wird der eintägige politische Generalstreik zu einer ständigen Einrichtung, durch die das Proletariat gegen die schändlichen Maßnahmen der Regierung protestiert so gegen die Mordtaten der Soldateska am ersten Mai, so gegen den Justizmord des Genossen Kasprzak. Im August gab es eine neue Streikwelle in den Ostseeprovinzen, dort dehnte sich der Lohnkampf, der mit kurzen Unterbrechungen den ganzen Frühsommer durch getobt hatte, wieder zu den gewaltigen Dimensionen eines Massenstreiks mit Zehntausenden von Teilnehmern aus. Heute (Anfang Oktober) liegen neue Meldungen von Massenstreiks in Moskau vor, die zum Generalstreik auszuwachsen drohen.G Aus dieser höchst lückenhaften Übersicht, die gleichsam nur die wichtigsten Punkte der Streikbewegung vor Augen führen will, geht jedoch deutlich die allgemeine Tatsache hervor: wenn man unter „Generalstreik“ nur einen Streik versteht, der die große Mehrzahl der Arbeiter eines Landes gleichzeitig umfasst, und unter politischen Streik nur den Ausstand, der sich ausschließlich gegen die politische Gewalt mit einer gleichen, allgemeinen Forderung richtet, so ist der russische Streik weder Generalstreik noch politischer Streik. Es handelt sich nicht um einen geplanten und organisierten, regelmäßig verlaufenden Riesenstreik, der sich gleichzeitig über das gesamte Gebiet des Reiches erstreckt, ebenso wenig aber besteht er aus einer Reihe nacheinander verlaufender Ausstände in verschiedenen Orten. Vielmehr flutet die Bewegung rastlos auf und ab, wird hier schwächer, um dort in hohen Flammen aufzulodern, wendet sich von Nord und West nach Süd und Ost, um wieder auf ihre Bahnen zurückzukehren und auf den alten Brandstätten von neuem auszubrechen. Sie erfasst unaufhaltsam neue Gebiete und neue Berufe, kehrt aber auch jedes Mal zu den früheren zurück, um. wie ein nie völlig gelöschter Brand, zum dritten oder vierten Male empor zu lodern. So bei den Arbeitern der Putilow-Werke zu Petersburg, den Gewerbearbeitern zu Warschau und den Druckereiarbeitern zu Lodz, die mit kurzen Unterbrechungen drei-, vier- und mehrmals hintereinander in den Ausstand traten. In diesem unentwirrbaren Ungeheuer von einander kreuzenden und ablösenden, großen und kleinen, auf- und nieder flutenden Streiks gibt es keine sich gleich bleibende, klar und laut ausgegebene Kampfparole, sondern es sind, wie Stimmen im Sturm, eine Anzahl verschiedener Losungen vernehmbar. Lohnerhöhung, Herabsetzung der Arbeitszeit, Achtstundentag, Ende des Krieges, Versammlungs- und Vereinsrecht, nationale Autonomie, Gleichberechtigung der Sprachen, Einberufung eines Volksparlaments zur Ausarbeitung einer Verfassung sind einige der wichtigsten Losungsworte. Aber wie die tausend Stimmen im Sturm immer wieder zu einem übermächtigen Klang vereint ertönen, so klingt ein einziger Wille aus all den verschiedenen Forderungen, die dem revolutionären Drang nach Abhilfe wirtschaftlichen, sozialen und politischen Drucke entspringen, der Wille zur Niederwerfung des Absolutismus. Wohl werden manchmal von der einen oder andern Arbeiterkategorie nur ökonomische Forderungen erhoben. Aber selbst wenn die Unternehmer diese erfüllen, beharren sie dennoch im Ausstand oder fangen ihn nach einiger Zeit der Arbeit von neuem an. Die Arbeitsstockung wird zum gewöhnlichen Zustand der Gesellschaft, nur von kurzen, unruhigen Arbeitsepochen unterbrochen. Jede andauernde Arbeitsverrichtung hat aufgehört, und die fortwährende Unsicherheit und Unruhe, das Bewusstsein, jede Stunde vor neuen Ausbrüchen, neuen Verwicklungen stehen zu können, erfüllt Unternehmer wie Regierung mit solchem Unwillen und solcher Ratlosigkeit, dass sie manchmal lieber dazu übergehen, die Werke zu schließen, wie es am 1. März in Petersburg bei den Putilow-Werken und auf der Newski-Werft auf einige Zeit geschah. Die immer zunehmende Gärung, die Lösung aller Bande des gesellschaftlichen Lebens, wie sie aus der Streikbewegung entsteht, trägt die Krise in immer weitere Kreise hinein und desorganisiert das öffentliche Leben mehr und mehr. Die Universitäten werden geschlossen, in Polen erfasst die Bewegung das ganze Schulwesen, jeder Unterricht hört auf.H Verschiedene Semstwos erklären sich außerstande, in der allgemeinen Unruhe die Verwaltung weiterzuführen. Aber den Gipfel der Desorganisationsarbeit bilden die Eisenbahnerstreiks. Es dauerte einige Zeit, bis sich die Welle unter diesen in halb militärischer Zucht stehenden und mehr oder weniger von ihren Klassengenossen isolierten Arbeitern fortpflanzte. Desto verhängnisvoller erwiesen sich aber dann die Wirkungen des Eisenbahnerstreiks für den schon geschwächten und demoralisierten Absolutismus. Bis dahin vermochte der Staat doch noch seine Glieder zu rühren und mit Hilfe der Militärgewalt, wenn nicht der Streikbewegung Herr zu werden, so doch seine Herrschaft ihr gegenüber zu behaupten. Durch den Eisenbahnerstreik änderte sich aber die Lage total. Die Staatsmaschinerie ward zum Stillstand gebracht, die noch immer ansehnlichen Repressionsmittel, über die der Absolutismus verfügt, halfen ihm nicht mehr. Das zur Herstellung der „Ruhe“ notwendige Militär konnte nicht befördert werden, die entlegenen Gebiete sind von der Zentralgewalt abgeschnitten; Polen, der Kaukasus, Sibirien mehr oder weniger auf sich selbst gestellt.I Nach der wirtschaftlichen, der gesellschaftlichen und der administrativen vollzieht sich durch den Eisenbahnerstreik die staatliche Desorganisation. Zu alledem hat er den unschätzbaren Vorteil, die Revolution auf das flache Land zu tragen und damit zu einer Angelegenheit der gesamten Bevölkerung zu machen. Die Bauern, denen man selbstverständlich die erschütternde Tragödie, die sich in fast sämtlichen Groß- und Industriestädten des Reiches zutrug, vorenthielt, konnten sich durch den Stillstand der Eisenbahnen überzeugen, wie weit die Desorganisation der Staatsgewalt schon vorgeschritten ist. Durch die russischen Ereignisse erweist sich der Streik als die entsprechende Form einer jeden Revolution, in der das industrielle, klassenbewusste Proletariat die wichtigste Massenkraft bildet, auch wenn es in ihr nicht für seine letzten Ziele, für die sozialistische Gesellschaftseinrichtung, kämpft. Der Streik als Form der Revolution nimmt selbstverständlich viel heftigere, entschiedenere Formen an, wie die Demonstrationsstreiks sowie die in gesetzlichen Schranken vor sich gehenden Pressionsversuche der letzten Jahre in Westeuropa. Für die kämpfende Arbeiterschaft steht ja beim Revolutionsstreik alles auf dem Spiele; für die Gewinnung einer neuen Staatsordnung wagt sie Freiheit und Leben. Sie scheut sich nicht, im Kampf die alte Gesetzlichkeit zu durchbrechen, weil er ja gerade auf die Errichtung einer neuen Gesetzlichkeit abzielt. Der Streik ist in solchem Falle eine neue, der entwickelten kapitalistischen Produktionsweise und dem modernen Proletariat angepasste Form des Bürgerkriegs, in dem sich die offene Brust und das ungeschützte Herz der bewaffneten Militärmacht gegenübersteht. Nur die Einsicht, durch diese Form der Gewalt nicht siegen zu können, hält das Proletariat vom bewaffneten Aufstand zurück. Wo aber Gewalt die Erreichung des Ziels, den Sturz der Staatsgewalt, näher bringen kann, zaudert das Proletariat nicht, sie zu gebrauchen. Daher die Plünderungen und Brandstiftungen der dem Staat gehörenden Magazine und Branntweindepots, die Beschädigung der Telegraphen und Telefons, die Sprengungsversuche der Eisenbahnbrücken usw. Der revolutionär-politische Streik bedeutet keineswegs ausschließlich die Methode der Passivität, die Revolution der gekreuzten Arme, sondern die Anwendung der ökonomischen Macht der Arbeiterklasse als Hauptmittel – dem alle andern Mittel untergeordnet sind –‚ zu dem Zweck, die Desorganisation der Gesellschaft und des Staates herbeizuführen. Es darf aber nicht vergessen werden, dass, obwohl die russische Streikbewegung in manchen Zügen das Muster jeder künftigen proletarischen Revolution sein mag, diese dennoch in manchen Zügen von ihr abweichen dürfte. Die beiden wichtigsten, bei der Anwendung von Gewalt, in Betracht kommenden Elemente: Armee und Proletariat sehen heute in Russland, das sich erst am Anfang der bürgerlichen Entwicklung befindet, selbstverständlich ganz anders aus, als nach Ablauf vieler Jahrzehnte dieser Entwicklung in Westeuropa, Eine rohe Berufssoldateska, wie die halb-barbarischen Kosaken, die ganz außerhalb der Nation stehen, konnte sich wohl unter dem absolutistischen Regiment behaupten, ist aber mit einem bürgerlichen Staatswesen unvereinbar. Und das russische Proletariat wurde zwar von der großindustriellen Entwicklung zur Einheit und zum aufdämmernden Klassenbewusstsein gebracht, fand aber im absolutistischen Staat den Weg zur Organisation verschlossen; es konnte so gut wie keine Schulung im Massenkampf erwerben und hatte wenig Gelegenheit, Disziplin zu üben. Diese beiden Umstände machen die häufige Anwendung von Gewalt, das Hervortreten und Überwiegen gewalttätiger Kampfmethoden in der russischen Revolution begreiflich. Das dem Proletariat eigentümliche Machtmittel: die Organisation befindet sich noch in den Kinderschuhen, wenn es sich auch im Verlauf der russischen Revolution mit reißender Schnelligkeit entwickelt. Die Grausamkeit, mit der Polizei und Militär auch gegen Unbeteiligte, Weiber und Kinder in zahllosen Fällen vorgehen – gab es doch während der letzten Monate nicht weniger als hundert Fälle blutiger Zusammenstöße der Bürger mit den Truppen – die Hetzjagden des zu diesem Zweck in den „schwarzen Hunderten“ organisierten Gesindels und verkommenen Kleinbürgertums gegen Intellektuelle, Juden, Armenier und Arbeiter, – die von den Werkzeugen der Reaktion verübten häufigen Massaker – dies alles erzeugt selbstverständlich im Volk die tiefste Erbitterung. Diese macht sich in den vielen Attentaten auf Beamte, Polizeichefs, Offiziere, höhere und niedere Spitzel Luft. Die Attentate werden zum gewöhnlichen Verteidigungsmittel der Arbeiter gegen den „weißen Terror“, Bomben werden eifrig verfertigt,J die Dynamitwerkstätten hören auf, ein Zubehör kleiner terroristischer Organisationen zu sein. So versucht die russische Arbeiterschaft, diejenigen Gruppen der Bevölkerung, die zu Helfershelfern der Regierung gesunken sind, deren Gewinnung für die heilige Sache des Volkes ausgeschlossen scheint, auf dem Wege der Gewalt einzuschüchtern. Daneben geht aber ohne Unterlass die Methode des friedlichen Einwirkens auf das Militär, die Aufklärung durch unermüdliche schriftliche und mündliche Agitation, deren Erfolge in den letzten Monaten sich in einer ganzen Reihe von Militäraufständen dokumentierten. ★ ★ ★ Es bleibt jetzt noch übrig, einige allgemeine Schlussfolgerungen aus den vorgeführten Tatsachen zu ziehen. Das erste, was aus ihnen hervorgeht, ist die zunehmende Häufigkeit, womit das Kampfmittel des politischen Massenstreiks vom Proletariat angewendet wird. Vor zwölf Jahren war noch kein einziger derartiger Versuch gemacht worden, von 1893 bis 1901 gibt es bloß einen, in die Jahre 1902 bis 1905 aber fallen nicht weniger wie fünf politische Massenstreiks: vom reinen Manifestationsstreik der schwedischen Arbeiter bis zur revolutionären Streikbewegung des russischen Proletariats. Des weiteren zeigt sich, dass der politische Streik, anfänglich aufgekommen als außer-legales Mittel, den legalen Boden für den politischen Klassenkampf, das allgemeine Wahlrecht zu erobern, im Laufe der Entwicklung auch als Abwehrmittel gegen Eingriffe auf bestehende Rechte zur Anwendung kommt. Der Arbeiterklasse wird offenbar der Gebrauch dieses neuen Kampfmittels in ganz verschiedenen Situationen und bei durchaus abweichendem Entwicklungsgrad der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse allgemein aufgedrängt. Die Theorie hat, wie immer, nur die vorhandenen Tatsachen und Ansätze zu studieren und aus ihnen die Richtung der weiteren, wahrscheinlichen Entwicklung abzuleiten. Aus der Prüfung dieser Tatsachen ergeben sich folgende Gründe für die Anwendung und zunehmende Häufigkeit des politischen Massenstreiks. Unter dem Einfluss der kapitalistischen Entwicklung und der sozialistischen Propaganda wird in der Arbeiterschaft das Bedürfnis nach Hebung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage immer dringender. Das Selbstgefühl wächst; das Verlangen nach Erringung und Sicherung politischer Rechte und Freiheiten nimmt mehr und mehr zu. Das Netz der politischen und gewerkschaftlichen Organisation verdichtet sich, das Proletariat wird sich seiner realen Macht mehr bewusst. Das wachsende Bedürfnis nach mehr Rechten und größerer Freiheit, das zunehmende Selbstbewusstsein des Proletariats hat aber keineswegs ein Abnehmen des Widerstandes bei den herrschenden Klassen zur Folge. Im Gegenteil: sie sträuben sich mit der größten Hartnäckigkeit gegen jede Erweiterung und Sicherung der gesetzlichen Kampfmittel des Proletariats. Die politische Organisation seiner Klasse, die Sozialdemokratie, verliert scheinbar an parlamentarischem Einfluss, je mehr die Zahl seiner Anhänger zunimmt und je wichtiger seine gesellschaftliche Stellung wird. In manchen Fällen sogar bemühen sich da die Regierungen, den Rechtsboden, dessen die Arbeiterschaft zum Klassenkampf bedarf, einzuengen und zu zertrümmern. Der politische Massenstreik erscheint als das Resultat des Wirkens beider Faktoren; er ergibt sich sowohl aus der wachsenden Angriffskraft, dem gesteigerten Klassenbewusstsein des Proletariats wie aus dem zunehmenden Widerstand der herrschenden Klassen. Er wird unter bestimmten geschichtlichen und politischen Bedingungen, wenn die Gärung und Erregung der Massen den Siedepunkt erreicht, mit Naturnotwendigkeit zur Erscheinungsform der sozial-politischen Krise, der scharfen Zuspitzung der Verhältnisse im Klassenkampf. Was nun den Verlauf des politischen Massenstreiks anbetrifft, so erweisen die vorgeführten Tatsachen, dass seine Aussichten am wenigsten günstig sind, wenn er innerhalb des Rahmens der Gesetzlichkeit Reformen erzwingen und gefährdete Rechte sicherstellen will, im Gegensatz zum Streik, der sich damit begnügt, Protest oder Manifestation zu sein, ohne der Staatsgewalt den offenen Kampf anzubieten. Der glänzende Verlauf des Manifestations- und Proteststreiks in Schweden und Italien brachte dem Proletariat dieser Länder einen unverkennbaren Zuwachs an Selbstbewusstsein und eine Stärkung ihrer gesellschaftlichen Stellung. Die in ihren Formen und Zielen von diesen friedliebenden Demonstrationsstreiks am weitesten entfernte russische politisch-revolutionäre Streikbewegung zeigt auf der andern Seite die kolossalen Wirkungen dieser Waffe – sogar in den Händen einer prozentual schwachen und wenig kampfgeübten Arbeiterschaft. Dagegen verliefen die zwischen den äußersten Grenzen des friedlichen Pressions- und des politisch-revolutionären Streiks liegenden Versuche, mit einer einzigen Ausnahme (der belgische Streik von 1893), erfolglos und endeten mit einer gänzlichen Niederlage des Proletariats. Diese Ausnahme aber war der erste Fall, in dem der politische Streik überhaupt zur Anwendung kam. Er überraschte die herrschenden Klassen in hohem Masse, obwohl er von den belgischen Arbeitern lange vorher beschlossen war. Bei dem zweiten belgischen und dem holländischen Streik dagegen waren die Regierungen, die den Ausbruch kommen sahen, vollkommen gerüstet und hatten die ausgiebigsten Maßnahmen zum Schutz der Arbeitswilligen, zur Heranziehung von Militär zu Streikbrecherdiensten usw. getroffen. II. Die angebliche Unmöglichkeit des politischen Massenstreiks „Ebenso unmöglich wie unnötig“ so lautet die allgemeine Formel, mit der die unbedingten Gegner des politischen Massenstreiks ihre Einwendungen kurz zusammenfassen. Unter unmöglich verstehen sie natürlich nicht, dass jeder Versuch zum politischen Massenstreik zukünftig unterbleiben wird, sondern dass ein Gelingen dieser Versuche unbedingt ausgeschlossen ist. Ehe wir uns den positiven Bedingungen des Massenstreiks zuwenden, ist es notwendig, die Gründe, die zu seiner angeblichen Unmöglichkeit angeführt werden, kennen zu lernen. Wir werden dazu vornehmlich jenen Genossen das Wort geben, die diese Gründe in der Enquete des Mouvement Socialiste sowie bei der Diskussion in unserer Parteipresse verfochten haben. Zwar unterscheiden nicht alle Gegner des politischen Massenstreiks immer genau zwischen ihm und dem revolutionär-ökonomischen Generalstreik. Wir werden aber diese Verwirrung so viel wie möglich abstellen, indem wir nur die hauptsächlich den politischen Massenstreik treffenden Einwendungen anführen. Das erste Argument gegen den politischen Massenstreik lautet, er sei eine Kraftprobe zwischen Regierungsgewalt und Proletariat, die immer zugunsten der Regierungsgewalt ausfallen müsse, weil das Proletariat unbedingt die schwächere Partei sei. „Jeder Konflikt dieser Art“, schreibt W. H. Vliegen im Mouvement Socialiste, „wird zu einem Kampf, der in letzter Instanz immer nur diese eine Frage stellt: wer ist stärker, die Regierung oder die Arbeiterbewegung? Nun, die letztere ist die schwächere und sie wird es bleiben, solange sie der herrschenden Klasse nicht ebenbürtig an Anhängern und Organisation ist. Jeder Kampf, der zum Ziel hat, die Regierung durch irgend ein außerparlamentarisches Mittel zu zwingen, irgend etwas zu tun oder zu lassen, hat schließlich die Macht im Staate zum Kampfobjekt.“ Für Vliegen ist diese Übermacht der Regierung dem politischen Streik gegenüber selbstverständlich.K „Denn die Arbeitseinstellung wird nie allgemein genug sein, die Regierung zur Kapitulation zu zwingen. Es wird nicht jedermann streiken. Sogar bei günstigen Verhältnissen wird noch eine beträchtliche Zahl von Arbeitern bei der Arbeit bleiben. Zur Not kann ein jeder sein eigenes Brot backen. Schifffahrt und Verkehrswesen sind militärisch in Betrieb zu erhalten. Zwar stehen die großen Betriebe still, aber es ist unmöglich, dass die Produktion vollkommen stockt. Trotz der intensivsten Agitation wird es immer Distrikte geben, wo man sogar über das Durchschnittsmaß produzieren wird. Ja, im Herzen einer jeden Stadt wird die Industrie bis zu einem gewissen Grade in Bewegung bleiben.“ Dieselben Anschauungen in Bezug auf Deutschland vertritt W. Düwell in der Neuen Zeit. Auch ihm scheint ein Arbeiterausstand, der die große Masse der Arbeiter umfasst, vor der Hand unmöglich. Noch mehr: er leugnet sogar für Deutschland, das heißt in einem Lande starker gewerkschaftlicher Organisation, die Möglichkeit eines allgemeinen ökonomischen Streiks auch nur in einem einzigen Erwerbszweig. Und dies auf Grund der großen Macht der christlichen Gewerkschaften, in welcher die Arbeiter vom Klerus beherrscht, im bewussten Gegensatz zur modernen Arbeiterbewegung erzogen werden, „Wenn der Klerus in einem gegebenen Moment eine Aktion der Arbeiter als gegen die Interessen der Kirche und Religion gerichtet interpretiert, die Schlachtordnung wäre auseinander gerissen; viele Tausende, Hunderttausende, die sich spontan der Bewegung angeschlossen haben könnten, würden abfallen, reuig dem klerikalen Gebot folgen. Aber es würde so weit gar nicht kommen. Ein spontaner Streik müsste, weil ihm jede Vorbedingung eines Sieges fehlt – wenn man nicht in einem ein-, zwei-, dreitägigen Generalstreik, der nicht in Blut und Eisen untergeht, oder nicht den Hunger als Bezwinger sieht, einen erstrebenswerten Sieg erblickt – bald ergebnislos verlaufen; einem organisierten Generalstreik würden sich die Hunderttausende Mitglieder kirchlicher Organisationen überhaupt nicht anschließen.“ (Neue Zeit, Jahrgang 23, Bd. I, Nr. 8. S. 250. W. Düwell: Zur Frage des Generalstreiks.) Düwell findet es widersinnig, einen politischen Streik zu wagen, solange nicht die katholischen Arbeiter zum Klassenbewusstsein erwacht sind, das heißt, sich der Sozialdemokratie angeschlossen haben. Aber auch dann noch, meint er, wird der Streik nicht allgemein genug sein, den herrschenden Klassen ernste Verlegenheiten zu bereiten. Es gibt außer den in den christlichen Gewerkschaften organisierten Arbeitern noch viele andre, die dem Kapital mit Leib und Seele ergeben sind. „Angenommen, es könnte gelingen, die uns bewusst Gegenüberstehenden für einen Generalstreik zu begeistern, dann haben wir immer noch nicht die Indifferenten. Deren Zahl ist groß! Zu diesen treten noch die „Entmannten“, diejenigen, die durch den Druck des Kapitals jede Willenskraft eingebüßt haben. Zu diesen gehören ziemlich alle die „Jubilare“, die sich seit zwanzig Jahren auf ein und demselben Werke quälen und dabei auch noch die Wohlfahrtskette nachschleppen. Eine Arbeitseinstellung passt gar nicht in die Vorstellungswelt solcher Leute, obendrein ist ihre stete Sorge die, nichts zu tun, was sie eventuell um den Genuss der durch die so genannten Wohlfahrtskassen in Aussicht gestellten Vorteile bringen könnte. Für viele Fabrikwohnungsinhaber genügt das Bewusstsein, mit Lösung des Arbeitsvertrags auch sofort die Wohnung räumen zu müssen, um jeden Gedanken, gegen den Unternehmer irgendwelche oppositionelle Tat zu wagen, zurückzuweisen. Es kommt hinzu, dass in der Verarbeitungsindustrie die Möglichkeit gegeben ist, im Falle der Not für einen großen Teil der Produktion schnell ungelernte Arbeiter für die verschiedenen Arbeitsphasen anzulernen. Das ist für solche Arbeiter immerhin mit einer relativ erheblichen Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage verbunden. Man würde genug Leute finden, die eine so günstige Gelegenheit nicht verschmähen würden.“ (S. 251). Schwerer noch, als die Arbeiter zu gewinnen, wird es sein, sie während mehrerer Wochen so zusammenzuhalten, wie es, soll der Streik einige Aussicht auf Erfolg haben, nach der Ansicht dieser Genossen unbedingt notwendig wäre. Das Bild eines politischen Massenstreiks, wie es hier dargestellt wurde, hat für die herrschenden Klassen wenig Erschreckendes. Die Menge der Anhänger der christlichen Gewerkschaften, die zahlreichen Indifferenten und Schwächlinge bleiben bei der Arbeit; die ungelernten Arbeiter nehmen die Plätze der gelernten ein. In keinem Produktionszweig wie an keinem Orte stockt die Produktion vollständig, vielmehr wird sie überall, wenn auch nicht ohne Mühe und Not, aufrecht erhalten, in den zurückgebliebenen Gegenden sogar über das Durchschnittsmaß erhöht. Mit dem Verkehrswesen hat es ebenfalls keine Gefahr, da es militärisch in Betrieb erhalten wird. Nun, ein solcher Massenstreik wird Staat und Bourgeoisie keine allzu große Sorge machen! Die kapitalistische Gesellschaft wird mit ihm ohne viel Mühe fertig werden. Was Vliegen und Düwell da beschreiben, ist ein misslungener Streikversuch. In der Darstellung dieser Genossen zeigt der politische Massenstreik den herrschenden Klassen ein sehr unschuldiges Gesicht. Dies aber ändert sich, sobald es sich um seine Konsequenzen für das Proletariat handelt. Obgleich eine große Anzahl Arbeiter bei der Arbeit bleibt, wird das Proletariat als Konsument von den Folgen der Teuerung doch auf das schwerste betroffen. Hunger und Kälte herrschen in seinen Reihen und treiben es unwiderstehlich zur Durchbrechung der bürgerlichen Rechtsordnung, zur Gewalt. „Wenn die Produktion stockt“, schreibt Vliegen, „wird jede soziale Existenz unmöglich. Keine Lebensmittel auf dem Markte, Schifffahrt und Eisenbahnverkehr sind unterbrochen; die Hungersnot hebt an; die Kälte fordert ihre Opfer. Ja, wer wird zuerst dem Hunger ausgesetzt sein? Der Proletarier. Wer wird zuerst frieren müssen? Der Proletarier. Gewiss, die ganze Gesellschaft wird einer schrecklichen Krisis ausgesetzt, aber wie bei allen Krisen ist es der Proletarier, der am ersten und schwersten leidet.“ (Neue Zeit, Jahrgang 22, Bd. I, Nr. 7.) „Ein Generalstreik, der diesen Namen verdient, muss notwendigerweise zur gewaltsamen Revolution treiben, aber in den ungünstigsten Verhältnissen, die man sich denken kann. Denn es ist nicht die besitzende Klasse, die am meisten von dem Mangel an Lebensmitteln, Kleidern und Heizung heimgesucht wird; sie ist es nicht, die zuerst Mangel an ärztlicher Hilfe und Arzneien erleiden wird, oder deren Straßenviertel sich in einem Zustand gesundheitsgefährlichen Schmutzes befinden werden. Das ganze Gewicht des Mangels an Lebensmitteln und der Not wird also in diesen Tagen der Teuerung auf die Arbeiterklasse fallen, Die herrschende Klasse wird zur Not mit bewaffneter Hand die Läden der paar Arbeiterkonsumgesellschaften leeren, auf welche Hunderttausende von Arbeiterfamilien für ihre Subsistenz angewiesen sind. Die Reichen können das Land verlassen, sobald der Streik ausbricht, die Arbeiter müssen bleiben und werden fürchterliche Not leiden. Die herrschende Klasse wird nicht zögern, wo es sich um ihre Existenz handelt, die Maschinisten mit vorgehaltenem Revolver zu zwingen, die Lokomotive zu führen, Die Leiden werden die Armen zur Verzweiflung treiben, Hungerrevolten sind gewiss. Plünderung ist unvermeidlich; das Gewehr wird reden, die Mitrailleuse sich hören lassen,“ (H. van KoI, Mouvement Socialiste, S. 232-233.) Aber die Regierungen werden diese unvermeidlichen Gewalttätigkeiten nicht einmal abwarten, um den Streik niederzuschlagen. In den Sozialistischen Monatsheften (November 1904) führt J. Leimpeters aus, wie die Staatsgewalt sofort nach der Proklamierung des Streiks den Belagerungszustand verhängen, das Versammlungsrecht aufheben und jede Beratschlagung unmöglich machen wird. Der Streik würde der Reaktion in die Hände spielen! „Jetzt oder nie, würde die Parole der Junker und Junkergenossen heißen, jetzt liegt die Hydra besiegt am Boden, jetzt wollen wir ihr die Köpfe zertreten.“ Zwar spricht Leimpeters hier nur über deutsche Verhältnisse. Genosse Hyndman aber ist der Ansicht, dass der politische Massenstreik überall zum gewaltsamen Eingreifen der Regierung führen muss, wenn nicht schon zuvor die Not und die Rücksicht auf Frauen und Kinder die Kämpfenden zur Kapitulation zwingen werden. „Ein Generalstreik, das heißt eine gänzliche Unterbrechung der Produktion durch das gesamte Proletariat eines Landes, endet notwendigerweise mit der Anwendung von Gewalt, zuerst von den herrschenden Klassen und der Regierung, dann auch von der Arbeiterklasse angewendet, die sich verteidigen muss.“ Aber, darf man fragen, wird eine Regierung nie Anstand nehmen, in Zeiten allgemeiner Erregung mit brutaler Willkür vorzugehen, solange sich die Massen friedlich verhalten? Wird sie nie zu fürchten haben, dass unter gewissen Umständen die öffentliche Meinung sich gegen diejenigen kehrt, die zuerst Gewalt anwenden? Nein, antworten die Gegner des politischen Streiks, eine Regierung wird dies nie zu fürchten brauchen, denn die öffentliche Meinung wird immer gegen die Arbeiter sein und jede Aktion zur Unterdrückung des Streiks billigen. „Schon die Drohung eines solchen Streiks wird die Zwischenklassen, den Mittelstand, unsern Feinden in die Arme treiben, denn diese zahlreiche Klasse wird die ersten Schläge empfangen und von Hass erfüllt sein gegen das Proletariat, die Ursache seiner Leiden. Alles, was nicht vollkommen sozialistisch ist, und das wird während langer Zeit die große Mehrheit der Nation sein, wird sich gegen uns erheben und den Feind verstärken, der über die Regierungsgewalt wie über das Heer verfügt.“ (Van Kol, Mouvement Socialiste, S. 233.) So sind wir wieder bei unserm Ausgangspunkt angelangt. Das Proletariat wird den politischen Massenstreik nie siegreich durchführen, weil es allein zu schwach ist, von einer etwaigen Unterstützung aber durch andre Klassen keine Rede sein kann. Die Arbeitseinstellung wird nicht allgemein genug sein, um den herrschenden Klassen ernstlichen Schaden zuzufügen, noch weniger deren Existenz in Frage zu stellen. Das Proletariat aber wird schrecklichem Elend verfallen, der Hunger wird die Arbeiter zur Verzweiflung treiben. Der Staat wird sie, mit Zustimmung der ganzen Gesellschaft, gewaltsam niederwerfen und ihr sinnloses Beginnen im Blute ersticken. So kann nicht nur, nein, so muss jeder ernstliche Versuch eines politischen Streiks aussehen. Eine kurze Betrachtung dieser Einwendungen lehrt uns, dass es den Verfechtern dieser Anschauung an Logik mangelt. Die absoluten Gegner des politischen Streiks sind so eifrig bemüht, alle seine Schattenseiten herauszufinden, dass sie nicht bemerken, wie das zweite Glied ihrer Beweisführung zu dem ersten nicht passen will. Denn eins von beiden: entweder die Arbeitseinstellung ist allgemein (was nicht gleichbedeutend zu sein braucht mit absolut) oder sie ist nicht allgemein. Ist sie so allgemein, dass Produktion und Verkehr stillstehen, Mangel an Lebensmitteln eintritt usw., dann leidet das Proletariat, aber der Streik übt die beabsichtigte Wirkung aus (wenn er auch deswegen noch keineswegs sein Ziel erreichen muss). Staat und Gesellschaft werden erschüttert und desorganisiert. Ist sie aber nicht allgemein genug, bleiben Produktion und Verkehr einigermaßen im Gang, nun wohl, dann misslingt der Streik, die gesellschaftlichen Folgen, die es zu erreichen beabsichtigte, bleiben aus. Dann kann es wohl eine gewisse Preissteigerung, kann es unter dem Proletariat Mangel und Entbehrung geben, zum schrecklichen Elend aber, zur Hungersnot mit ihren Konsequenzen, wird es schwerlich kommen, also auch die Hungerrevolte, der Verzweiflungsausbruch ausbleiben. In diesem Falle aber scheint es nicht sehr wahrscheinlich, dass Staat und Gesellschaft den an und für sich schon machtlosen Streik mit äußerster Anstrengung, mit Blut und Eisen, niederschlagen werden. Es würde dies eine sehr schlechte Taktik sein und das beste Mittel, das Proletariat zu erbittern, ihm den Zusammenhang beizubringen, der ihm offenbar noch fehlte. Vielmehr ist wahrscheinlich, dass der Staat einem misslungenen Streik ruhig zusehen wird, bis die Not die Arbeiter wieder unters Joch zwingt.L Also: der Streik kann misslingen dadurch, dass er nicht allgemein genug ist – oder, wenn er allgemein ist, kann er entweder durch die physische Erschöpfung des Proletariats zusammenbrechen oder gewaltsam unterdrückt werden. Unwahrscheinlich aber ist, dass er an diesen beiden Umständen zugleich scheitern wird. Aber selbst wenn er an einer dieser Möglichkeiten scheitern kann, so muss das doch nicht notwendigerweise eintreffen. Sein Gelingen ist nicht, wie wir im Folgenden ausführen werden, von vornherein unter allen Umständen ausgeschlossen. Es ist dabei vor allem wichtig, uns klar darüber zu werden, was der politische Massenstreik bezweckt und welches sein erreichbares Ziel ist. III. Ziel und Formen des politischen Massenstreiks Der politische Massenstreik kann, wie die Erfahrung lehrt, vom Proletariat in mannigfachen Situationen angewendet werden, aus mancherlei Verhältnissen entspringen und mancherlei Ziele ins Auge fassen. Je nach Lage, Verhältnissen und Ziel wird aber sein Inhalt, seine Bedeutung völlig verschieden sein. Er kann am Anfang des politischen Klassenkampfes des Proletariats bezwecken, eine parlamentarische Gestaltung möglich zu machen; er kann im Verlauf dieses Kampfes angewendet werden, um gefährdete Rechte sei es vor reaktionären Eingriffen, sei es vor der Brutalität der öffentlichen Gewalt sicher zu stellen. Er kann aber auch das Endergebnis einer langen Periode der sozial-politischen Entwicklung sein, die das Machtverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat total umgewälzt und die Gegensätze bis zum äußersten zugespitzt hat. In diesem letzten Fall wird der politische Massenstreik die Form des Entscheidungskampfes um die politische Macht, die Herrschaft im Staate sein und nur als solcher in Anwendung kommen. Die Art der Anwendung des politischen Streiks, sowie die Heftigkeit der Abwehr, die er seitens der bürgerlichen Gesellschaft erfahren wird, sind also das Ergebnis der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung, wie weiter unten des näheren gezeigt werden wird. Das hier angeführte nur zur Erklärung der Tatsache der äußerlichen vielartigen Gestaltung des politischen Streiks, der Ungleichartigkeit seiner Objekte, seiner Methoden, sowie der Energie, mit welcher er durchgesetzt wird. Der politische Streik tritt immer und überall als das dem Proletariat eigentümliche Machtmittel auf, in ihm erscheint es, losgelöst von allem Einfluss und aller Kontrolle des bürgerlichen Staates, in offener Auflehnung gegen ihn. Das ist aber in um so größerem Masse der Fall, je rücksichtsloser der Streik betrieben wird und je gewaltiger der Preis des Kampfes ist. Unter „rücksichtslosem Betreiben“ verstehen wir nicht so sehr das mehr oder weniger gewalttätige Auftreten und die größere oder geringere Ausdehnung des Kampfes, als die Energie, die das Proletariat für die Durchführung seiner Forderung einsetzt, den offenkundigen Willen, das äußerste zu wagen. Eine Forderung durchsetzen will jeder politische Streik, auch seine Abarten, die als „Protestations- oder Demonstrationsstreiks“ bezeichnet werden, wollen das. Auch in diesen Fällen erhoffen die Arbeiter von der Streikaktion die eine oder andre günstige Wirkung, sei es unmittelbar durch Beeinflussung der Regierung, sei es mittelbar durch die Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Jeder Proteststreik hat die Beeinflussung zum Zweck, denn man protestiert nur in der Hoffnung, durch den Protest eine gewisse Wirkung auf künftige Ereignisse auszuüben. So steckt in jedem Demonstrationsstreik ein Stück psychischen Pressionsversuchs, wie z. B. auch bei der Arbeitsniederlegung am 1. Mai. In solchen Fällen jedoch macht der Streik keinen Versuch, die angestrebte Wirkung direkt zu erzwingen. Er will gleichsam den Herrschenden nur die Macht und die Einigkeit des Proletariats zeigen, sie mahnen, dass das normale Fortbestehen der Gesellschaft auf dem ruhigen Verharren des Proletariats bei der Arbeit beruht. Der Protest- oder Manifestationsstreik ist die am häufigsten auftretende Form des politischen Streiks in der bürgerlichen Gesellschaft. Er tritt auf in Situationen, wo es sich nicht um wichtige, grundlegende, das ganze Leben berührende Interessen handelt, sondern wo die Empörung über eine besondere Tatsache wie in Italien die Anregung zur Arbeitsniederlegung bildet, sowie da, wo zwar wichtige Interessen in Frage stehen, aber die Arbeiterklasse nicht den Willen, die revolutionäre Energie hat, den Kampf bis zum äußersten zu führen, sei es, weil sie hofft, das Ziel auf anderem Wege, mit weniger Opfern an Gut und Blut zu gewinnen, sei es, dass ihre Führer sie von dem „Kampf bis aufs Messer“ zurückhalten. Ein Streik dieser Art war der belgische von 1903. Hätte das Proletariat nach der Verwerfung des Verfassungsrevisions-Entwurfs in der Kammer im Ausstand verharrt, so würde er sich zum Streikzwangsmittel entwickelt haben, zum Streik, welcher der Staatsgewalt den offenen Kampf anbietet. Ein Kampf dieser Art braucht noch nicht mit dem Entscheidungskampf um die Herrschaft im Staat gleichbedeutend zu sein, wie das belgische Beispiel beweist. Auch im Falle seiner Weiterführung und seines Sieges hätte er nur zur Modifikation der bürgerlichen Herrschaft, nicht zu ihrer Ablösung überhaupt durch ein proletarisches Regiment geführt. Das Streikzwangsmittel kann folglich auch für Einzelaktionen des Proletariats auf einem Grad der Entwicklung in Anwendung kommen, bei dem die Gewinnung der politischen Herrschaft noch nicht in Frage kommt. Der Streikzwang ist dann der Durchführung einer Anzahl Augenblicksforderungen des Proletariats günstig, wie: Zurücknahme einer missliebigen Maßregel, Oktroyierung eines erwünschten Rechts, Kabinettswechsel der eine andre, den Augenblicksforderungen des Proletariats günstiger gegenüberstehende Schattierung der bürgerlichen Parteien ans Ruder bringt usw. An der Möglichkeit der Durchführung eines ein- bis dreitägigen Manifestations- oder Demonstrationsstreiks in Ländern mit einigermaßen demokratischen Einrichtungen wird innerhalb der Sozialdemokratie wohl kaum ernstlich gezweifelt werden. Der Streik will in diesem Falle nur eine verstärkte Form der Straßendemonstration sein, jedoch viel eindringlicher wirken, da er die besitzende Klasse unmittelbar in ihren wirtschaftlichen Interessen schädigt und – falls er auf die Tagespresse, das Verkehrswesen, die Gemeindebetriebe usw. ausgedehnt wird – der ganzen Gesellschaft Unannehmlichkeiten und Störungen verursacht. Freilich riskiert das Proletariat durch einen derartigen Streik immer, ebenso viel an Sympathie bei allen andern Klassen zu verlieren als es an Beachtung gewinnt – ein Umstand, der auch sozialdemokratische Gegner energischer, rücksichtsloser Aktionen des Proletariats dazu gebracht hat, ihm jedenfalls die äußerste Mäßigung beim Protestationsstreik anzubefehlen. Ein weiterer Nachteil dieser Art des Streiks ist, dass er bei etwaiger Wiederholung in Bezug auf Dauer oder Ausdehnung – oder beide zugleich – wesentlich verstärkt werden muss, wenn sein Eindruck gesteigert oder nur der gleiche sein soll, ein Umstand, der schon an und für sich seine oftmalige Anwendung unmöglich macht. Kann auch bei diesem Streik von einem bestimmten Erfolg oder einer eigentlichen Niederlage nicht die Rede sein – da er ja seinem Charakter gemäß auf direkte Erfolge verzichtet – so wird sein mehr oder weniger glänzender Verlauf, seine größere oder geringere Ausdehnung, die in ihm vom Proletariat bekundete Energie und Gesittung jedenfalls einen im Zusammenhange mit der allgemeinen Lage stehenden, bald merkbaren Einfluss ausüben. Er wird die herrschenden Klassen auf dem Wege der vom Proletariat erwünschten Konzessionen vorwärts treiben oder auch im Gegenteil unter Umständen diese Klassen von Konzessionen abhalten, da die Einmütigkeit und Kraft des Proletariats ihnen im Streik größer erschien als sie annahmen. In diesem Falle wird er die Reaktion stärken, aber auch das Klassenbewusstsein der Arbeiter heben, kurz, der Streik wird die Verschärfung der Klassengegensätze schneller vorwärts treiben. Die große Meinungsverschiedenheit innerhalb der Sozialdemokratie über die Anwendbarkeit der Arbeitseinstellung als politisches Kampfmittel bezieht sich auf den Streik, der sich nicht begnügt, zu protestieren oder zu demonstrieren, sondern der eine Waffe im Kampf gegen die Regierung sein will. Sei es, dass er für eine wichtige Einzelaktion des Proletariats ins Auge gefasst wird, sei es, dass er sich zur entscheidenden Phase, zum Kampf um die politische Herrschaft entwickelt, ist es dem Proletariat möglich, das eine oder andre Ziel auf diesem Wege zu erreichen? Auf diese Frage antworten die unbedingten Gegner des politischen Massenstreiks mit einem Nein. Es scheint ihnen ausgeschlossen, auf dem Wege des Streiks für die Arbeiter große politische Entscheidungen in ihrem Sinne herbeiführen zu können. Der Reichtum der kapitalistischen Klassen an Geld und Konsummitteln, sowie der Reichtum der Regierung an organisierten Zwangs- und Repressionsmitteln macht nach ihrer Meinung die Anwendung von ökonomischen Pressionsversuchen zu einem hoffnungslosen Beginnen. Das Proletariat, als die Klasse der Besitzlosen, kann ebenso wenig die Klasse der Besitzenden „aushungern“, wie es sich der staatlichen Gewalt gegenüber zu behaupten vermag. Die Ansicht der Gegner des politischen Massenstreiks, dass die ökonomische Besiegung der herrschenden Klassen durch „Aushungerung“, wie der beliebte Ausdruck lautet, mittels des Streiks unmöglich ist, unterschreiben auch wir vollständig. Zu ihr reichte die Dauer des Ausstands nicht entfernt aus, sie würde das Ausharrungsvermögen des Proletariats weit überschreiten. Seine Beschränkung auf einige wenige Erwerbszweige wäre von lächerlicher Unzulänglichkeit, jede größere Ausdehnung aber für die Arbeiter von verhängnisvoller Wirkung, da sie ihnen ein Teil der Hilfsmittel entzöge, die ihnen die weiterarbeitenden Kameraden sonst gewähren könnten, Es ist aber noch andrer Gründe wegen rein unmöglich, die herrschenden Klassen durch „Aushungerung“ zu besiegen. Wie G. Eckstein in der Neuen Zeit (Jahrgang 22, Bd. I, Nr. 12) nachweist, können auf diesem Wege die materiellen Interessen gewisser Kategorien der vom Mehrwert Lebenden gar nicht getroffen werden. Dem Großgrundbesitz, dem Geld-, sowie dem Kolonialkapital ist auf diesem Wege des Streiks nicht beizukommen, Bleiben übrig: die industriellen Kapitalisten. Diese kann der Streik ohne Zweifel ganz beträchtlich schädigen, hierauf beruht ja auch zum Teil seine Wirkung, aber sie zum Untergang bringen, als Kapitalisten vernichten, das vermag er nicht. In einem Dauerkampf müsste sich der Sieg zweifellos auf die Seite derer neigen, die sich im Besitz aller wichtigen Produktionsmittel, sowie aller großen Vorräte an Konsummitteln befinden. Mit Recht hebt Leimpeters in den Sozialistischen Monatsheften (II. Band, 2. Heft, S. 880) hervor, dass der Streik gerade die mächtigsten Kapitalisten am wenigsten zu treffen vermag. Die unermesslich reichen Spitzen der hohen Finanz, die Eisenbahn- und Petroleumkönige, die Kohlenbarone und Stahlkönige, sie alle würde der stärkste ökonomische Sturm kaum erschüttern. „Die Großkapitalisten werden“, sagt Leimpeters, „in einem Kampfe, in welchem es sich für sie schließlich um Sein oder Nichtsein handelt, durch keine achttägige Arbeitsruhe zu besiegen sein.“ Ja, wenn es sich darum handelte, die Kapitalisten durch den Streik zu besiegen, zum „Nichtsein“ zu bringen, so würde allerdings auch eine achtmonatliche Arbeitseinstellung kaum genügen. Das Großkapital ist eben durch die ökonomischen Wirkungen des Streiks nicht zu besiegen, einfach darum, weil die Kapitalisten Kapitalisten, das heißt Besitzer der Produktionsmittel sind. Die Herren Monopolisten würden nicht säumen, ihre Vorräte während des Kampfes zu wahnsinnigen Preisen zu verkaufen und einen hübschen Extraprofit einzuheimsen. Sobald der Streik wegen der ökonomischen Erschöpfung der Arbeiter beendet wäre und die Produktion unter den alten gesellschaftlichen Verhältnissen wieder anfing, würde der den Kapitalisten von neuem zufließende Mehrwert den eventuell erlittenen Verlust bald wieder ersetzen. Wohl dürfte der Ruin vieler kleiner Kapitalisten und ihre Verdrängung durch größere eine der Folgen des Streiks sein; das Tempo der kapitalistischen Konzentration würde beschleunigt werden, die Arbeiterklasse aber erreichte dadurch nur, ihre Ausbeuter noch mächtiger zu machen, als sie zuvor waren. Als Konsumenten aber ist den großen Kapitalisten erst recht nicht beizukommen; das Aushungern in diesem Sinne hat noch weniger Aussichten! Die Allmacht des Reichtums bringt es sogar in einer belagerten, buchstäblich ausgehungerten Stadt zuwege, sich die gewohnten Luxusmittel zu verschaffen. Dies würde auch während eines Streiks der Fall sein. Aber der politische Massenstreik stellt sich nicht das unmögliche Ziel, die kapitalistische Gesellschaft „auszuhungern“. Wer ihn deswegen bekämpft, bekämpft nur eine irrige Vorstellung, die sich in seinem Kopfe infolge der Verwechslung des politischen Streiks mit dem ökonomischen Generalstreik gebildet hat. Der politische Streik richtet seine Spitze gegen den Staat; durch seinen Druck versucht er nicht, die Gesellschaft aufzureiben, sondern die politischen Machthaber zum Weichen zu bringen. Dieser Druck auf die Regierung ist sowohl direkter wie indirekter Art. Den indirekten besorgt die vom Streik hervorgerufene gesellschaftliche Krise, die natürlich um so heftiger wirkt, je allgemeiner er ist, je länger er anhält und je wichtiger im gesellschaftlichen Organismus die von ihm umfassten Erwerbszweige sind. Der Großbetrieb stellt die Produktion ein, der Verkehr steht vollständig still oder ist erheblich gestört, die Nachrichten kommen nicht oder doch unregelmäßig und verspätet ans Ziel; der Preis der Lebensmittel steigt rasch, Beleuchtung, Reinigung, Kommunikationsdienst, vielleicht auch Wasserzufuhr sind in den Großstädten, den Zentren der Bevölkerung, unterbunden. Man lebt wie im feindlichen Lande, die materiellen Interessen des Mittelstandes werden schwer geschädigt, die Handelsverhältnisse von Tag zu Tag zerrütteter. Jeder Besitzende fürchtet für Eigentum und Leben, das Geld hat seine Allmacht verloren: dieser neue, unheimliche Zustand der gesellschaftlichen Machtlosigkeit versetzt die kapitalistischen Klassen in nervöse Angst. Jeder blickt auf die Regierung um Hilfe; sie soll schnell und nachdrücklich handeln, das Eigentum bewachen und beschützen, Ruhe und Ordnung aufrecht halten, vor allem aber: dem Stillstand der Produktion und des Verkehrs bald ein Ende bereiten, die ungeheuren Massen der feiernden Arbeiter wieder in die Bergwerke, Fabriken und Werkstätten einsperren, damit sich das Leben von neuem in den alten Geleisen fortbewegen könne. Wie aber soll das die Regierung anstellen? Der politische Streik ist eine nationale Erhebung: auch in den zurückgebliebenen oder abseits gelegenen Orten, wo noch gearbeitet wird, droht er auszubrechen, die Gärung erfasst die Arbeiterschaft des ganzen Landes. Überall ist Unruhe, überall Gefahr. Es sind Repressionsmaßregeln von nationaler Tragweite erforderlich, um Herr des Streiks zu werden, das heißt, das Proletariat zu desorganisieren. Wohl verfügt der moderne Staat über ungeheure Repressionsmittel, wird er sie aber in diesem Falle ganz entfalten können? Jene Machtmittel beruhen vor allem auf der Stärke des mit moderner Bewaffnung ausgerüsteten Heeres, sowie auf der Leistungsfähigkeit der Verkehrsmittel für Nachrichten, Personen und Güter. Damit aber der Staat seine Machtmittel ganz entfalten kann, ist die schnelle, sichere Verbindung der Zentralgewalt mit allen Teilen des Landes unbedingt geboten. Von allen bedrohten Punkten, allen industriellen Zentren werden Truppensendungen gefordert; von überall her werden baldige, genaue Befehle verlangt. Aber alle Verbindungen sind unsicher, jede regelmäßige und schnelle Kommunikation unmöglich. Der zentralisierte Staat fällt auseinander; jede Provinz, jeder Distrikt wird sich selbst überlassen; den Unterdrückungsmaßregeln der Regierung muss es an planmäßigem Zusammenhang, an Einheitlichkeit fehlen. Dies ist jedoch nicht die einzige Ursache der Desorganisation des Staates. Weiter unten werden wir untersuchen, ob sein wichtigstes Machtmittel, das Heer, auch ohne Einheitlichkeit der Aktion, imstande sein würde, eine Volkserhebung gewaltsam zu unterdrücken, und wie es sich der Wahrscheinlichkeit nach den Kämpfenden gegenüberstellen würde. Hier wollen wir bloß bemerken, dass der Ausstand keineswegs dem Heer Gelegenheit zu bieten braucht, gewaltsam aufzutreten. Die Gewalt kann sich nicht äußern, solange sich ihr kein zur Vergewaltigung geeignetes Objekt entgegenstellt. Der Streik braucht keinen aufrührerischen Charakter anzunehmen, die Masse der Streikenden kann sich friedlich verhalten, Zusammenstößen mit der bewaffneten Macht aus dem Wege gehen, Plünderungen, Krawalle vermeiden. Sie kann bei jeder Aufforderung auseinander gehen, sich aber immer wieder zusammenfinden, immer den unsichtbaren, innerlichen Zusammenhang bewahren, den ihr Klassenbewusstsein und gleiches Streben geben. Anders bei den Herrschenden. Da gibt es von Anfang an Differenzen über die Frage, wie der Streik am besten und schnellsten niederzuschlagen sei. Da gibt es Draufgänger, die energisches Vorgehen, eine Blut- und Eisentaktik, fordern; Schlauköpfe, die mit Provokationen oder Verlockungen vorgehen wollen; Gemäßigte, die eine Politik der Zugeständnisse verlangen; Unzufriedene, welche die Ereignisse auf Unfähigkeit und Unschlüssigkeit der Regierung zurückführen. In dem Masse, wie die Wirkungen der gesellschaftlichen Krise an Intensität zunehmen, die Preise der notwendigsten Lebensmittel – Brot, Fleisch, Milch – steigen, die Gefahr der Plünderung, der Exzesse des Lumpenproletariats wächst, allgemeine Unzufriedenheit und Unsicherheit größer werden, wächst auch die Uneinigkeit in den Reihen der politischen Machthaber. Mit jedem neuen Zeichen ihrer Unschlüssigkeit und Verwirrung wird das Vordringen stärker, wachsen Entschlossenheit und Siegeszuversicht der revolutionären Massen. Der politische Erfolg winkt ihren ökonomischen Machtmitteln; der Sieg neigt sich ihrer Seite, als der zäheren und widerstandsfähigeren Organisation, zu. Die Wirkungen eines solchen Erfolges werden von Kautsky in folgenden Sätzen anschaulich dargestellt: „Gelingt es den Streikenden; solange ihren Zusammenhalt und ihre zielbewusste Passivität zu bewahren, bis sie die Regierungsgewalt an irgend einem Punkte desorganisiert haben, sei es, indem es ihnen gelingt, Faktoren, deren die Regierung bedarf, zu sich herüber zu ziehen, sei es, dass die Regierung selbst durch Order, Konterorder, Desorder Verwirrung, Schwäche und Ratlosigkeit unter ihrem Anhang erzeugt, dann ist das Proletariat auf dem Wege zum Siege; die Besitzenden verlieren dann die Zuversicht, dass die Regierung sie schützen könne, es wächst unter ihnen die Furcht, jede Fortsetzung des Widerstandes könne ihnen Verderben bringen, sie bestürmen die Regierungsgewalt, nachzugeben, sie lassen sie im Stiche, um mit den aufsteigenden Gewalten zu paktieren und zu retten, was zu retten ist; die Regierung verliert jeden Boden unter den Füßen, und die Staatsgewalt fällt derjenigen Klasse zu, die ihren organisatorischen Zusammenhalt in dieser Krise am längsten zu wahren wusste, deren Ruhe und Zuversicht der großen, indifferenten Masse am meisten imponierte, die durch ihre besonnene Kraft selbst ihre Gegner entwaffnete: dem sozialdemokratisch geschulten Proletariat.“ (Neue Zeit, Jahrgang XXII, Bd. I, Nr. 22, S. 695.) Diese Ausführungen sollen bloß dartun, wie der Sieg sich auf die Seite des Proletariats neigen kann, ohne dass von Aushungerung, von ökonomischer Vernichtung der kapitalistischen Klassen die Rede ist. Ob es jedoch so geschehen wird, beruht auf einer Reihe von Voraussetzungen, auf dem Zusammentreffen einer Anzahl Bedingungen und Umstände, die noch näher zu untersuchen sind, Jetzt soll nur dies festgestellt werden: mit der Ausschaltung des Aushungerungszweckes werden eine Anzahl Unmöglichkeiten hinfällig, die sich dem Gelingen jedes politischen Massenstreiks sonst notwendig in den Weg stellen. Nicht die ökonomische, sondern die organisatorische Überlegenheit der Klasse wird entscheidend; damit verschwindet jegliche Notwendigkeit einer so langen Zeitdauer des Kampfes, dass sie das Ausharrungsvermögen des Proletariats weit überschritte und unerbittlich entweder mit verzweifelter Unterwerfung oder verzweifelter Gewalttätigkeit enden müsste. Gewiss wird auch der Sieg durch Desorganisation der Regierung nicht in ganz kurzer Zeit zu erringen sein. Und jeder Tag, um den es ihr gelingt, sich zu behaupten und den Streik länger hinauszuziehen, bringt für die Massen die Gefahr der ökonomischen Erschöpfung und des Zusammenbruchs näher, die Gefahr, dass die Not sie zwingt, entweder den Nacken unter das Joch zu beugen oder die Schranken der bürgerlichen Rechtsordnung zu durchbrechen. Wären die Arbeiter überhaupt nur imstande, den Kampf auf ganz kurze Zeit, auf wenige Tage, auszuhalten, so stünde es um ihre Aussichten freilich schlecht. Unter bestimmten Voraussetzungen aber braucht dies nicht der Fall zu sein. Man soll bei der Beantwortung der Frage: wie bald wird der Hunger die Arbeiter zur Unterwerfung treiben, nicht vergessen, dass es sich keineswegs um einen absoluten, sondern jedenfalls um einen relativen Mangel an Nahrungsmitteln handeln würde. In der modernen Gesellschaft mit ihren kolossal entwickelten Produktionskräften sind ja zu jeder Zeit große Vorräte an Konsummitteln aufgestapelt, und bis diese aufgezehrt sind, vergeht schon einige Zeit. Es gibt zwar einige Lebensmittel, wie das Brot, die nur für ganz kurze Zeit im Voraus hergestellt werden, sie können aber zur Not durch andre, wie Reis, Bohnen usw., ersetzt werden. Nicht ein absoluter Mangel an Lebensmitteln bedroht die Arbeiter, sondern die Preissteigerung der Waren. Diese Preissteigerung würde zwar, da die meisten Lebensmittel für den proletarischen Konsum in minderwertigen Qualitäten fertig gestellt werden, voraussichtlich eine geringere sein, als die der erstklassigen Ware, immerhin aber würde sie die Arbeiterklasse schwer empfinden. Für solche Fälle kommen eine Reihe Hilfsmittel in Betracht, die das Proletariat während der Krise aufrecht erhalten können. Zuerst für die besser situierten Arbeiter die privaten Reserven. Manche Arbeiterfamilie würde sich mit dem Verlust ihrer Sparpfennige einige Zeit über Wasser zu halten vermögen. In zweiter Linie kommt die Unterstützung durch die Gewerkschaftskassen und die Konsumvereine in Frage; beide würden dem Proletariat eine beträchtliche Stütze sein können, die einen an Geld, die andern an Waren. Ferner der Kredit, den Bäcker und Krämer auch sonst bei Streik, Arbeitslosigkeit usw. gewähren und gewähren müssen, um nicht ihre proletarische Kundschaft für immer zu verlieren. Endlich die Geldmittel, die den Kämpfenden aus den Mittelschichten zufließen, falls die öffentliche Meinung ihnen günstig wäre, schließlich die Geldsendungen des internationalen Proletariats. Freilich, auch im günstigsten Falle würde die kämpfenden Arbeiter manche Entbehrung und manche Not treffen. Not und Entbehrung gibt es aber bei vielen Streiks auch heute, ohne dass die Streikenden deswegen gleich zusammenbrechen. Unendlich viel können die Menschen aushalten, wenn für sie Großes auf dem Spiele steht, wenn eine große Sache sie begeistert, ja sogar schon, wenn eine starke Disziplin sie zusammenhält. Die Geschichte unzähliger Kriege und Belagerungen lehrt dies, sowie die mancher Aussperrungen und Streiks. Beim Proletariat wirken beide Momente zusammen: Hingabe für ein großes Ziel und Disziplin; das verleiht ihm erstaunliche Kraft. Gewiss würde die Bourgeoisie während einer revolutionären Streikperiode materiell besser daran sein wie die Arbeiterklasse; sie hätte den Vorzug besserer Verproviantierung, das Proletariat aber den größerer Bedürfnislosigkeit. Der verzärtelte Bourgeois empfindet jeden Mangel, schon den an gewohnten Luxusmitteln, als schwere Plage. Der Proletarier dagegen ist gegen die Widrigkeiten des Lebens abgehärtet und gewohnt, zu darben und zu entbehren. Wie manche Arbeiterfamilie gibt es, in der Arbeitslosigkeit oder Erkrankung ihres Ernährers sofort zur Einschränkung der Lebenshaltung führt. Die harte Schule des Lebens stählt das Proletariat, gibt ihm in den Tagen des Kampfes eine moralische Überlegenheit über die materielle Überlegenheit der Bourgeoisie. Es gibt also keinen Grund, anzunehmen, dass eine organisierte, disziplinierte, über gemeinschaftliche Kassen und Einrichtungen verfügende Arbeiterschaft den Streik nur wenige Tage aushalten könnte. Auch in dieser Beziehung dürften die russischen Ereignisse nicht ohne Lehre sein. Sie zeigen, wie sogar größtenteils unorganisierte, ungeschulte Massen in elender Lebensführung den Kampf mehrere Wochen fortsetzen konnten, ohne dass Hungerrevolten ausbrachen. Die russische Arbeiterklasse hat aber zudem den politischen Massenstreik in einer Form in Anwendung gebracht, die ermöglicht, ihn auf Wochen und Monate auszudehnen, ohne das Proletariat durch eine völlige Erschöpfung zu gefährden. Der Generalstreik wird sozusagen parzelliert; es kommt nicht zur allgemeinen gleichzeitigen Arbeitseinstellung in allen wichtigen Erwerbszweigen, sondern die Bewegung nimmt die Form einer Reihe von ebenso wohl neben- wie nacheinander verlaufender Streiks an, die unaufhörlich sowohl in neuen Betrieben ausbrechen als sich in alten wiederholen. Diese schleppende Form des politisch revolutionären Streiks wird zwar nie eine so schnelle Entscheidung herbeiführen, wie dies die allgemeine, gleichzeitige Arbeitseinstellung in den wichtigsten Produktionszweigen vermag; sie gleicht in ihrem Wesen wie in ihren Wirkungen weniger einem Ansturm als einer Belagerung. Auf die Dauer aber kann eine derartige Streikbewegung, die jede Stabilität des gesellschaftlichen Lebens untergräbt, der Industrie und dem Handel jedes Gefühl der Sicherheit raubt, zweifelsohne die Desorganisation des Staates bewirken. Dazu ist vor allem erforderlich, dass das Proletariat imstande ist, die Streikbewegung mit kurzen Unterbrechungen immer wieder von neuem zu beginnen, die ruhige Produktion zur Ausnahme, Stockung und Krise dagegen zum gewöhnlichen gesellschaftlichen Zustand zu machen, also alle normalen gesellschaftlichen Verhältnisse auf den Kopf zu stellen. Diese Ausführungen bezwecken keineswegs, zu leugnen, dass die Verproviantierung der Massen während einer politisch-revolutionären Streikperiode zu den schwierigsten Problemen in Bezug auf Durchführbarkeit gehört. Dieses Problem wird aber nicht dadurch gelöst, dass man, wie es die unbedingten Gegner des politischen Streiks in unsern Reihen tun, die Schwierigkeiten aufeinander stapelt, sich von ihnen jede Aussicht versperren lässt und auf ihre Lösung von vornherein verzichtet. Das Studium der Geschichte lehrt uns, wie jede Revolution die Produktion mehr oder weniger ins Stocken bringt. Es hat kaum eine revolutionäre Krise gegeben, die nicht für die Volksmassen Armut und Not in großem Maßstäbe mit sich brachte. Die Geschichte lehrt uns aber auch, dass eine revolutionäre Bewegung nicht notwendig scheitern muss, und lehrt uns ferner, dass die weitere Verschärfung der revolutionären Krise eine notwendige Folge der Not unter den Volksmassen war. Besonders das Studium der großen französischen Revolution ist in diesem Punkte sehr lehrreich. Aus den vorhergehenden Betrachtungen über die Hilfsquellen, die den Arbeitern bei einem politischen Massenstreik zu Gebote stehen, und über die Formen, welche er annehmen kann, geht jedenfalls hervor, dass es nicht notwendig ihr Verhängnis sein muss, schon in den ersten Tagen des Kampfes, noch ehe der Sieg ihnen winken kann, die Rechtsordnung zu durchbrechen und eine Niederlage heraufzubeschwören. Damit aber fällt die zweite „Unmöglichkeit“ weg, die sich einem eventuellen Sieg in den Weg stellt: die unausbleibliche Kollision mit der bewaffneten Macht. Soll die Regierung mit Hilfe der Armee, das heißt durch Gewalt, des Streiks Herr werden, so kann es nur dadurch geschehen, dass die Streikenden vom zielbewussten passiven zum aktiven Widerstand übergehen. Denn um den passiven Widerstand zu brechen, die Arbeiter mit Gewalt zur Arbeit zurückzutreiben, dazu reicht die Kraft des mächtigsten Heeres nicht aus. Bei der eigentlichen Großindustrie ist jeder Versuch, die Arbeiter zur Produktion zu zwingen, unmöglich. Im Verkehrswesen wie im Nachrichtendienst dürften vereinzelte Zwangsversuche schon eher gemacht werden. Ob sie etwas ausrichten könnten, ist freilich eine andere Frage. Im modernen, auf weitgehender Arbeitsteilung beruhenden Produktionsprozess greift alles ineinander; sobald die Funktion eines Unterteils unterbunden ist, wird der Organismus gestört. Dies gilt für jedes einzelne Gewerbe wie für das Ganze der gesellschaftlichen Arbeit. Nehmen wir zum Beispiel den Eisenbahnbetrieb. Van Kol führt den Fall des Lokomotivführers an, der mit vorgehaltenem Revolver zur Arbeit gezwungen werden soll. Wie vermag er aber die geforderte Arbeit zu leisten, wenn nicht gleichfalls Heizer, Signalwächter, Rangierer usw. die ihrige verrichten? Seine Arbeit ist ja nur ein einziges Rädchen in dem ungeheuren, komplizierten Mechanismus des modernen Verkehrs. Soll das gesamte Eisenbahnpersonal „mit vorgehaltenem Revolver“ zu seiner Arbeit angehalten werden? Ist der Streik allgemein, so wird die Armee nicht ausreichen, die Arbeiter zur Produktion zu zwingen. Dies widerstrebt dem Charakter des modernen Produktionsprozesses. Anwendung von Gewalt zu diesem Zweck kann nur sporadisch stattfinden und wird den Gesamtverlauf des Kampfes kaum beeinflussen. IV. Die Voraussetzungen des politischen Massenstreik?M Die erste Vorbedingung des politischen Massenstreiks ist ein zahlreiches, im Großbetrieb konzentriertes Proletariat. In Ländern, wo die Konzentration des Kapitals gering, das Proletariat schwach an Zahl und zersplittert ist, die kleinbürgerliche Produktionsweise vorherrscht, der größte Teil der Bevölkerung auf dem Lande angesiedelt ist, freie Bauern und Handwerker ihr Rückgrat bilden – in solchen Ländern ist der Sieg des politischen Massenstreiks ebenso ausgeschlossen, wie der des Proletariats überhaupt. Sobald aber die kapitalistische Entwicklung so weit vorgeschritten ist, dass sich ein, wenn auch im Vergleich zur Gesamtzahl der Bevölkerung noch schwaches, großindustrielles Proletariat gebildet hat, so wird, wenn andre Kampfmittel, vor allem politische Rechte noch fehlen, der politische Streik in Anwendung kommen können. Bei einem Gesamtkampf aller modernen Klassen gegen vorkapitalistische Staats- und Ausbeutungsformen wird er auch da die dem Proletariat eigentümliche revolutionäre Waffe bilden und gesellschaftliche Wirkungen hervorrufen, die, wenn sie auch für sich allein zum Sturze der bestehenden Staatsgewalt nicht ausreichen, so doch erheblich dazu beitragen können. Seine ganze Kraft wird aber der politische Streik nur in ökonomisch hoch entwickelten Ländern entfalten können, in denen, wo die agrarische hinter der industriellen Bevölkerung zurücksteht und das Proletariat einen ansehnlichen Bruchteil der Gesamtbevölkerung ausmacht. Wie weit dies schon jetzt in den Ländern des entwickelten Kapitalismus der Fall ist und immer mehr wird, beweisen folgende Zahlen: Deutschland 1882: Selbständige 344, Unselbständige 640 per 1000 1895: Selbständige 249, Unselbständige 751 per 1000 Belgien 1895: Selbständige 183, Unselbständige 817 per 1000 Die deutschen Zahlen beziehen sich auf Gewerbe, Handel und Ackerbau, die belgischen nur allein auf Gewerbe. In Deutschland bildeten somit die Selbständigen 1895 24,94 Prozent der Bevölkerung, die Arbeiter 66,07 Prozent. Es ist aber nicht allein die Massenanhäufung des Proletariats, sondern ebenso sehr seine Zusammensetzung in Betracht zuziehen. Je zahlreicher der Teil der Arbeiterschaft eines Landes, der in den Mittel- und Großbetrieben konzentriert ist, desto größer die Möglichkeit des politischen Massenstreiks. Seine Aussichten sind günstiger bei einem an Zahl schwächeren, aber im großindustriellen Betriebe konzentrierten Proletariat, als bei einer zwar zahlreicheren, aber über eine Menge von Kleinbetrieben zerstreuten Arbeiterschaft. Diese ist der Agitation nur schwer zugänglich, sie lebt in größerer moralischer Abhängigkeit von ihren Brotherren, es kostet unendliche Mühe, sie in eine ökonomische oder politische Bewegung hineinzuziehen; bei ihr hätte der politische Streik nur geringe Aussichten, jedenfalls würde er sich nur langsam ausbreiten können. In der Produktion sind die Kleinbetriebe unabhängig von einander; der Stillstand des einen bedingt keineswegs den des andern. In der Großindustrie dagegen wird infolge ihrer höheren Organisation die ganze Produktion eines Betriebes zum Stillstand gebracht, wenn ein Teil der in ihr beschäftigten Arbeiter die Arbeit niederlegt. Die Tendenz der kapitalistischen Produktionsweise ist die unaufhaltsame Zunahme des Groß- und Mittel- auf Kosten des Kleinbetriebs. Wie rasch diese Zentralisation vor sich geht. und wie weit sie in den entwickelten Industrieländern schon vorgeschritten ist, davon zeugen folgende Zahlen über die Bewegung der Klein-, Mittel- und Großbetriebe in Deutschland: Betriebe
Personen
Auf je 100 im Gewerbe beschäftigte Personen entfielen 1895 auf den Kleinbetrieb 39,9, auf den Mittelbetrieb 23,6 und auf den Großbetrieb 36,3 Prozent; also auf Mittel- und Großbetrieb zusammen 60 Prozent. Von 10.269.269 Arbeitern arbeiteten schon 1895 5.498.600 im Mittel- und Großbetriebe. In Belgien sind die Zahlen für den Großbetrieb noch etwas günstiger. Es arbeiteten im Jahre 1896 pro Hundert aller Arbeiter:
Es arbeiteten also 63,78 Prozent aller Arbeiter in Mittel- und Großbetrieben. Von diesen gehörten 36 Prozent dem kombinierten Riesenbetrieb an. Aus diesen Zahlen ist aber die Überlegenheit des Groß- und Riesenbetriebs noch beileibe nicht ersichtlich. Die Konzentration der Produktionsmittel ist viel weiter fortgeschritten wie die der Arbeiter. Die deutsche Gewerbestatistik von 1895 gibt folgendes Verhältnis als die Durchschnittszahl der Personen und Pferdekräfte an, die in den Betrieben, die mit Gehilfen und Kraftwerkzeugen arbeiten, angewendet werden.
Es ist klar, dass die Zahl der Pferdekräfte viel schneller wächst, wie die der im Betrieb beschäftigten Personen. Man vergegenwärtige sich zudem, dass eine Pferdekraft 24 menschlichen Arbeitskräften gleichgestellt wird. Aus dieser kolossalen Zahl von Arbeitskräften ist, wie der Schlussbericht der Gewerbestatistik sich ausdrückt, das gewaltige Übergewicht zu erklären, das die Großbetriebe in der heutigen Volkswirtschaft erobert haben. Es besorgten 1895 die 296 Riesenbetriebe schon ein Fünftel und die Betriebe mit mehr als 100 Personen über die Hälfte der gesamten Produktion; die Kleinbetriebe (unter 20 Personen) aber bloß ein Viertel. Erst aus diesen Zahlen ersieht man die wirkliche Überlegenheit des Großbetriebs. Aus ihnen geht hervor, dass wenn in den 18.953 Großbetrieben die Produktion unterbrochen wird, die 2.934.723 Kleinbetriebe, sogar vermehrt um die 191.301 Mittelbetriebe, höchstens ein Fünftel bis ein Viertel der Produktion besorgen können, Es braucht also nicht die ganze Produktion eines industriell entwickelten Landes lahm gelegt zu werden, damit die Arbeiter auf die Gesellschaft einen starken Druck ausüben können. Der Stillstand der Großbetriebe würde dazu ausreichen. Dieser aber wäre bereits durchzuführen, wenn noch keine 40 Prozent der Arbeiter eines hoch entwickelten Industrielandes, wie Deutschland, in den Ausstand träten. Die Groß- und Kleinbetriebe sind aber nicht gleichmäßig über alle Produktionszweige verteilt. Im Gegenteil. Während der Kleinbetrieb in manchen Erwerbszweigen das Feld noch behauptet, ist in andern der Riesenbetrieb schon fast allein herrschend geworden. In Deutschland kamen nach der Gewerbezählung von 1895 auf je hundert beschäftigte Personen auf den Großbetrieb (mit über 50 Arbeitern) in folgenden Gewerben:
Im Bergbau gehören 45,3 Prozent aller beschäftigten Personen sogar den Riesenbetrieben mit mehr als tausend Personen an. In den wichtigsten Zweigen der modernen Industrie: Bergbau-, Stahl- und Eisen-, Chemische und Textilindustrie, ist also die Konzentration am weitesten vorgeschritten.N Am allerweitesten im Bergbau. Und gerade in diesem Erwerbszweige haben die Arbeitseinstellungen, wie sich aus unsrer Untersuchung der ökonomischen Massenstreiks der letzten Jahre ergab, fast die stärksten gesellschaftlichen Erschütterungen hervorgerufen und sich zu wichtigen politischen Ereignissen erweitert. In Ländern, die keinen oder nur unbedeutenden Bergbau haben, wird also dem politischen Massenstreik immer einer seiner bedeutendsten Stützpunkte fehlen. Nur in einem andern Gewerbe erwiesen sich die gesellschaftlichen und politischen Folgen des Streiks noch wichtiger als im Bergbau: im Eisenbahnbetrieb. Hier ist von Konzentration kaum die Rede, weil die zu diesem Betriebe notwendige gewaltige Kapitalanlage ihn von vornherein fast nur als Riesenbetrieb in der Form der Aktiengesellschaft aufkommen ließ. Entweder befindet sich also der Eisenbahnbetrieb in den Händen einer kleinen Zahl mächtiger Gesellschaften, oder die Forderungen des Verkehrs sowie militärische Rücksichten haben den Staat zum Alleinbesitzer der Haupteisenbahnlinien gemacht.O In letzterem Falle befinden sich also die Eisenbahnarbeiter in derselben Lage wie die des Post- und des Telegraphendienstes. Die Tatsache des staatlichen Monopols steigert ihre ökonomische Abhängigkeit, und die politische Macht ihres Brotherrn raubt ihnen – wo nicht der Staat eine ganz ausgebildete Demokratie ist – jede politische Bewegungsfreiheit und macht auch dort, wo ihnen Vereins- und Versammlungsrecht gesetzlich gewährt werden, diese Rechte illusorisch. Zum isolierten ökonomischen Streik fehlt ihnen mehr und mehr die Möglichkeit; nur in einer Zeit allgemeiner Gärung, unterstützt von der gesamten Arbeiterschaft, können sie den Ausstand wagen. Der politische Streik ist – und wird für die Eisenbahnarbeiter jeden Tag mehr – die einzig mögliche Form des Streiks; sie setzen dabei freilich ihre ganze Existenz aufs Spiel. In ihrer Lage macht es dabei wenig Unterschied, ob Staat oder Privatkapitalisten als Unternehmer fungieren. Die Tendenz der gesellschaftlichen Entwicklung geht für sie so wie so auf steigende Abhängigkeit, abnehmende Bewegungsfreiheit infolge ihrer Unentbehrlichkeit für das gesellschaftliche Leben wie für die staatliche Organisation. Denn sind die Eisenbahnarbeiter in hohem Masse vom Staat abhängig, so, wie wir sahen, der Staat nicht weniger von ihnen. Die Unterbrechung des Eisenbahndienstes lähmt die staatliche Organisation, paralysiert seine Herrschaftsmittel. Deshalb das Bestreben, dort sowohl, wo der Staat als Unternehmer auftritt, als auch da, wo dies nicht der Fall ist, durch militärische Disziplin die Eisenbahner in stramme Zucht zu nehmen und der modernen Arbeiterbewegung fernzuhalten. Deshalb das Aufkommen einer Spezialgesetzgebung, die die Arbeitseinstellung für sie zu einem Kriminalverbrechen stempelt, das mit langjähriger Gefängnisstrafe gebüßt werden muss. Es ist klar, dass die Eisenbahner, die sich ganz in der ökonomischen Abhängigkeit mächtiger Monopolisten, sowie in der politischen des Staates befinden, für den politischen Massenstreik eine sehr ungünstige Position haben. Alle Bedingungen, die beim Proletariat eintreffen müssen, soll er die große Mehrzahl der Arbeiter eines Erwerbszweiges hinreißen, sind hier im allerhöchsten Masse erforderlich. Nicht nur starke Organisation, klares Klassenbewusstsein, tiefste Erregung sind notwendig, um die Eisenbahner zum Streik zu bringen, sondern dazu noch gute Aussichten auf Erfolg. Dieser Erfolg aber soll, wie Kautsky bemerkt, wollen sie sich einem Streik ohne zu große Gefahren anschließen, in der Gewinnung einer vom Proletariat beherrschten Regierung, eines proletarischen Regimes bestehen. Beim Protest- oder Demonstrationsstreik, im allgemeinen bei jedem Streik, der nicht den Entscheidungskampf mit der bürgerlichen Staatsgewalt bringt, wird wahrscheinlich von der Beteiligung der Eisenbahner immer weniger, jedenfalls nur in beschränktem Masse, die Rede sein. Es ist somit ebenso bezeichnend wie erklärlich, dass sich die Masse der Eisenbahnarbeiter keinem der politischen Streikversuche der letzten Jahre angeschlossen hat. Sie riskierten eben zu viel; die Bewegungen waren in keinem einzigen Falle imposant, überwältigend genug, um sie mit fortzureißen. In Holland, wo der Streik ihre eigne Sache betraf, wo die vorangegangene Agitation in der Hauptsache darauf zugeschnitten war, die Eisenbahner zu gewinnen, wo sie zudem kurz zuvor einen epochemachenden Sieg errungen hatten, streikten von ihnen noch keine 20 Prozent. ★ ★ ★ Die moderne Staatsgewalt ist dem Proletariat an allen materiellen Hilfsmitteln politischer wie wirtschaftlicher Art weit überlegen. Die Tatsache des politischen Streiks kann daran nichts ändern. Ebenso wenig wie ökonomisch durch Aushungerung, kann das Proletariat politisch den Gegner überwinden durch Machtentfaltung der gleichen Art, wie der Staat sie anwendet: durch Gewalt. In einem einzigen Punkt ist das Proletariat der herrschenden Klasse von Haus aus überlegen: an Zahl. Die selbständige Organisation des Proletariats ist die systematische Anwendung dieser Zahl im Klassenkampf. Der politische Streik aber, besonders wenn er mehr wie Demonstration oder Protest, wenn er Pressionsmittel sein will, ist ein äußerstes Ringen zwischen der staatlichen und der proletarischen Organisation. Staatliche und proletarische Organisation sind aber ganz verschiedenartige Größen: die erste ist Zwangs-, die zweite freiwillige Organisation. Die Macht der ersten beruht vor allem auf ihren materiellen Gewaltmitteln; die der zweiten, der diese Mittel fehlen, kann die materielle Übermacht des Staates nur durch moralische Überlegenheit brechen. Nicht so sehr die physische Übermacht als die überlegene Organisation des Herrschaftsapparates bildet nach Kautsky die Grundlage jeder Herrschermacht. Auch bei Organisationen desselben Typus zum Beispiel bei zwei Armeen ist der große Vorteil zu beobachten, den sogar bei ungefähr gleicher Zahl und Bewaffnung organisatorische Vorzüge verschaffen. Noch viel folgenreicher aber wirkt die Differenz zwischen Organisationen von verschiedenem Typus, wie sie die staatliche Zwangs- und die proletarische, freiwillige Organisation darstellen. Die moderne, zentralisierte, sich auf Bürokratie und Militarismus stützende staatliche Organisation verfügt zwar über gewaltigere Herrschaftsmittel wie irgend eine frühere Herrschermacht; in einem wichtigen Punkte aber steht sie bekanntlich hinter diesen zurück. Die Organisation des feudalen und in geringerem Masse auch die des absolutistischen Staates war die Organisation der herrschenden Klassen selbst. Militär, Verwaltung, Rechtswesen waren in ihren Händen. Im bürgerlich-kapitalistischen Staate aber haben die herrschenden Klassen sich den Herrscheraufgaben entzogen, um sich ausschließlich dem Erwerb und Genuss widmen zu können. Deshalb ist der bürgerliche Staat weniger eine Organisation der bürgerlichen Klasse wie eine dieser dienenden Organisation. Die Elemente, die ihn bilden, sind nicht dieselben, die den Staat beherrschen, sie sind von den kapitalistischen Klassen gekauft, um ihre staatlichen Interessen wahrzunehmen. Sie können ohne jegliche Neigung in den Dienst des Staates übergegangen sein; die einen, die bürokratischen Elemente, um des Erwerbs willen, die andern, die militärischen, größtenteils durch Zwang gepresst. Weit entfernt, dass alle diese Diener des Staates sich in gleicher Liebe zu ihm zusammenfinden! Im Gegenteil: unter ihnen gibt es eine Anzahl unzufriedene, oppositionelle Elemente, schlecht bezahlte und rücksichtslos behandelte Angestellte, die um des lieben Brotes willen Jahr für Jahr so manches hinunterschlucken, und keine Sekunde zögern würden, das sinkende Schiff in der Stunde der Gefahr zu verlassen und zu den aufsteigenden Mächten überzugehen. Wie anders bei der proletarischen Organisation. In ihr finden sich nur Menschen in gleicher Lage zusammen, mit gleichen Lebensinteressen und Zielen. Freiwillig treten sie in die Organisation ein, sich bewusst, dass sie ihrer bedürfen. Die Stärke dieser liegt in der Hingebung und Begeisterung der Massen, in deren Liebe; einen andern Pfeiler hat sie nicht. Gerade deshalb ist sie unzerstörbar. Ihre Form kann zersprengt, das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit aber, die Einheitlichkeit des Wollens, kann den Massen nicht genommen werden. Die Zwangs- – vor allem die militärische – Organisation fällt auseinander, sobald ihre Form zerstört wird. Solange eine geschlagene Armee den Zusammenhang bewahrt, ist sie imstande, einen geordneten Rückzug anzutreten; werden aber die organisatorischen Einheiten aufgelöst, sind alle Bande zerrissen, so ist‘s mit der Disziplin vorbei: der Rückzug wird zur wilden Flucht. Wie dagegen geschulte proletarische Massen, auch wo die Form der Organisation durch Gewalt zersprengt wird, zu kämpfen wissen, das haben unter anderem die deutschen Arbeiter während des Sozialistengesetzes gezeigt. Die freiwillige, proletarische Organisation erzeugt ihre eignen Führer. Sie wählt jene aus ihrer Mitte, die ihr eigenes Denken und Empfinden, ihre Lebensinteressen und Ziele am klarsten zu erfassen und am schärfsten auszusprechen wissen. Solche Menschen bringt die Organisation aber immer wieder von neuem hervor: mithin ist ihr kein Führer unentbehrlich; fällt er, so finden sich andre, die an seine Stelle treten. In der Zwangsorganisation aber ist jener der Führer, der am besten zu gebieten, zu herrschen weiß und am besten versteht, die Masse für fremde Zwecke zu gebrauchen. Seine persönlichen Fähigkeiten bestimmen ihr Los. Der große Feldherr, der autoritäre Minister eines autokratischen Staates sind der militärischen oder bürokratischen Organisation unentbehrlich; fallen sie, so kommt alles zeitweilig ins Schwanken, eine Periode der Unsicherheit und Desorganisation tritt ein. Aus der Organisation geht hervor, auf der Organisation beruht alle Kraft und alles Selbstgefühl des modernen Proletariers. Sie gibt ihm, was dem Feudaladligen seine Waffen gaben, dem Bourgeois sein Geld gibt: Widerstandsvermögen, Stolz und Würde. Ein unorganisierter Arbeiter ist das schwächlichste Geschöpf der Welt; jede Drohung macht ihn zittern; nur zu leicht raubt ihm das Gefühl seiner Abhängigkeit jeden moralischen Halt, macht ihn feig und sklavisch. Die Organisation besorgt die Selbsterziehung des Proletariats nicht nur für den Klassenkampf, sondern auch für das gesamte gesellschaftliche Leben. In der Organisation lernt es, sich selbst regieren. In ihr lernt jeder einzelne seine kleinen und zufälligen Interessen denen des Ganzen, von dem er ein Teil ist, unterordnen; seine gelegentlichen und zufälligen Ziele dem auch von ihm gewollten großen, allgemeinen Ziele opfern; er lernt mit einem Worte Disziplin. Die proletarische Disziplin bildet das Gegenstück zur Zwangsdisziplin der militärischen Organisation. Bei dieser muss der Einzelwille geschwächt, gebrochen, bei der proletarischen erzogen werden. Je stärker der Wille, wenn die Einsicht vorhanden, desto besser. Die militärische Disziplin hat zum Zweck, jede Regung des Einzelwillens zurückzudrängen, den Menschen für fremde Zwecke abzurichten, ihm den blinden Gehorsam, ohne Einsicht in die Ziele des Befehlenden, zur Lebensgewohnheit zu machen. Die proletarische Disziplin lehrt den einzelnen, alle die Regungen zurückzudrängen, die das Erreichen des auch von ihm erstrebten Zieles erschweren um dieses Zieles selbst willen. Sie lehrt ihn, seinem gefestigten vernünftigen Ich zu gehorchen, das inmitten einer sich selbst bestimmenden Vielheit gleichgesinnter Kameraden selbständiger wird und in der Autorität seiner selbst erwählten Führer ein Gegengewicht gegen vorübergehende Anwandlungen seines unvernünftigen Ichs gewinnt. Die militärische Disziplin erniedrigt den Menschen, indem sie ihn für fremde Zwecke abrichtet, Zwecke, die seinen Interessen, seiner Einsicht, seinem Gewissen widerstreben können. Die proletarische Disziplin erhebt ihn, indem sie ihm ermöglicht, gemeinsame Zwecke besser zu fördern. Die militärische Disziplin tötet im Menschen das Verantwortlichkeitsgefühl, die freiwillige, proletarische kräftigt es. Die freiwillige Disziplin ermöglicht es erst dem Proletariat, den Kampf mit dem ihm an Gewaltmitteln überlegenen Gegner zu führen, fest und ruhig zu bleiben in der Gefahr wie der Soldat in der Schlacht. Sie gibt dem Führer Vertrauen in die Masse, der Masse Vertrauen in den Führer, jedem einzelnen zu seinen Kameraden. Nicht so sehr, um den Kampf aufzunehmen bedarf das Proletariat der Disziplin sowie der Geübtheit und Schulung, sondern um ihn fortzusetzen; vor allem, um sich nicht vom Gegner erschrecken und betrügen zu lassen. Kampfeslustig erweist sich auch, wenn es einmal erregt ist, das ungeschulte und unorganisierte Proletariat, manchmal sogar in höherem Masse als das geschulte und organisierte, weil es weniger zu verlieren hat; es ist aber in weit geringerem Maße zum andauernden Kampfe fähig. Die Masse des unorganisierten Proletariats lässt sich von Stimmungen beherrschen. Ihr Mut wogt auf und ab wie die Wellen: heute stürzt sie sich todesmutig auf einen übermächtigen Gegner, morgen stiebt sie vor einer eingebildeten Gefahr auseinander. Sie erschrickt leicht bei jeder Drohung, wird durch jede Verlockung entwaffnet, jede Aufreizung bringt sie in Wut. Anders das disziplinierte, geschulte, organisierte Proletariat. Wohl ist es auch den menschlichen Stimmungen der Furcht und Hoffnung zugänglich, aber es lässt sich nicht von ihnen beherrschen, sondern wird ihrer Herr. Auch in der Erregung bewahrt es seine Besonnenheit; die Erfahrung im Kampfe hat es gelehrt, sich ebenso wenig entmutigen wie zum Übermut hinreißen zu lassen. Nur ein geschultes Proletariat vermag, allen Drohungen, Provokationen und Verlockungen unerschütterliche Entschlossenheit entgegenzustellen. Um gewahr zu werden, wie unentbehrlich dem Proletariat Kampfgeübtheit und Disziplin für den politischen Streik sind, braucht man sich nur zu vergegenwärtigen, welche Mittel die politischen Machthaber anwenden können, um die Kämpfenden in Verwirrung zu bringen. Wir haben gesehen, dass die Militärgewalt deshalb des Streiks nicht Herr werden kann, weil sie, was allein der gesellschaftlichen Spannung und Krise ein Ende machen würde, nicht vermag, die Arbeiter zur Wiederaufnahme der Arbeit zu zwingen. Wohl aber kann der Staat den Versuch machen, die Kämpfer durch Entfaltung all seiner Gewaltmittel einzuschüchtern. Er kann bei den Staats- und Gemeindearbeitern Massenverhaftungen vornehmen; er kann die Arbeiter gewaltsam aus ihren Wohnungen werfen, wenn sie Eigentum des Staates, der Gemeinde, der Eisenbahngesellschaften usw. sind; er kann Versammlungsrecht und Bewegungsfreiheit aufheben, die Führer ins Gefängnis schleppen, mit einem Wort: die Bewegung kopflos machen, in der Hoffnung, einen Wutausbruch zu provozieren. Er kann aber auch mit Mitteln der Überredung auf die Arbeiter einwirken, ihnen drohen mit allgemeiner Entlassung, ihnen versprechen, ihre Beschwerden abzustellen, die Ursachen des Kampfes zu beseitigen, sobald nur die Arbeit wieder aufgenommen ist. Er wird falsche Nachrichten von Verrat und Entmutigung verbreiten lassen, von der Aufnahme der Arbeit an andern Orten. Er wird das Lumpenproletariat zur Plünderung antreiben und Krawalle anzetteln, um die Bewegung zu diskreditieren und dem Militär einen Vorwand zur Anwendung von Gewalt zu geben. Er wird sich aller bestehenden Institutionen bedienen sowie aller Vorurteile und jedes Aberglaubens, um die Arbeiter vom Kampfe abzulenken: die Streikenden von der Kirche verdammen, von der Presse als Opfer ausländischer Verschwörer hinstellen lassen. Wer sich vergegenwärtigen will, welch Tausende von Mitteln der Grausamkeit und der Niedertracht der Staat gegen eine politische Streikbewegung in Anwendung bringen wird, denke nur an das schamlose Vorgehen der russischen Regierung seit den Januartagen bis heute, an ihre Maßnahmen der brutalsten Grausamkeit bis zur raffiniertesten Schlauheit. Eine ungeschulte, undisziplinierte Arbeiterschaft, wie begeistert sie auch den Kampf aufnahm, wird unter diesen Verhältnissen leicht versagen, oder zur Gewalt übergehen. Nur abgehärtete, geübte Kämpfer sind imstande, allem Betrug und aller Brutalität kalte Verachtung entgegenzusetzen, der äußerlichen Mittel der Verständigung sowie der Führer beraubt, in ungewaltsamem Widerstand auszuharren. Freilich darf auch hier nicht übersehen werden, dass seinerseits der revolutionäre Kampf am besten geeignet ist, die Schulung und Disziplin des Proletariats im Sturmschritt vorwärts zu bringen. Eins ist die Organisation des Proletariats; ein andres das Bewusstsein, der Geist, der dieses beseelt und auch die unorganisierte Masse beeinflusst. Auch an diesen Geist stellt der politische Massenstreik die höchsten Ansprüche. Das Proletariat muss, um Großes vollbringen zu können, von klarem Klassenbewusstsein erfüllt, das heißt sozialdemokratisch erzogen sein. Es muss in seinen Anschauungen und Gewohnheiten immer mit der Möglichkeit einer Phase des entscheidenden Kampfes, als Frucht der langsam gereiften Umkehr in den Verhältnissen der Klassen, gerechnet haben. Es muss entschlossen sein, in einem solchen Falle seine äußersten Kräfte gegen die Machtmittel der herrschenden Klassen einzusetzen, vor keinem Opfer an Gut und Blut zurückzuschrecken. Es muss in allen Alltagskämpfen und bei aller Alltagsarbeit das Bewusstsein seiner großen Kulturmission, den stolzen Willen, die Gesellschaft umzuwälzen, wach und lebendig erhalten haben. Nur ein so denkendes und empfindendes Proletariat – ein Proletariat, durchglüht von revolutionärer Gesinnung – wird willig sein, in entscheidenden Situationen die Entbehrungen und Leiden des Massenstreiks auf sich zu nehmen, seinen Gefahren die Stirn zu bieten. Denn nur ein solches Proletariat ist imstande, sich von einer großen Welle revolutionärer Begeisterung über alle Alltagsrücksichten und Alltagsängstlichkeit erheben zu lassen. Nur die Sozialdemokratie aber stellt dem Proletariat große Ziele, erhabene Ideale vor Augen, für die es sich begeistern kann. Wo die Arbeiterbewegung, wie zurzeit in England, größtenteils in den Gleisen einer engherzigen, kleinlichen Gewerkschaftspolitik läuft, wo die bürgerlichen Rechte der großen Zahl der Arbeiter nur dazu dienen, um Augenblicksforderungen mit dieser oder jener der bürgerlichen Parteien zu schachern, da kann der politisch-revolutionäre Streik, wie fest gefügt und umfassend auch die gewerkschaftliche Organisation sei, nicht in Anwendung kommen. Das Bewusstsein des Proletariats, eine geschichtliche Mission zu erfüllen, seine Kampfesstimmung und seine revolutionäre Gesinnung ist und bleibt das entscheidende Moment, das über die Möglichkeit nicht zwar seines Gelingens, sondern eines Versuches des politischen Massenstreiks entscheidet. Deshalb war er in Russland möglich und aus demselben Grunde fehlt zur Zeit in England seine wichtigste Vorbedingung. Der politische Streik ist die Verbindung von politischem und wirtschaftlichem Kampf, die Mobilisierung der ökonomischen Macht des Proletariats zum Zwecke der Erreichung politischer Ziele. Er macht es somit notwendig, dass der Zusammenhang aller seiner Kampfmittel ihm klar vor Augen steht. Wo die politische und die wirtschaftliche Organisation im Gegensatz zu einander stehen, statt einander zu ergänzen, wo die Gewerkschaftsbewegung antiparlamentarisch ist, die politische Partei ausschließlich dem Kampf im Parlament ihre Kraft und Aufmerksamkeit zuwendet, die Bedeutung des außerparlamentarischen Kampfes unterschätzt und sich infolgedessen eine gewisse Animosität zwischen den verschiedenen Formen der proletarischen Organisation entwickelt, da ist der politische Streik ein überaus gefährliches Experiment. Hier besteht die Gefahr, dass die Massen das politische Ziel des Streiks, sei er Demonstration oder Pression, nicht klar erkennen und ihn als endgültigen, auf die Vernichtung des Kapitalismus gerichteten Kampf auffassen werden. Dies ist dann wieder nicht geeignet, dem Streik die Sympathien der politischen Vertreter des Proletariats zuzuführen; er wird ihnen als ein unsinniges Unternehmen erscheinen, dem sie sich unmöglich von Herzen anschließen können. Unter solchen Verhältnissen ist der Sieg ausgeschlossen die Niederlage verhängnisvoll. Der Kampf muss in Zank und Zwietracht enden, die Arbeiterklasse wird sich in dem Moment zerfleischen, in dem die äußerste Eintracht geboten wäre. Auch wo die Gewerkschaftsbewegung in den umgekehrten Fehler verfällt, nämlich nur auf die Erzielung kleiner Augenblickserfolge gerichtet ist, darin ganz aufgeht und in einem bewussten Gegensatz zum Sozialismus steht, kann der politische Streikversuch nur missglücken, denn es ist unmöglich, dass die Anschauungen und Gewohnheiten der Massen plötzlich eine ganz andre Richtung einschlagen. Die Erfahrung lehrt, dass sozialdemokratisches Bewusstsein, gutes Einvernehmen und Zusammenhalt zwischen gewerkschaftlicher und politischer Organisation, inneres Verwachsen beider, noch weit wichtiger ist als der Umfang dieser Organisation. In Belgien, wo dieser Zusammenhalt bestand, wo von jeher der wirtschaftliche mit dem politischen Kampf als ein organisches Ganze funktionierten, war es dem Proletariat, als der Sieg nicht zu erringen war, möglich, einen geordneten Rückzug auszuführen; die Organisation wurde kaum erschüttert. In Holland, wo dieses gute Einvernehmen fehlte, Partei und Gewerkschaften nicht gewohnt waren, bei jeder wichtigen Aktion zusammenzugehen, wo die Masse der Arbeiter sich über das Ziel des politischen Streiks gänzlich im unklaren befand, führte die Niederlage bekanntlich zu einer Katastrophe der gewerkschaftlichen Organisation. ★ ★ ★ Es ist bei der Diskussion über den Generalstreik oft davon die Rede, ob der politische Massenstreik in diesem oder jenem Fall, z. B. zur Erringung oder Sicherung des Wahlrechts, anzuwenden sei. Wer dies im Voraus bestimmen will, beweist nur, dass er von den psychologischen Bedingungen, die sich zu den wirtschaftlichen und organisatorischen Voraussetzungen der siegreichen Volkserhebung gesellen müssten, keine Ahnung hat. Der politische Massenstreik lässt sich ebenso wenig beschließen oder verbieten, wie irgend ein großer Streik, eine Massenbewegung, eine Volkserhebung, eine Revolution. Jeder Gewerkschaftsführer weiß, wie unmöglich es ist, den Massenstreik, selbst wenn die Situation die denkbar günstigste wäre, zu dekretieren, wenn die Massen nicht mit ihrer ganzen Seele hinter ihm stehen. Jeder Gewerkschaftsführer weiß aber auch, wie schwer und oft unmöglich es ist, einen Streik zurückzuhalten, wenn der Unwille, noch länger zu dulden, und die Kampfstimmung in den Massen erwacht sind. Die Erregung, die sich der Arbeiter bemächtigt, treibt sie von ihrer Arbeit fort; sie können nicht anders; sie müssen streiken. So sehr das „blitzartige“ Ausbreiten und Umsichgreifen des Streiks die bürgerlichen Kreise überrascht, alle die dem Proletariat nahe stehen, wissen, dass diese Erregung keine Augenblickslaune, sondern die Entladung eines seit langen Jahren von Druck, Elend, Erniedrigung aufgespeicherten Grimmes ist. Welche Veranlassung auch den Streik herbeigeführt haben mag, sie ist immer nur der letzte Tropfen im vollen Becher. Die kapitalistische Gesellschaftsordnung schlägt dem Proletariat so viele und so tiefe Wunden, dass es, wenn einmal seine Kampflust erwacht, wenn es sich einmal dazu aufrafft, die Alltagsrücksichten, den Indifferentismus und den Stumpfsinn abzuschütteln, den Kampf gegen die Ausbeuter wie eine beglückende Erlösung empfindet. Deshalb kann sich mit einem Schlage, sowie tiefe Erregung zum Ausbruch des Massenkampfes führt, die seelische Physiognomie der Masse ändern. Es gibt keine Indifferenten, keine Entnervten, keine Widerstrebenden mehr, alle folgen dem Strom der allgemeinen Begeisterung. In ihm verschwindet individuelle Schwäche und Indifferentismus wie ein Stück Treibholz in den Wellen des Meeres. Die tiefe Falte der Unterwürfigkeit wird in den Seelen glatt gestrichen, die Tradition sklavischer Genügsamkeit wie ein altes Gewand abgestreift. Der Wille zur Freiheit dämmert auf und schlägt die kleinen Sorgen des Lebens zu Boden. Im Vordergrunde des Bewusstseins der Kämpfenden steht nur eins und dies eine scheint sie ganz zu erfüllen: der Wille zum Kampf. „Kämpfen, und wenn wir sterben“, „lieber sterben als länger kampflos dulden“ diese Grundstimmung klingt aus jedem Massenkampf heraus. Die Erlösung von der täglichen, eintönigen Arbeitsqual, das Bewusstsein, sich endlich nach langer Erniedrigung aufgerichtet zu haben, das Sicheinsfühlen in einem großen Ziel, das vollkommene Aufgehen des einzelnen in der Gemeinschaft der Tausende: dies alles erweckt in der Masse eine heroische Begeisterung. Unorganisierte und unklare Köpfe, Alte und Junge, Weiber und Kinder werden von ihr erfasst. Alle Vorsicht wird vergessen, alle Rücksicht hört auf. Der Streikimpuls wirkt unwiderstehlich, und wie der Himmel von Wolken überzogen wird, überziehen die Scharen der Feiernden die Stadt oder das Land. Der stärkste Zügel des Proletariats, sein eigener vernünftiger Wille, der sich als Beschluss der Organisation seiner Leidenschaft entgegenstellt, wird zur Seite geschleudert, die proletarische Disziplin durchbrochen. Eine solche Erregung hat der erstaunten Gesellschaft manchen ökonomischen Massenstreik und manchen Sympathiestreik vor Augen geführt. Und nur eine so tiefe und gewaltige Erregung vermag einen allgemeinen politischen Streik hervorzurufen. Nicht bloß die Organisierten werden von ihm fortgerissen; im Gegenteil: kommt er zur rechten Stunde, als Ausbruch einer unwiderstehlichen revolutionären Erregung, so wird er unzweifelhaft viel größere Massen in die Bewegung reißen, als es dem sozialistischen Bewusstsein im eigentlichen Sinne entspricht.P Schon die belgischen Generalstreiks zur Erlangung des Wahlrechts bekundeten dies; in noch höherem Grade der italienische Streik und erst recht die ungeheure russische Streikbewegung. Es ist dies natürlich nur der Fall, wenn die Erregung nicht bloß die Arbeiter eines Erwerbszweigs oder eines Distrikts, sondern die gesamte Arbeiterschaft eines Landes umfasst. Dies kann aber nur eintreten bei Fragen, die die Lebensinteressen – materielle wie ideelle – des ganzen Proletariats aufs innigste berühren. So tief muss die Empörung, so überwältigend die Sehnsucht der Massen sein, dass es ihnen zu einer unumstößlichen Gewissheit wird, in den alten Verhältnissen nicht weiter leben zu können, und so erstrebenswert ihnen des Kampfes Ziel sein, dass ein jeder seine ökonomische Existenz, ja sein Leben mit Begeisterung dafür einsetzt. Der politische Massenstreik kann also nur das Ergebnis einer heftigen moralischen Krise im Proletariat sein, eines Ausbruchs lang angesammelter revolutionärer Erregung und Energie. Keineswegs aber braucht er, wie Jaurès annimmt, stets aus einer durchaus ungünstigen politischen Lage, somit aus einem Gefühl der Verzweiflung hervorzugehen. Verzweiflung, abwechselnd mit roher Genusssucht und dumpfer Resignation, sind die vorherrschenden Aufwallungen und Triebe des unaufgeklärten, unorganisierten Proletariats. Das dem aufgeklärten und organisierten Proletariat aber eigentümliche Charakteristikum ist Empörung gegen alles Unrecht und Siegeszuversicht. Diese Empfindungen, aufs äußerste gesteigert, treiben es in den Kampf. Von revolutionärer Energie durchglüht, von Siegeszuversicht beseelt, stark und gewaltig, weil es freudig hofft, nicht weil es verzweifelt: so wird das organisierte Proletariat zum politischen Massenstreik übergehen. Es leuchtet aus dem Vorhergesagten ein, dass der politische Streik sich nicht für bestimmte Fälle in Aussicht stellen lässt. Aber vermag man auch nicht, den Sturm zu befehlen, so lässt er sich doch manchmal voraussagen. So kann auch aus gewissen Erscheinungen, aus der Stimmung der Arbeiterschaft und ihrer Organe, aus der steigenden Erregung und Erbitterung, dem drohenden Charakter der Manifestationen und Demonstrationen ein Ausbruch des angesammelten Zornes mit einiger Wahrscheinlichkeit vorhergesagt werden. Dies annehmen, ist aber ganz etwas andres, wie den politischen Streik als eine bestimmte Maßregel für ganz bestimmte Fälle ins Auge fassen oder für einen bestimmten Termin ansagen, wie als Verteidigungsmittel des Wahlrechts, als Abwehr gegen den Verfassungsbruch überhaupt oder als Angriffsmittel zur Eroberung irgend eines wichtigen politischen Rechtes. Es ist eben nie vorher zu sagen, welche Ereignisse beim Proletariat jene gewaltige Glut des Zornes, der Empörung und der Begeisterung anfachen werden, die zum politischen Massenstreik absolut erforderlich sind. Dies hängt mit der geschichtlichen Entwicklung und der ganzen Lage zusammen. Eine Enttäuschung oder Entrechtung wird sowohl von der Arbeiterschaft verschiedener Länder anders empfunden werden, wie von der ein und desselben Landes zu verschiedenen Zeiten. Es kommt hier ein Gesetz des seelischen Lebens in Betracht, das für die Masse wie für den einzelnen Geltung hat, das Gesetz von Aktion und Reaktion. Jede aufsteigende Linie geht in eine niedersteigende über; auf jeden Höhepunkt folgt ein Niedergang, und erst wenn dieser erreicht ist, kann die Bewegung einem neuen, weiteren Höhepunkt zustreben. Dies Gesetz erklärt, wie das eine Mal ein Ausbruch der Entrüstung durch ungefähr gleiche Ereignisse wachgerufen werden kann, die zu andrer Zeit wohl einen gewissen Unwillen, keineswegs aber einen Sturm hervorzurufen imstande wären und umgekehrt. Die holländischen Arbeiter, die sich unter dem erhebenden Eindruck des Sieges der Eisenbahner gegen den Angriff der Regierung auf das Streikrecht in zorniger Empörung aufbäumten, nahmen ohne besondere Erregung die Vorlage eines Arbeitskontraktentwurfes entgegen, der in seiner ursprünglichen Fassung jede Möglichkeit, zu streiken, aufhob. Die italienischen Arbeiter antworteten auf die Mailänder Metzeleien vom Jahre 1898, wobei Hunderte von Männern, Frauen und Kindern niedergeschossen wurden, nur mit dumpfem Grollen; sechs Jahre später, bei der Nachricht der Mordtaten von Buggeru und Castelluzzi, durchwühlte ein gewaltiger Zorn das Herz des italienischen Proletariats – und der Streik als spontane Riesendemonstration dieses Zornes war da. Wohl gibt es verschiedene Faktoren, die den Ausbruch des politischen Streiks in einem gegebenen Lande fördern oder hemmen können. Einer dieser Faktoren ist zweifellos das nationale Temperament. Teilweise ist das eine Sache der Rasse: gewiss werden unter den gleichen Umständen die Völker der romanischen Rasse eher zu spontanen Erhebungen übergehen, als die phlegmatischen und besonneneren Nordländer. Das nationale Temperament ist aber auch ein Ergebnis der jüngeren geschichtlichen Vergangenheit und der unter ihrem Einfluss gebildeten Traditionen und Sitten. Eine Volk ohne revolutionäre Vergangenheit und revolutionäre Traditionen wird sich schwerer erheben und entschließen, den politischen Massenstreik als revolutionäres Mittel anzuwenden als eine Nation mit revolutionärer Vergangenheit und Tradition. Aber die durch die kapitalistische Entwicklung erzeugte Gleichheit der Verhältnisse drängt dem Proletariat aller Völker, welches seine Rasseneigentümlichkeiten auch seien und wie seine nationale Vergangenheit auch beschaffen sein möge die gleichen Anschauungen, die gleiche Organisation und Kampfesweise auf. Und weder das kalte, nordische Blut noch der völlige Mangel jeder revolutionären Tradition bei der Masse hat den politischen Massenstreik des russischen Proletariats verhindert, sobald der großindustriellen Arbeiterschaft die Anwendung dieses ihr fremden Kampfmittels von den geschichtlichen Ereignissen nahe gelegt wurde. Unter den mannigfaltigen Umständen, die den Ausbruch des politischen Streiks fördern oder hemmen können, verdient noch besondere Beachtung die Stärke der Organisation. In den älteren Ländern des Kapitalismus besteht zwischen dem heutigen Proletariat und demjenigen zur Zeit des kommunistischen Manifests der Unterschied, dass es, wenn nichts andres, so doch die von ihm oft in jahrzehntelangem Ringen eroberten Rechte und seine ausgebildeten Organisationen zu verlieren hat. Ein auf politischem Gebiete rechtloses, auch ein sich zwar bürgerlicher Rechte erfreuendes, aber nur schwach organisiertes Proletariat wird leichter für den politischen Massenstreik zu gewinnen sein, als ein Proletariat, das sich gewisser politischer Rechte erfreut und stark organisiert ist, denn dieses hat bei einer eventuellen Niederlage unendlich mehr zu verlieren. Kommt es aber zum Kampf, dann wird ihn das weiter fortgeschrittene Proletariat mit äußerster Anstrengung und zähester Beharrlichkeit führen. Je umfassender und fest gefügter die Organisation, um so tiefer und nachhaltiger ist die Erregung, welche die Massen erfassen muss, um sie in den Streik zu treiben, um so größer sind demnach auch die Aussichten seines Sieges. Diese Aussichten hängen indes nicht nur von der Zahl und Tüchtigkeit des Proletariats ab, sondern es kommen dabei noch Momente in Frage, ohne die der Sieg unmöglich ist, wie zahlreich und stark die industrielle Arbeiterschaft auch sein mag, wie mustergültig ihre Organisation. wie mächtig die Erregung. die sie in den Kampf treibt. Die Möglichkeiten und Aussichten des politischen Massenstreiks hängen außer von der Kraft und Reife des Proletariats auch vom Charakter des Staates ab. Es ist oft der politische Streik zu der parlamentarischen Methode in einen Gegensatz gebracht worden. Die Annahme eines solchen Gegensatzes aber beruht auf einem Irrtum. Dieser entsteht entweder aus dem Grunde, dass der politische Streik mit der anarchistischen Generalstreikidee verwirrt und verwechselt wird, Diese letztere steht tatsächlich als absolutes Universalmittel, das in allen Lagen und Verhältnissen mit Erfolg angewendet werden kann, falls nur die Einsicht und der Wille vorhanden sind, nicht bloß zum Parlamentarismus, sondern zu allen andern Methoden des proletarischen Klassenkampfes in einem wirklichen Gegensatz. Oder aber der Irrtum beruht auf der Überschätzung des Parlamentarismus, der zu der einzigen Methode und der einzigen Marschroute gemacht wird, auf welcher das Proletariat seine Schlachten schlagen und seine Ziele erreichen kann. In Wahrheit besteht zwischen Parlamentarismus und politischem Massenstreik ebenso wenig ein Gegensatz, wie zwischen Organisation und Begeisterung oder Disziplin und revolutionärer Energie. Sie heben einander nicht auf, sondern ergänzen sich wechselseitig. Einerseits kam die Idee des politischen Massenstreiks ursprünglich auf als ein Mittel, den Zugang zum parlamentarischen Kampfplatz zu erzwingen; diesem Ziele sind auch verschiedene seiner Versuche gewidmet. Andrerseits ist der Massenstreik in seinen mildern Formen des Protests und der Demonstration bis jetzt nur in Ländern zur Anwendung gekommen, in denen ziemlich entwickelte parlamentarische Einrichtungen bestehen und das Proletariat sich eines nicht allzu geringen Maßes bürgerlicher Freiheit erfreut. In Staaten von ganz oder halb absolutistischem Charakter, mit starker Zentralregierung und dürftig entwickelten, wenig einflussreichen parlamentarischen Einrichtungen, ist der politische Streik als gesetzliches Demonstrations- oder Manifestationsmittel, wie er in Schweden und Italien gehandhabt wurde, noch nie versucht worden. Es ist überhaupt zweifelhaft, ob er in solchen Staaten, vor allem in Deutschland, in dieser Form je Anwendung wird finden können. Der Grund, weshalb sich hier die parlamentarischen Einrichtungen nicht weiter entwickeln und das Proletariat nicht zu größerer Bewegungsfreiheit kommt, liegt gerade an der Massenanhäufung dieses Proletariats, an der starken Entwicklung seines Selbstbewusstseins, an dem Umfang und der Macht seiner Organisationen. Diese Umstände wieder machen es unwahrscheinlich, dass der Massenstreik etwas andres sein kann als die Einleitung zu entscheidenden Kämpfen; nicht, weil das Proletariat es so will, sondern weil seine Gegner auch in der friedlichsten Demonstration die Todesdrohung ihrer politischen Herrschaft erblicken würden. Die Demokratie hat sich nur dort voll entwickeln, die parlamentarischen Einrichtungen haben nur da starke Wurzel im Nationaldasein fassen und üppig in die Höhe schießen können, wo die Kämpfe des modernen Bürgertums gegen Absolutismus und feudal-agrarische Klassen in eine Zeit fielen, da das Proletariat noch unentwickelt und unselbständig war. Dort hat das Bürgertum, als seine Feinde niedergeschlagen waren, diejenigen politischen Einrichtungen konsequent durchführen können, die dem Wesen seiner Klassenherrschaft entsprachen, ohne Furcht, dass das Proletariat jene Einrichtungen als Mittel anwenden würde, die bürgerliche Herrschaft zu stürzen. Wo aber, wie in Deutschland, die Revolutionskämpfe des Bürgertums mit den Anfängen der proletarischen selbständigen Organisation und des proletarischen Emanzipationskampfes zusammenfallen, da wachsen Parlamentarismus und Demokratie nicht über dürftige Anfänge hinaus. Das Bürgertum wagt nicht, den Absolutismus und die feudal-agrarischen Klassen vollständig abzutun, weil es in der politischen Macht dieser Klassen, in ihren Anschauungen, ihren Sitten einen Schutz gegen das andrängende Proletariat findet. Es begnügt sich, wie mit einer halben Revolution, so mit halbwegs-parlamentarischen Institutionen. Es nimmt die schmachvolle Geringschätzung, mit der es vom Throne behandelt wird, gern in den Kauf, um den von ihm gewährten Schutz weiter zu genießen. In solchen Ländern, unter solchen Verhältnissen kann das Wachstum der Macht des Proletariats sich keineswegs in einem weiteren ununterbrochenen Ausbau der parlamentarischen Einrichtungen zeigen. Im Gegenteil: je zahlreicher seine Anhänger werden, je mehr sein gesellschaftlicher Einfluss zunimmt, desto geringer sind die Aussichten auf demokratische Reformen, desto einflussloser ist der Parlamentarismus und desto gefährdeter erscheinen die bestehenden Volksrechte. Politische Reaktion in der Gesetzgebung und in der Handhabung bestehender Gesetze geht mit dem Verfall des Parlamentarismus Hand in Land: beide entspringen der selben Wurzel, der Furcht vor der modernen Arbeiterbewegung. Wohl versuchen die herrschenden Klassen, wenigstens ihre klügeren und weitsichtigeren Schichten, ab und zu das Proletariat durch materielle Konzessionen zu ködern. Aber die Politik der Korruption erweist sich in dem Maße erfolglos, wie das Proletariat sich seiner Aufgaben und Kräfte bewusst geworden ist, je fester es die Möglichkeit, Ausbeutung und Unterdrückung ganz zu beseitigen, ins Auge gefasst hat. Es ist aber den herrschenden Klassen unmöglich, das Proletariat durch politische Reformen in freiheitlichem Sinne zu beschwichtigen; sie können nicht wagen, die Bewegungsfreiheit ihres Gegners zu stärken, ihn aus dem Siege neuen Mut und neue Kräfte schöpfen zu lassen. Bei diesen Voraussetzungen also: die Kämpfe des Bürgertums gegen Absolutismus und feudal-agrarische Klassen, zeitlich zusammenfallend mit dem Anfang des proletarischen Klassenkampfes für die sozialistische Gesellschaft, ist der weitere Verlauf der Entwicklung notwendig ein solcher, dass das Proletariat unmöglich an innerem gesellschaftlichem Einfluss und an äußerlicher politischer Macht gleichmäßig zunehmen kann, Im Gegenteil: der Abstand zwischen seiner realen Macht, seiner Reife, seinem Selbstbewusstsein und dem von ihm in der staatlichen Sphäre Erreichten muss immer größer werden. Seine politisch-parlamentarischen Erfolge werden immer geringer, wie gleichzeitig der bürgerliche Parlamentarismus selbst immer greisenhaft-ohnmächtiger wird. In diesem Stadium der Entwicklung ist nicht bloß keine Rede davon, dass das Proletariat auf parlamentarischem Wege neue Rechte und Freiheiten gewinnen könne, sondern es muss sich gefasst machen, drohende Angriffe auf vorhandene Rechte zurückzuweisen. Es ist selbstverständlich, dass eine proletarische Aktion, die in mehr demokratischen Ländern zwar scharfe Abwehr seitens der bürgerlichen Gesellschaft erfahren, aber nicht als revolutionäre Tat angesehen würde, in Ländern des stärkeren Drucks und Gegendrucks, der antidemokratischen Lebensformen und Sitten, des entwickelteren Klassengegensatzes und der größeren Spannung, die sich daraus ergibt, von den Gegnern viel schärfer beurteilt und mit viel größerer Einmütigkeit, Energie und Rücksichtslosigkeit bekämpft werden wird. Nicht so sehr auf das unmittelbare Ziel der Aktion des Proletariats kommt es hier an, nicht in erster Reihe der abstrakte Inhalt der Forderung, für die es in den politischen Streik tritt, ist es, die ihn in den Augen der herrschenden Klassen zu einem revolutionären Unternehmen macht, sondern die konkrete Bedeutung, die dieser Inhalt aus den vorhandenen Gegensätzen, den Kräfteverhältnissen und der allgemeinen Lage schöpft. Der politische Massenstreik kann in dem einen Staate eine Erweiterung der Volksrechte, zum Beispiel das Wahlrecht, zum Ziel haben, aber als ruhiger Demonstrationsstreik verlaufen, während in einem andern Lande ein Streik zum Zweck der Verteidigung des Wahlrechts, also bloß zur Erhaltung bestehender Zustände, von der Regierung als revolutionäre Erhebung betrachtet und als solcher begegnet wird. Entscheidend ist nicht der abstrakte Inhalt der Forderung, sondern die allgemeine politische Situation, das Maß der Kräfte, die Tatsache, ob die herrschenden Klassen sich schon vorn Proletariat bedroht fühlen nicht in dieser oder jener Hinsicht sondern in ihrer ganzen Klassenherrschaft, ob der Sieg auf einem Punkt schon Sieg auf der ganzen Linie bedeutet. Wenn auch die Arbeiter in einer solchen Situation nur zum Streik greifen, um auf eindringlichere Weise gegen einen Regierungsakt, etwa eine Einschränkung ihrer Rechte, zu protestieren, so würde der Charakter des Regierungssystems unmöglich machen, dass der Streik als Manifestation verliefe. Der Staat würde die Arbeiterschaft zwingen, entweder den Streik sofort aufzugeben oder ihn, ihren Absichten entgegengesetzt, zu einer Entscheidungsschlacht zu machen. Den Arbeitern wäre es unmöglich, den Kampf. wie es beim Manifestationsstreik der Fall ist, nach ihrem Gutdünken abzubrechen, unmöglich auch der Kompromiss oder der geordnete Rückzug, weil die Regierung sofort die strengsten Maßnahmen zur Unterdrückung des Streiks, der in ihren Augen eine schwere Ungesetzlichkeit bedeutet, treffen würde. Würden die Arbeiter diesem Drucke nachgeben und den Streik beenden, noch ehe er recht begonnen, so wäre der politische wie der moralische Erfolg ganz auf Seiten des Staates. Es wäre für das Proletariat besser gewesen, überhaupt nicht gekämpft, als einen schwachen, mattherzigen Kampfversuch gewagt zu haben, dessen Misslingen nicht nur seinem Selbstvertrauen, sondern auch seinen Organisationen einen schweren Schlag versetzen müsste. Hielte das Proletariat aber stand, ließe es sich durch die Drohungen und die Machtentfaltung der Regierung nicht einschüchtern, dehnte sich der Streik infolge der wachsenden Erregung immer weiter aus, so würde das Proletariat, ob es wollte oder nicht, zum Entscheidungskampfe gedrängt werden. Der als Demonstration begonnene Streik würde sich rasch zum Kampfe um die politische Macht erweitern. Er endete entweder mit der völligen Niederwerfung des Proletariats, der Zerstörung seiner Organisationen, dem Lahmlegen seines Kampfes auf Jahre hinaus, oder mit dem Sturz des herrschenden Regiments, der Einsetzung einer vom Proletariat abhängigen Regierung. Der friedliche Manifestations- oder Proteststreik unterstellt also einen schon halbwegs demokratischen Boden, und ein Verhältnis der Kräfte, wobei das Proletariat sich zwar schon zu einem bewussten Zusammengehen, zu der Möglichkeit eines geschlossenen Vorgehens emporgehoben hat, aber doch seinem Gegner nicht allzu furchtbar und stark erscheint, und seine Macht noch bei weitem nicht ausreicht, die bürgerliche Gesellschaftsordnung zu stürzen. Diese Form des Streiks kann also nur unter bestimmten Verhältnissen und bei bestimmten politischen Gebräuchen in Anwendung kommen, am ehesten in Klein- und Mittelstaaten, bei mehr oder weniger demokratischen Einrichtungen, wo die Staatsgewalt weniger zentralisiert, der Militarismus zu keiner so furchtbaren autonomen Macht ausgewachsen ist. Da zeigt sich der friedliche politische Streik von einigen Tagen Dauer als eindrucksvolle, aggressive Demonstration sehr wohl möglich. Er kann als Unterstützung des parlamentarischen Kampfes in gewissen Fällen ein geeignetes Mittel sein, spruchreife, politische Reformen durchzusetzen, Verschlechterungen vorzubeugen und gegen Vergewaltigungen zu protestieren. In allen solchen Fällen hat er keine besonderen Gefahren für das Proletariat im Gefolge. Er erfordert aber eine geschulte und disziplinierte Arbeiterschaft, die sich über den Charakter des Streiks als Demonstrationsmittel absolut klar und bereit ist, ihn auf das erste Zeichen der Führer zur festgesetzten Zeit zu beenden, damit er nicht den Charakter eines Pressionsstreiks annehme. Es leuchtet ein, der Manifestationsstreik macht nicht erforderlich, dass die gesamte Arbeiterschaft des Landes in den Ausstand tritt. Es handelt sich ja nur um einen Druck auf die öffentliche Meinung, und dieser kann durch das einige Tage währende Stilllegen der wichtigsten Erwerbszweige der Großindustrie, des Bergbaus, des Hafentransports, erreicht werden. Hauptsache ist die Masse der Feiernden. Es ist nicht notwendig, das gesamte öffentliche Leben durch Stilllegen des Verkehrs usw. zu desorganisieren. Vielmehr könnte eine zu allgemeine Arbeitseinstellung in diesem Falle über ihr Ziel hinausschießen. Wohl werden sowieso die reaktionären Parteien immer bereit sein, den Demonstrationsstreik zu einem revolutionären Pressionsversuch aufzubauschen, die Führer als Aufrührer zu denunzieren das ist unvermeidlich. Aber wenn sich die Arbeitseinstellung auch über die Produktionszweige von unbedingter, allgemeiner Notwendigkeit erstrecken würde, brächte sie den größten Teil der Bevölkerung gegen die Streikenden auf die Beine. Wo es also nur auf die feierliche Wirkung einer Demonstration abgesehen ist, wäre der von TuratiQ gegebene Rat zu beachten, die wesentlichen Erfordernisse des öffentlichen Lebens zu respektieren, wenngleich auch in geringerem Masse, als er dies vorschlägt. Denn wenn, wie Turati verlangt, Eisenbahnverkehr, Post und Telegraph, Wasserzufuhr, Sanitätsdienst, Brotversorgung, Beleuchtung und Tagespresse, wenn alle diese Einrichtungen vom Streik unberührt bleiben sollen, so dürfte seine demonstrative Wirkung allzu sehr geschwächt werden. Auch soll man, wie Oda Olberg mit Recht bemerkt, keine Masche im Gewebe der Solidarität unnötig zerschneiden. In politisch vollständig ausgebildeten Demokratien dagegen, wie zum Beispiel die Schweiz, würde der Manifestationsstreik von der Mehrzahl der Bevölkerung als eine unnötige Störung des wirtschaftlichen Lebens empfunden werden. Es ist also unwahrscheinlich, dass man sich dort seiner bedienen wird. Wo sich die Gesamtheit der Bürger politischer Rechte erfreut, die ihr ermöglichen, zu jeder Zeit auf direktem Wege in die Verwaltung des Landes einzugreifen, die Regierung somit direkt im Volkswillen wurzelt, hat der politische Streik keine Berechtigung. Eine Arbeiterklasse, die über die direkten politischen Waffen des allgemeinen Wahlrechts, der Volksinitiative und des Referendums verfügt, braucht für den Klassenkampf das indirekte Mittel, den politischen Streik, nicht, um ihren Willen durchzusetzen. Die normale Entwicklung des Klassenkampfes ist hier die Aufklärung und Organisation zum richtigen, das heißt den proletarischen Klasseninteressen dienenden Gebrauch aller bürgerlichen Rechte. Es ist jetzt, im Zusammenhang mit dem vorher Ausgeführten, noch zu untersuchen, unter welchen Bedingungen der politische Streik im letzten Stadium des proletarischen Klassenkampfes das Stadium der annähernd gleichen Kräfte, das Stadium der großen Entscheidungen dem Proletariat günstige Aussichten bietet. Dies wird immer ein Stadium sein, in dem die Reaktion äußerlich stark erscheint. Ebenso wenig aber wie diese äußerliche Stärke der Reaktion gleichbedeutend ist mit der Schwäche des Proletariats (vielmehr ist sie eine Folge seiner realen Macht), ebenso wenig brauchen die nicht proletarischen Klassen einmütig und geschlossen hinter ihr zu stehen, gesinnt, der Regierung in ihrem Kampfe gegen die Erhebung der Massen zuzustimmen und willig sie zu unterstützen. Ist dies der Fall, stehen starke Klassen einmütig hinter einer Regierung, so wird sie schwer von einer Klasse, wie zahlreich und energisch sie auch sei, gestürzt werden können. Wenn nur das Proletariat mit der Regierung unzufrieden ist, sie aber das Zutrauen der Mittelschichten genießt, Armee und Bürokratie ihr ergeben sind, so kann sie dem Ansturme ziemlich ruhig entgegensehen. Sie wird ihre Maßregeln ergreifen im Bewusstsein ihrer Kraft und konsequent und entschlossen gegen die Unbotmäßigen vorgehen. Sind aber alle Klassen mit einer Regierung mehr oder weniger unzufrieden und hat sie zu fürchten, dass ihre Anhänger von heute auf morgen zu den neuen Mächten überlaufen, so fühlt sie sich, gebärdete sie sich auch noch so brutal, innerlich schwach, handelt unentschlossen, ist weder weit blickender Konsequenz des Handelns, noch ruhiger Unerschütterlichkeit fähig. Solche innerlich morsche Regierung, zu der keine Klasse mehr in fester Zuversicht und Treue steht, kann der proletarische Ansturm zum Zusammenbruch treiben. Kautsky bemerkt einmal: Die moderne Entwicklung habe die Tendenz, die Regierungen zu schwächen und alle Klassen mit ihnen unzufrieden zu machen. Die Staatsgewalt und die hinter ihr stehenden Klassen haben heute im wesentlichen alles erreicht, was sie wollen, sie haben keine großen Ziele mehr zu verwirklichen: deshalb gibt es keine geschlossenen bürgerlichen Parteien, keine starken bürgerlichen Regierungen mehr. Es gibt kein großes gemeinsames Interesse, das die Klassen zusammenschweißen könnte, die kleinen, lokalen und beruflichen Sonderinteressen kommen in den Vordergrund, die Parteien der besitzenden Klassen spalten sich immer mehr in kleine, kurzsichtige Cliquen. Die Regierungen aber werden immer mehr zu Koalitionsregierungen, deren Aufgabe nicht mehr darin besteht, ein großes Programm durchzuführen, sondern darin, die auseinanderstrebenden Elemente unter einen Hut zu bringen, was nur möglich ist in der Weise, dass man jede zum Verzicht auf den Rest ihres traditionellen Programms veranlasst, dass man also ihre gesetzgeberische Unfähigkeit steigert und ihre ganze Kraft auf irgendeine nahe liegende Maßregel konzentriert.R Es gibt also gesellschaftliche Tendenzen, die der Tendenz der zunehmenden Geschlossenheit und Einmütigkeit der bürgerlichen Gesellschaft in der Abwehr gegen den Massenstreik entgegenwirken. Das Proletariat braucht nicht notwendig alle nichtproletarischen Klassen als eine „reaktionäre Masse“ sich gegenüber zu haben, wenn sein Emanzipationskampf ein revolutionäres Tempo annimmt. Werden sich aber, auch wo allgemeine Unzufriedenheit mit einer unfähigen und untätigen Regierung vorhanden ist, der Erhebung des Proletariats nicht alle nichtproletarischen Elemente entgegen stemmen und sich gegen das Proletariat zusammenschließen? Werden sie nicht alle ihre Klagen und Schmerzen vergessen, wenn der Sieg des Proletariats in greifbare Nähe rückt? Eine unbedingte Antwort ist auf diese Frage nicht zu geben. Die Gruppierung der gesellschaftlichen Kräfte hängt in der entscheidenden Kampfesphase von mancherlei Umständen ab, vor allem aber davon, ob die Mittelschichten in einer revolutionären Situation dem Sieg des Proletariats oder aber dem der Reaktion mit größerer Furcht entgegensehen würden. Mit Gewissheit behaupten, diese Schichten würden sich immer, unter allen Umständen, auf die Seite der Reaktion schlagen, heißt zweierlei vergessen. Erstens, dass Koalitionsregierungen nicht in gleichem Maße die Interessen aller Klassen außer der proletarischen vertreten, sondern hauptsächlich die einiger einflussreicher Cliquen, wie die hohe Finanz, die großen Monopolisten, den Großgrundbesitz, die Spitzen der Armee und die Bürokratie. Zweitens die Tatsache – sie bildet das Gegenstück zur ersten –‚ dass das Proletariat mehr und mehr zum einzigen Vorkämpfer der allgemein-gesellschaftlichen Interessen wird. Dies ist nicht nur der Fall, wo es für gute internationale Beziehungen, für Förderungen der Kultur und Wissenschaft, der öffentlichen Hygiene usw. eintritt, sondern auch, wo es augenscheinlich nur für sein Klasseninteresse kämpft. So träfe zum Beispiel eine Wahlrechtsverkürzung, welche die arbeitenden Klassen ihres politischen Einflusses beraubte, mittelbar die ganze Gesellschaft und brächte die gesellschaftliche Entwicklung ins Stocken. Dies hätte das Emporkommen der reaktionärsten, borniertesten und gewalttätigsten kapitalistischen Cliquen zur Folge, die eine verhängnisvolle Politik der Ausplünderung der Massen, der Zollkriege, des tollen Militarismus und Marinismus, der gefährlichen Kolonialabenteuer herbeiführen würden. Keineswegs aber würde sie zu einer größeren Berücksichtigung der Interessen der Mittelschichten, der Kleinbürger und Bauern, der Intellektuellen führen. Aber die Tatsache, die Niederschmetterung des Proletariats, der Sieg der Reaktion brächte dem Mittelstand keineswegs eine Verbesserung, sondern eine Verschlimmerung seiner Lage, bedeutet noch keineswegs, dass er dies notwendig erkennen wird. Es sind sehr verschiedene Gruppen, mit äußerst abweichenden Anschauungen, Lebensgewohnheiten und Interessen, die unter diesem Sammelnamen des Mittelstandes zusammengefügt werden. Mit dem „alten Mittelstand“, dieser fest gefügten, einheitlichen Masse – einheitlich in der Lebensführung und im Denken – haben sie nur den Namen gemein. Es befinden sich unter ihnen Bruchstücke des alten, unabhängigen Handwerkerstandes, die zu den bornierten und reaktionärsten Schichten der Bevölkerung gehören; kleine Kapitalisten und Rentiers, die vor allem von einer Regierung Ruhe und geringe Steuern verlangen, Werkführer, Vorarbeiter, Techniker, Angestellte und Beamte, Angehörige der freien Berufe und Intellektuelle aller Art. Von den letzten Kategorien dürften viele fortschrittlich gesinnt sein, manche sogar in normalen Zeiten zu den Mitläufern der Sozialdemokratie gehören, sich sympathisch zu vielen ihrer Forderungen stellen, solange das Proletariat friedlich ungewaltsam vorgeht. Ob sie die ungeheure Änderung der Taktik, als die der Massenstreik erscheint und die eine Folge des Umschlags der Verhältnisse ist, auch verstehen und ihr zustimmen würden, ist freilich eine andre Sache. Jedenfalls aber ist klar, dass man diese Mittelschichten unmöglich unter einen Begriff fassen kann. Sie sind keine einheitliche Klasse, weder ökonomisch noch politisch und moralisch. Wie die Grundlage ihres Daseins von der kapitalistischen Entwicklung fortwährend erschüttert wird, wie ihre Zusammensetzung unaufhörlichen Veränderungen untersteht, so wird man sich auch auf ihre Gesinnung nie verlassen können. Ihre seelische Physiognomie ist zeitlich wie räumlich unendlich verschieden. Je nach Tradition, Lage, Augenblicksinteressen und Stimmungen, schließt sich die eine oder die andre der Gruppen, die sie ausmachen, dieser oder jener Partei an. Dieselbe ihrer Schichten, die in einem Lande oder einer Stadt, der scheinbar-demokratischen Reaktion gehört, wie dem Nationalismus, den Christlichsozialen usw., wird sich anderwärts unter die Führung der Sozialdemokratie stellen. Es ist ja allgemein bekannt, wie die seelische Physiognomie der Klasse der Kleinhändler und andrer von Stadtviertel zu Stadtviertel verschieden sein kann, je nachdem sie durch Abstammung, Interessen usw., mit dem Proletariat verbunden ist oder nicht. Diese breiten Schichten sind es, die in der heutigen Gesellschaft nicht unmittelbar am Klassenkampf zwischen der eigentlichen Bourgeoisie und dem Proletariat beteiligt, größtenteils die „öffentliche Meinung“ bilden. Es ist wohl unzweifelhaft, dass die Stimmen dieser öffentlichen Meinung einen gewissen Machtfaktor im modernen Leben bilden und die Regierungen bei ihren Entschließungen gewisse Rücksichten auf sie nehmen müssen. Das aber bedeutet noch keineswegs, dass der Beistand dieser „öffentlichen Meinung“ in einer revolutionären Situation der Klasse, der er zukäme, ein entschiedenes Übergewicht geben würde, deren eigne Schwäche wett zu machen imstande wäre. Alles in allem können wir uns ebenso wenig auf Seite derer stellen, die von der „öffentlichen Meinung“ wichtige Hilfe für das Proletariat bei einer revolutionären Erhebung erwarten, wie jenen zustimmen, die da fürchten, die öffentliche Meinung würde sich in einer solchen Situation immer gegen das Proletariat erklären. Gewiss würde dies bei großen Schichten des Mittelstandes zutreffen, wenn nur sein Gerechtigkeitsgefühl, seine moralische Aufwallung ihn auf die Seite der Arbeiter zöge, sein Interesse aber notwendig ein der Volkserhebung entgegengesetztes wäre. Es sind aber Fälle nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich, wo der öffentlichen Meinung die Störungen des wirtschaftlichen Lebens, die Unruhe und Unsicherheit, die der Streik im Gefolge hat, das kleinere Übel erscheinen mögen als die Niederwerfung des Proletariats, der einzigen Klasse, die sich den Plänen der Staatsgewalt mit revolutionärer Entschlossenheit widersetzen kann. Ein solcher Fall wäre zum Beispiel ein Krieg, der gegen den Wunsch und die Interessen der Bevölkerung vermöge des Einflusses einiger gewalttätiger, reaktionärer Cliquen angefacht würde, sei es, um ihre Eroberungslust zu befriedigen, oder um eine Ablenkung von ihnen unbequemen inneren Verhältnissen zu schaffen. Wenn die fortgesetzt wachsende Kartellierung und Monopolisierung wichtiger Produktionszweige die Mittelschichten als Produzenten und Konsumenten in eine verzweifelt abhängige Lage bringt, dann ist es auch ohne Furcht vor einer Kriegskatastrophe möglich, dass sie einer proletarischen Erhebung keineswegs mit „wahnsinniger Angst“ entgegensehen, sondern sie mit hoffnungsvoller Sympathie begrüßen werden, denn nur von einer proletarischen Revolution könnten sie Befreiung erwarten. Die Erkenntnis der ungleichartigen Zusammensetzung des Mittelstandes wird uns jedoch vor der Täuschung bewahren, zu erwarten, dass er sich ganz und ungeteilt auf die Seite des Proletariats schlagen würde. Viel wahrscheinlicher erscheint, dass er sich spalten wird: die mehr radikalen, proletarisch gesinnten und der sozialistischen Idee zugänglichen Schichten werden für die Forderungen der Massen eintreten, die andern sich der Regierung anschließen. So würde die öffentliche Meinung gespalten erscheinen, wie sie ja tatsächlich schon heute infolge der ökonomischen und politisch moralischen Zerstückelung des Mittelstandes in fast allen wichtigen öffentlichen Fragen gespalten ist. Aber auch die günstigste Stimmung der öffentlichen Meinung wird die proletarische Erhebung zwar fördern und moralisch unterstützen, nie aber ihren Sieg entscheiden können. Das entscheidende Moment beim Siege kann sie schon deshalb nimmer sein, weil die Mittelklassen, die die öffentliche Meinung bilden, zum größten Teile dem Proletariat ebenso wenig aktive Hilfe bringen, wie der Staatsgewalt aktiven Widerstand leisten können. Das, was dem Proletariat seinen ungewaltsamen Widerstand ermöglicht, seine Organisation, fehlt ja diesen Klassen vollständig. Bei der Straßenschlacht hob die Barrikade in gewissem Masse diesen Mangel wieder auf, indem sie den unorganisierten Massen als Bindemittel diente. Bei der Volkserhebung in der Form des politischen Massenstreiks, wo es an jeglichem derartigen Bindemittel fehlt, können nur organisierte Klassen Truppen stellen, weil ja nur die Widerstandskraft, die auf einer zähen, starken, leistungsfähigen Organisation beruht, den Sieg herbeizuführen vermag. Der Beistand des Mittelstandes würde sich hauptsächlich darauf beschränken müssen, dem Streik nicht entgegenzuwirken, die unvermeidlichen Entbehrungen und Unbequemlichkeiten ruhig auf sich zu nehmen und gegen die Brutalitäten und Ungesetzlichkeiten der Regierung zu protestieren. Ferner könnte er die revolutionären Kämpfer finanziell unterstützen, sowie bei der Organisierung des Nachrichtendienstes, der Verproviantierung usw. hilfreiche Hand leisten. Wir resümieren: auf die unmittelbare Unterstützung des Mittelstandes ist wenig Wert zu legen; aber der moralische Halt, den er den Kämpfenden durch ehrende, begeisternde Anerkennung ihrer Anstrengungen und Opfer gewähren könnte, ist nicht gering zu achten. Am wichtigsten für das Proletariat könnte sich der Beistand der Schichten des Mittelstandes, die den freien Berufen, dem Beamtentum, der Lehrerschaft angehören, zeigen. Vor dem Ausbruch des Kampfes in der ihm vorangehenden Periode steigender Erregung, könnte die Intelligenz durch Wort und Schrift die Situation beleuchten und die revolutionäre Entwicklung der Geister fördern. Am Kampfe selbst könnte sie gewissermaßen teilnehmen, das Beispiel der Arbeiter befolgen und zum Streik im Unterrichtswesen, in der Verwaltung usw. übergehen. Das geschieht heutzutage, wenn auch nicht allgemein, in Russland. Es soll aber nicht vergessen werden, dass eine derartige Übertragung des Streiks auf das Unterrichtswesen usw. eine entschieden revolutionär gesinnte Intelligenz voraussetzt, vor allem eine studierende Jugend, die ganz einmütig mit dem Proletariat empfindet. Beide sind ja heutzutage in Russland vorhanden, wo die Intelligenz der älteste Feind des Absolutismus ist, von ihm im jahrzehntelangen Ringen furchtbar unterdrückt und misshandelt wurde, und die freie Entwicklung des Standes der Intellektuellen den Sturz des Absolutismus zur Vorbedingung hat.S Wir reden hier nicht vom friedlichen Manifestationsstreik. Gewiss kann in den Verhältnissen, aus denen er hervorgeht, die Bedeutung der öffentlichen Meinung eine verhältnismäßig wichtige sein. Sie kann eine Regierung bestimmen, den Forderungen der Arbeiter – es handelt sich ja nicht um Lebensinteressen der bürgerlichen Gesellschaft – zuzustimmen, Racheakten seitens der Unternehmer vorbeugen usw. Wo aber das Proletariat in den Entscheidungskampf tritt, soll es – werden auch viele Teile der Bevölkerung geneigt sein, ihm beim ersten Erfolge zuzufallen – am besten nur auf sich selbst, auf seine eigne Kraft vertrauen. V. Die angebliche Unnötigkeit des politischen Massenstreiks Die Überzeugung der Unmöglichkeit des politischen Massenstreiks beruht, außer der irrtümlichen Auffassung seines Zieles, auf einer pessimistischen Vorstellung der Machtverhältnisse zwischen Arbeiterklasse und kapitalistischem Staate. Die Überzeugung der Unnötigkeit des Streiks als politisches Kampfmittel dagegen hat ihren Grund in einer allzu optimistischen Auffassung vom Verlauf des proletarischen Emanzipationskampfes. Sie stützt sich auf die Gewissheit, dass es dem Proletariat möglich sein wird, sein Ziel, die Sozialisierung der Produktionsmittel und die Aufhebung des Klassenstaats, ohne Anwendung von Zwangsmitteln zu erreichen. Diese optimistische Auffassung wird von den Gegnern des politischen Massenstreiks mit Beweisen sowohl politischer wie wirtschaftlicher Art erhärtet. Ihre wirtschaftliche Argumentation stützt sich angeblich auf den Grundgedanken des historischen Materialismus, dass die Entwicklung der Produktivkräfte, wenn diese einen gewissen Reifegrad erreicht haben, das Weiterbestehen der alten Produktionsweise und Produktionsverhältnisse unmöglich macht. Sie werden zersprengt und neue treten an ihre Stelle. Alle politische Kraftentfaltung des Proletariats kann dem Sozialismus nicht zum Siege verhelfen, bevor nicht der Zeiger der ökonomischen Entwicklung seine Stunde angibt, hat er sie aber angegeben, dann können weder Staatsstreich und Verfassungsbruch noch die Gewalt reaktionärer Regierungen den Augenblick der Befreiung zurückhalten. „Das Los des Sozialismus“, schreibt W. H. Vliegen (Neue Zeit, Jahrgang 22, Bd. I, Nr. 7), „hängt glücklicherweise nicht ab von Umständen, welche durch eine plötzliche Tat des Proletariats oder der herrschenden Klassen begangen oder beseitigt werden können. Reaktionäre Regierungen haben Sozialreformen weichen müssen, antisozialistische Regierungen werden sozialistische Taten vollbringen müssen, wenn die ökonomischen Verhältnisse es fordern. Der Sieg des Sozialismus ist ein ökonomischer Entwicklungsprozess, auf den Regierungen in großen, entscheidenden Augenblicken einigen, aber nicht großen, fördernden oder hemmenden Einfluss ausüben können. Der Generalstreik kann nichts andres bewirken, als für einige Zeit das ökonomische Leben zerstören. Den Sozialismus kann eine Störung des ökonomischen Lebens nur schädigen.“ Der größte Zukunftsoptimismus kann sich aber den Tatsachen des heutigen wirtschaftlichen wie politischen Lebens nicht verschließen. Es ist möglich, zu glauben, die wirtschaftliche Entwicklung wird dazu führen, dass antisozialistische, das heißt bürgerliche Regierungen die sozialistische Gesellschaftsordnung einführen. Es ist aber unmöglich, nicht zu sehen, dass diese Entwicklung die bürgerlichen Regierungen bis jetzt nur dazu geführt hat, – außer dann und wann ein wenig notdürftiger Sozialreform – antiproletarische, antisozialistische Taten zu vollbringen: Militarismus, Kolonialpolitik, Brotwucher und dergleichen mehr. Aber dennoch entkeimt den Gegnern des politischen Massenstreiks auch aus den heutigen politischen Verhältnissen die Pflanze der Hoffnung. Sie sehen überall das große Anwachsen der sozialistischen Stimmen und die Zunahme der Vertreter des Proletariats in den Parlamenten. Wenn nicht die wirtschaftliche Entwicklung „von selbst“ den Sozialismus bringt, so wird der durch die „Methode der Legalität“ errungene, politisch-parlamentarische Sieg des Proletariats ihn doch gewiss bringen. Die Zahl der sozialistischen Stimmen wird wachsen, bis sie die Mehrheit der Nation, die Zahl der sozialistischen Abgeordneten, bis sie die Majorität im Parlament bilden: zu welchem Zweck noch die Diskussion über die unsichere, gefährliche Methode des politischen Streiks, wenn die „Methode der Legalität“ dem Proletariat ermöglicht, ohne Störung der Produktion, ohne gesellschaftliche Krise wie ohne persönliche Gefahr sein Ziel zu erreichen – durch die Eroberung der parlamentarischen Majorität? Für den Streik als proletarische Waffe im Entscheidungskampfe zwischen bürgerlicher und proletarischer Welt – ein Kampf, der nicht im Parlament, sondern nur in der Gesellschaft, von der großen Masse der Interessierten selbst ausgefochten werden kann – fällt jede Veranlassung fort. Die kapitalistische Gesellschaft, durch Reformen „ausgehöhlt“, gleitet, sobald die Verschiebung der Parteiverhältnisse im Parlament erreicht ist, wie ein Schiff von der Werft, sanft in das ruhige, klare Meer der sozialistischen Gesellschaft hinaus. Es ist vor allem Jaurès, der in seiner Abhandlung über den GeneralstreikT die Methode der gesetzlichen Eroberung der parlamentarischen Majorität der Methode des revolutionären Streiks entgegensetzt und die Ansicht vertritt, jene mache diese überflüssig. Zwar wendet sich Jaurès fast ausschließlich gegen die Idee des wirtschaftlichen Generalstreiks, er unterscheidet aber zwischen diesem und dem revolutionär-politischen Streik nicht genau. Seine Argumente über die Vorzüge der „legalen Methode“ gelten jedoch selbstverständlich ebenso gut diesem. „Außer den konvulsiven Erschütterungen“, schließt Jaurès seine Betrachtungen, „die man nicht vorhersehen kann, die außer jeder Regel stehen und manchmal die äußersten Hilfsmittel der Geschichte sind, gibt es heute für den Sozialismus nur eine souveräne Methode: die gesetzliche Eroberung der Majorität.“ Der parlamentarische Illusionismus von Jaurès, der die Eventualität einer proletarischen Revolution ganz auszuschließen scheint, rechnet also doch mit der Möglichkeit, dass der Generalstreik einmal als „konvulsive Erschütterung“, als „äußerstes Hilfsmittel der Geschichte“ ausbrechen könnte. Und zwar, wie die folgende Stelle beweist, als Verteidigungsmittel gegen einen Angriff auf die Rechte des Proletariats. „Wenn die Herrschenden so verrückt wären, die dürftigen bestehenden Freiheiten, die schwachen Mittel der Betätigung des Proletariats anzugreifen, wenn sie das allgemeine Wahlrecht bedrohten oder vergewaltigten, wenn sie durch von den Unternehmern und der Polizei ausgehende Verfolgungen das Koalitions- und Streikrecht zu einer Illusion machten,U so würde der Generalstreik gewiss die spontane Form der Arbeiterrevolte sein, ein letztes und verzweifeltes Mittel, weniger geeignet, sich selbst zu retten, wie den Feind zu benachteiligen. Aber die Arbeiterklasse würde das Opfer eines unheilvollen Wahns und einer krankhaften Zwangsvorstellung, wenn sie das, was nur eine Taktik der Verzweiflung sein kann, für eine Methode der Revolution ansähe.“ (S. 228-229.) Trotz seiner Überschätzung des Parlamentarismus rechnet Jaurès also doch nicht darauf, dass die herrschenden Klassen nie einen Ausfall auf die „dürftigen Freiheiten und schwachen Mittel der Betätigung“ des Proletariats versuchen werden. Gegen solche Möglichkeiten, die allerdings der „gesetzlichen Eroberung der Majorität“ sehr in die Quere kommen würden, sieht er in dem politischen Massenstreik aber weniger eine zweckmäßige Waffe wie eine Art psychologischer Notwendigkeit. Es gibt aber noch einen andern Optimismus, als den, dass das Proletariat mechanisch auf legal-parlamentarischem Wege sein Ziel erreichen werde. Das ist nämlich die Auffassung: dass wenn auch dem Proletariat seine „armseligen Rechte und schwachen Mittel der Betätigung“ genommen oder geschmälert werden, dies nur eine unwichtige Unterbrechung seines Siegeslaufs bedeute, dieses also gar keine Veranlassung habe, in solchem Falle das Äußerste zu wagen. Diese Auffassung wird unter anderem von Ed. David vertreten. In seinem Aufsatz über „Die Eroberung der politischen Macht“ äußert er sich folgendermaßen über den für ihn sehr unwahrscheinlichen Fall, dass es einer reaktionären Regierung einfallen könnte, die Sozialdemokratie mit Ausnahmegesetzen, Schmälerung der politischen Rechte usw. zu bekämpfen: „Aber wenn uns auf diesem Wege zur friedlichen Macht Männer der Tat entgegentreten, wenn man versucht, uns mit Repressivmaßregeln niederzudrücken, wenn uns ein Entscheidungskampf aufgedrängt wird: was sollen wir dann tun? Nun, dann werden wir der Ungesetzlichkeit die Gesetzlichkeit entgegenstellen, der Gewalt mit Friedsamkeit begegnen. Das ist der einzige Weg, die Gewalt schließlich zu brechen, das einzige Kampfmittel gegen Bajonette. Wir haben dafür zu sorgen, dass das ganze Gewicht der moralischen Verurteilung auf diejenigen fällt, die den Versuch machen, mit Gewaltanwendung den Fortgang der sozialdemokratischen Kulturbewegung zu hindern. Es heißt, den Scharfmachern willkommenes Wasser auf ihre Mühle liefern, erörtert man die Möglichkeit einer andern Haltung unsrerseits. Auch haben wir nicht nötig, zu andern Mitteln, die sich unfehlbar gegen uns kehren müssten, zu greifen, solange wir in der Gerechtigkeit, Sachlichkeit und Zweckmäßigkeit unsrer Forderungen die Garantie haben, dass sie nicht von der Tagesordnung der Menschheit verschwinden werden.“V Und in demselben Hefte der Monatshefte meint übereinstimmend W. Kolb in einem Aufsatz „Zur Frage des Generalstreiks“, der sich vorzüglich gegen die Idee der Zuspitzung des Klassenkampfes wendet: „Wir verlassen uns auf die organische Entwicklung der Dinge. Diese organische Entwicklung suchen wir mit allen Kräften zu beeinflussen und zu beschleunigen. Unsre bewährte Taktik ist die in die Theorie (?) übersetzte Evolution. Aus dieser Tatsache gilt es ohne Furcht die Konsequenzen zu ziehen, damit der Widerspruch beseitigt wird, der heute zwischen unsrer Taktik und der Katastrophentheorie besteht. Hic Rhodus, hic salta. Das ist es, worum sich der ganze Streit dreht. Mit der Lösung dieser Frage ist auch die des Generalstreiks entschieden.“ (S. 209.) Das Proletariat, meint also David in seinen tolstoianisch angehauchten Ausführungen, brauche sich um die Repressivmaßregeln der „Männer der Tat“ nicht viel zu kümmern. Aus welchem Grunde zu „andern Mitteln“ greifen, sich auf gefährliche Experimente einlassen? Das Proletariat ist ja sicher, dass seine Forderungen, solange sie nicht erfüllt sind, nicht von der „Tagesordnung der Menschheit“ verschwinden werden. Diese Gewissheit, ebenso der Gedanke, dass die moralische Verurteilung ganz auf diejenigen zurückfällt, die mit Gewalt die Entwicklung der Sozialdemokratie verhindern, mag bürgerlichen Ideologen und tolstoianisch empfindenden Schwärmern Trost gewähren. Aber das kämpfende Proletariat ist zum Glück für die Sache der Menschheit solchem Trost nicht zugänglich. Es brennt vor Begierde, so schnell als möglich ans Ziel zu kommen. Es will handeln und findet für den Raub seiner Rechte keinen Ersatz in ethischen Betrachtungen über die „ewige Gerechtigkeit“ seiner Sache. Mit welchen Mitteln also wird das Proletariat, wenn ihm der heutige Rechtsboden des Klassenkampfes eingeengt oder zertrümmert wird, das herrschende Regime stürzen und ein neues an seine Stelle setzen, sofern von einer revolutionären Erhebung in der Gestalt des Massenstreiks abgesehen werden soll? Das ist die Frage, die sich aufdrängt, sobald man den Repressionsversuch der „Männer der Tat“ zur Rettung der bürgerlichen Gesellschaft für möglich hält, und das Proletariat weder mit billigen Redensarten vertrösten, noch seinen Sieg auf den St. Nimmerleinstag hinausschieben will. Das Proletariat besitzt dafür, antworten einige von den Gegnern des politischen Streiks, ein unfehlbares Mittel in seiner Organisation. Wenn diese erst einmal den weitaus größten Teil des Proletariats umfassen wird, ist die Machtprobe des Generalstreiks, zu welchem nur ein hoher Reifegrad der Organisation befähigen kann, überflüssig geworden: der Gegner wird ihren geschlossenen Reihen ohne Kampf weichen und ihnen wird die Macht im Staate zufallen, mühelos und ganz von selbst. Die Einwendung, „ohne überlegene Organisation des Proletariats ist der Generalstreik unmöglich, ist diese aber erreicht, brauchen wir ihn nicht mehr“, ist das am häufigsten angeführte Moment für die Unnötigkeit des Streiks als politisch-revolutionärem Kampfmittel. Die Aufzählung der Argumente, die für diese angebliche Unnötigkeit ins Feld geführt werden, zeigt, dass sie in keinem einzigen Falle ihren Grund in dem Hinweis auf andre, zweckmäßigere oder weniger gefährliche Kampfmittel haben, die dem Proletariat für den Fall seiner Vergewaltigung oder Entrechtung bessere Aussichten des Widerstands und des Gegenangriffs bieten. Es wird nur immer das Bedürfnis einer solchen Waffe, eines Zwangs- oder Gewaltmittels geleugnet und der Beweis beizubringen versucht, dass auch ohne eine solche Waffe der Sieg des Proletariats nicht aufzuhalten sei. Dies gilt auch in Bezug auf die Gründe der überlegenen Organisation. Denn die Organisation an sich kann unmöglich als eine äußerste Waffe im Klassenkampf angesehen werden, sondern sie macht es nur dem Proletariat möglich, eine solche Waffe anzuwenden, um den Klassenkampf mit größerem Nachdruck zu führen. Die Prüfung, inwieweit die Gründe für die angebliche Unnötigkeit des politischen Massenstreiks stichhaltig sind, wird am besten als eine Untersuchung der Aussichten des proletarischen Klassenkampfes und der Wahrscheinlichkeit für das Proletariat, das Ziel auf legalem Wege ohne Anwendung von Zwangsmaßregeln zu erreichen, vorgenommen. Ergibt die Untersuchung diese Wahrscheinlichkeit nicht, so wäre in eine Prüfung der dem Proletariat zu Gebote stehenden Entscheidungswaffen einzutreten. VI. Politischer Massenstreik und proletarischer Klassenkampf Die geschichtliche Erfahrung lehrt, dass eine neu aufsteigende Klasse die Macht im Staate und in der Gesellschaft nur erobern kann, wenn das Fortbestehen der Herrschaft überlebter Klassen zu einer die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktionskräfte beeinträchtigenden Fessel geworden ist. Sobald aber dieser Fall eintritt, und der Übergang von der alten zur neuen, höheren Produktionsweise im Interesse der Gesellschaft liegt, wird der politische Sieg der neuen Klasse, dessen Wirtschaftsprinzip diese Produktionsweise ist, historische Bedingung für die normale Weiterentwicklung des gesellschaftlichen Organismus. Sie allein ist fähig, alle Möglichkeiten der neuen Produktionsweise auszunutzen: gelingt es ihr nicht, ihre Gegner zu besiegen und die Staatsgewalt zu erobern, um sich dieser als Hebel zur Durchführung wichtiger politischer und wirtschaftlicher Änderungen zu bedienen, so kann sich die gesellschaftliche Entwicklung nicht weiter vollziehen; die Gesellschaft stagniert und verkümmert. Es findet sich kein Beispiel in der Geschichte dafür, dass eine ausgelebte, dem Untergange geweihte Klasse ihre politische Macht benützt hätte, eine wirtschaftliche Revolution zu ermöglichen; sie würde ja dadurch den eigenen Untergang beschlossen und beschleunigt haben. Wohl haben verfallende, vor dem Untergang stehende Klassen oft Reformen gemacht, das heißt versucht, sich den neuen Verhältnissen anzupassen, dem Drange nach Umbildung alter Lebensformen halbwegs Rechnung zu tragen. Diese Reformen hatten immer einen konservativen Zweck, ihre Wirkung war aber durchwegs eine jenem entgegengesetzte. Sie führten dazu, die überlebten Klassen noch mehr zu schwächen und die neu aufkommenden zu stärken, sie zu weiterem Kampfe anzufeuern und mit Siegeszuversicht zu erfüllen. Der Behauptung, dass der politische Sieg des Proletariats, die politische Revolution zur Einführung der sozialistischen Produktionsweise unnötig sei, weil die ökonomische Entwicklung antisozialistische Regierungen zu sozialistischen Taten zwingen werde, fehlt jede historische Unterlage. Sozialreformen freilich (wenn auch recht dürftige und oft nur Scheinreformen ohne Wert für das Proletariat) machen die antisozialistischen Regierungen der Gegenwart und werden sie auch künftig machen, um durch Konzessionen den Siegeslauf der Sozialdemokratie aufzuhalten. Aber zu glauben, dass eine bürgerliche Klassenregierung den Sozialismus bringen wird, weil die ökonomischen Verhältnisse ihn fördern, ist eine Naivität ohnegleichen. Die kapitalistische Klasse in ihrer höchsten ökonomischen Entwicklung, das heißt in ihrer Organisation als Trust, wird sich schwerlich dazu hergeben, durch Vergesellschaftung der Produktionsmittel ihrer gesellschaftlichen Macht, ihrem Fortbestehen als Klasse ein Ende zu machen.. Die in ihr mehr und mehr ausschlaggebenden Gruppen: die haute finance, die Grubenbesitzer, die Industriellen der Stahl- und Eisenfabrikation, die Kolonialkapitalisten, werden nicht die geringste Neigung haben, sich selbst den Todesstoß zu versetzen. Wohl wäre in diesem Falle der Sozialismus eine Notwendigkeit für die gesellschaftliche Weiterentwicklung, aber was geht das die Monopolisten an? Ein Gesellschaftszustand ist sehr gut möglich, in der die Konzentration der wichtigsten Produktionsmittel ihren Höhepunkt erreicht hätte, die Monopolisten Staat und Gesellschaft vollständig beherrschten und die Masse der Bevölkerung als Produzenten und Konsumenten vollkommen von ihnen abhängig wäre. Es gibt sogar ein Land, Nordamerika, wo sich die gesellschaftlichen Zustände solchen Verhältnissen rasch nähern. Und auch hier wird der Trust nicht „von selbst“ in den Sozialismus umschlagen, sondern die neue Gesellschaftsordnung wird von den arbeitenden Klassen im langen, schweren Ringen erkämpft werden müssen. Wohl arbeitet die ökonomische Entwicklung der Gesellschaft in der Richtung des Sozialismus; der Stand der Produktionskräfte macht zum ersten Mal in der Geschichte eine Gesellschaftseinrichtung auf sozialistischer Basis mit Teilnahme jedes menschlichen Wesens an den Errungenschaften der Kultur möglich. Aber nur die am Sozialismus interessierten Klassen, an erster Stelle die zahlreichste, kühnste und kampffähigste, das Proletariat, können die politischen, juridischen und wirtschaftlichen Schranken und Hindernisse beseitigen, die der Entfaltung der sozialistischen Produktionsweise im Wege stehen. Der Sieg des Proletariats ist die unentbehrliche Vorbedingung für die Verwirklichung des Sozialismus. Die kapitalistische Entwicklung aber hat die Wirkung, das Proletariat zu einem immer größeren Bruchteil der Bevölkerung zu machen, es zu konzentrieren und zu organisieren, es mit Hass gegen den Kapitalismus zu erfüllen und der sozialistischen Agitation zugänglich zu machen. Die kapitalistische Entwicklung macht also deswegen den Sozialismus unvermeidlich, weil sie die Klasse immer mehr anschwellen und erstarken lässt, deren ganze öffentliche und politische Tätigkeit in immer steigendem Masse darauf gerichtet sein muss, den Kapitalismus zu überwinden und den Sozialismus an seine Stelle zu setzen. Wird aber das Proletariat diesen Sieg mit legalen Mitteln, durch allmähliche Eroberung der Majorität in den gesetzgebenden Körperschaften, erringen können? Dies annehmen, bedingt, dass die bürgerlichen Klassen – ist es auch heller Wahnsinn, zu denken, dass sie den Sozialismus durchführen werden – nach und nach ihren Widerstand gegen ihn aufgeben und der Stunde ihrer parlamentarischen Überflügelung resigniert entgegensehen werden. Es bedingt weiter, dass sie die von ihnen zu ihren Herrschaftszwecken geschaffenen Formen der Gesetzlichkeit beachten werden, auch wenn diese aus Dienern und Helfern des bürgerlichen Staates sich in Diener und Helfer der Revolution verwandeln. Träfe dies ein, so wäre der politisch-revolutionäre Massenstreik, wie jedes andre Zwangsmittel, tatsächlich überflüssig. Die Sozialdemokratie könnte ihr Ziel durch die politische Demokratie erreichen, die einzige unter diesen Umständen angebrachte Kampfesweise wäre die unaufhörliche Aufklärung und Organisation des Proletariats, um seine politischen Rechte richtig, das heißt: zur Befreiung seiner Klasse gebrauchen zu lernen. Hier wäre eine Untersuchung der Aussichten des Proletariats, sein Ziel auf dem friedlichen Wege der Demokratie und des Parlamentarismus zu erreichen, am Platze. Nur durch eine Prüfung der Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung lässt sich die Frage beantworten, ob diese Evolution die Arbeiterklasse mit Wahrscheinlichkeit allmählich zur politischen Herrschaft führen wird. Eine solche Untersuchung ist aber aus dem Grunde hier überflüssig, weil man nur bereits oft angeführtes wiederholen könnte. Die nämliche Frage bildete ja in den letzten Jahren das eigentliche Thema der großen Parteidiskussion zwischen revolutionärem Marxismus einerseits, theoretischem Revisionismus und praktischem Reformismus andrerseits, eine Diskussion, die nach unsrer Ansicht die Zunahme der reaktionären Gruppen, Neigungen und Tendenzen in den herrschenden Klassen, sowie den Niedergang des bürgerlichen Parlamentarismus unzweifelhaft erwiesen hat. Wer über diese Frage Aufklärung und Belehrung wünscht, findet in der internationalen Parteiliteratur, besonders in der deutschen, dazu reichlich Gelegenheit. In diesem Buche soll nicht versucht werden, den Beweis zu liefern, dass die Zuspitzung der Gegensätze bis zur Katastrophe der Weg der Geschichte sein muss. Nur aus einem solchen Beweis würde vorausgesetzt, dass andre Zwangsmittel dem Proletariat fehlen die Notwendigkeit des politischen Massenstreiks hervorgehen. Ein solcher mathematischer Beweis ist aber nicht zu liefern. Er kann deswegen nicht geführt werden, weil es nicht auf die Tatsachen, sondern auf ihre Interpretierung ankommt. Das Buch will hier also nicht die Notwendigkeit des politischen Massenstreiks beweisen, sondern bloß die Ansicht seiner angeblichen Unnötigkeit bekämpfen und zurückweisen. Aber noch aus einem andern Grunde ist hier das tiefere Eingehen auf die Frage der Aussichten des Proletariats, auf friedlichem Wege allmählich den Kapitalismus zu überwinden, nicht notwendig. Bei der Darstellung der Tatsachen des politischen Massenstreiks haben wir die Schlüsse schon einmal gezogen, wohin eine solche Untersuchung unbedingt führen müsste. Als eine der Hauptursachen der zunehmenden Häufigkeit politischer Streikversuche, sei es als einfache Manifestation oder als Pressionsmittel, erwies sich die wachsende Abneigung der herrschenden Klassen, die Demokratie weiter zu entwickeln, die daraus folgende Notwendigkeit für das Proletariat, die äußersten Anstrengungen zu machen, um auch nur ein verstümmeltes Wahlrecht zu erobern. Es erwies sich weiter, wie wenig die „armseligen Rechte und Freiheiten“ des Proletariats, vor allem das Koalitions- und Streikrecht, gesichert sind, sobald ihre Anwendung den herrschenden Klassen ernste Verlegenheiten bereitet und ihre politisch-soziale Macht gefährdet. Die Unzulänglichkeit der politisch parlamentarischen Waffen hat die Arbeiter schon wiederholt veranlasst, den politischen Streik zu versuchen, nicht weil sie glaubten, Parlamentarismus und Wahlkampf durch seine Anwendung überflüssig zu machen, sondern im Gegenteil, um das Parlament aus einem Tummelplatz herrschender Cliquen, gesellschaftlicher Minoritäten, zum Kampfplatz der bürgerlichen und proletarischen Klasse zu erweitern. Es ist nicht wahrscheinlich, dass in Zukunft die herrschenden Klassen und die von ihnen beeinflussten Regierungen die Schranken der Demokratie weiter niederreißen würden, wenn sie fürchten müssten, dass die erste Tat des hineinziehenden Proletariats darin bestünde, dem bürgerlichen Staat selbst mit Hilfe der Gesetzgebung ein Ende zu bereiten. Im Gegenteil: wahrscheinlich wird die herrschende Klasse nicht zaudern, die Formen der Gesetzlichkeit zu durchbrechen, sobald ihr diese gefährlich werden, Die Bourgeoisie schwört auf die Gesetzlichkeit, das heißt auf die in bindende Formen gebrachte Gewalt, solange sie ihr Herrschaftsmittel ist und bleibt. Dass sie sie aber keineswegs als einen Talisman betrachtet, der in allen Fährlichkeiten rein erhalten bleiben muss, erhellt aus zahlreichen Begebenheiten der letzten Jahre. Und sobald es triftigen Grund zu der Befürchtung gäbe, dass die Revolution von unten den Parlamentarismus aus einem Werkzeuge der Prellerei in eine Waffe der Befreiung verwandeln könnte, würde die Revolution von oben wohl nicht zögern, so viel Parlamentarismus über den Haufen zu werfen, als im Interesse des Fortbestandes des bürgerlichen Staates geboten erscheinen würde. Die „Männer der Tat“ würden ohne Bedenken die Gesetzlichkeit beseitigen, die den Kapitalismus zu töten drohte, und eine neue schaffen, die ihn kräftigte. Wer anders denkt, dem muss der Gang der heutigen Entwicklung unerklärlich vorkommen. Denn es ist ja kein Zweifel, dass die Zunahme der gesellschaftlichen Macht der proletarischen Organisation und der Anhängerzahl der Sozialdemokratie dem steigenden Unwillen der herrschenden Klassen begegnet und zur Folge hat, der Arbeiterklasse keine weiteren Rechte und Freiheiten zu gewähren. Wo die Arbeiterklasse das allgemeine und gleiche Wahlrecht nicht besitzt, wie in Belgien, Schweden, Holland, Österreich-Ungarn, bedarf es jetzt zu seiner allmählichen Eroberung Jahrzehnte heftigsten Klassenkampfes! Nur Stück vor Stück, mit äußerstem Widerwillen, lassen die Herrschenden von ihren politischen Vorrechten ab, sie müssen ihnen entrissen werden, wie eine Armee dem entschlossen Kämpfenden ein jedes fußbreite Stück Bodens entreißt. Wo aber diese Rechte dem Proletariat vor der Zeit des fast ausschließlichen Klassenkampfes zufielen, als Frucht der vorhandenen Klassengegensätze und in Folge der Hoffnung einer Regierung, das Proletariat gegen alle politischen Parteien abwechselnd ausspielen und sie in Schach halten zu können – da geht die Entwicklung einen andern Weg. Das allgemeine Wahlrecht ist keineswegs leicht abzuschaffen; wo es seit geraumer Zeit besteht, bildet es die politische Grundlage des Staates. Es sichert seine Einheit, hält partikularistische Strömungen und Tendenzen in Schranken, leitet den Klassenkampf in ruhige, geordnete Bahnen. Seine Abschaffung würde die denkbar größte innerliche Erschütterung des Staates bedeuten. Deshalb versuchen die herrschenden Klassen, auf Schleichwegen das Ziel zu erreichen. Sie haben nicht gleich nötig, das allgemeine Wahlrecht zu zerstören, es genügt ihnen vorderhand, seine Wirkungen zu neutralisieren. Diese Tendenz zeigt sich äußerlich als Niedergang des bürgerlichen Parlamentarismus; Niedergang seines Glanzes, seiner Befugnisse und seiner Macht, Zusammen hiermit geht ein unaufhörliches Nagen am Wahlrecht in seinen wenig-wichtigeren, lokalen oder lokal-nationalen Formen, gewissermaßen zur Probe, wie viel sich die Volksmassen gefallen lassen werden. Jede Verbesserung des Wahlrechts, jede demokratische Reform überhaupt, ist in diesem Stadium selbstverständlich ausgeschlossen. Diese scheinbar rückläufige Entwicklung kann natürlich nicht in alle Ewigkeit vor sich gehen. Die Stunde muss schlagen, in der entweder auch der Rest der politisch-parlamentarischen Rechte des Proletariats den Herrschenden gefährlich wird und sie die Hand daran legen, oder den arbeitenden Klassen selbst die Schmälerung des Rechts und des Kampfbodens unerträglich erscheint und sie selber vielleicht durch ein großes Ereignis, durch einen Krieg oder durch eine heftige Krise aufgepeitscht zum Angriff übergehen. Mit diesen Ausführungen soll keineswegs der Gang der Ereignisse schablonenmäßig angegeben und am wenigsten behauptet werden, dass eine derartige Entwicklung in allen Fällen eintreten muss, auch dort, wo der verhältnismäßigen Macht und Reife des Proletariats das Entstehen demokratischer Lebensformen und Einrichtungen vorausging. Es gibt aber bis jetzt kein Beispiel eines derartigen Anwachsens der modernen Arbeiterbewegung bis zu dem Grade, wo sie die Klassenherrschaft selbst ernstlich bedroht. Dies ist auch sehr erklärlich, da demokratische Formen ja selber einen Faktor bilden, welcher die Selbständigkeit des Proletariats aufhalten und ihr entgegenwirken kann. Es gibt aber ein Land, in welchem die Entwicklung ganz den hier beschriebenen Weg nahm. Das ist Deutschland, einer der ökonomisch am meisten entwickelten, politisch führenden Staaten der Welt, dessen Arbeiterbewegung für das internationale Proletariat die gleiche Bedeutung hat, – wie dies die Kämpfe und Siege des französischen Bürgertums für die internationale Bourgeoisie hatten. In Deutschland scheint die Zuspitzung der Verhältnisse einem Punkt entgegenzueilen, wo es zur scharfen, sozialpolitischen Krise kommen muss. Gewiss können auch hier äußere Umstände: die Ergebnisse einer Revolution in den Nachbarstaaten, das Ausbrechen eines Krieges mit seinen ökonomischen und politischen Folgen den Gang der Ereignisse beeinflussen und verwickeln. Die Lage aber, die der Arbeiterklasse aus ihrer eigenen Machtstellung und der mit ihrem Schrecken zunehmenden Entschlossenheit ihrer Feinde erwächst, ist eine derartige, dass sie verpflichtet ist, die Möglichkeit eines Staatsstreiches, einer Revolution von oben, zum Zwecke, der Evolution von unten eine Schranke zu setzen, ins Auge zu fassen. Könnte die Arbeiterklasse in einem solchen Falle den Staatsstreich so ruhig hinnehmen, wie die Gegner des politischen Streiks das in der Überzeugung empfehlen, dass die Forderungen des Proletariats „nicht von der Tagesordnung der Menschheit verschwinden können, bevor sie erfüllt sind“, und sich, ungeachtet der politischen Entrechtung, auf die organische Entwicklung der Dinge verlassen?W Eine solche Auffassung verkennt sowohl den Charakter des proletarischen Emanzipationskampfes als auch das Wesen des Proletariats vollständig. Sie befindet sich in einem gefährlichen Irrtum über die Bedeutung, die dem Staatsstreich und dem Raub des wichtigsten politischen Rechtes des Wahlrechts beim jetzigen Stand der proletarischen Bewegung in den am meisten entwickelten Ländern zukäme. Das Gelingen eines Staatsstreichs, der entweder dem allgemeinen Wahlrecht ein Ende oder die Regierung vom Parlament unabhängig machte, würde nichts andres bedeuten als einen gelungenen Vorstoß der Reaktion einerseits und anderseits ein Aufgeben von Positionen, die das Proletariat seit langem behauptet. Auch ohne allgemeines wie ohne jegliches Wahlrecht kann das Proletariat den politischen Kampf führen und in ihm seine Kräfte anwenden und seine Klassenorganisation ausbilden lernen. An Stelle des Kampfes mit dem Wahlrecht, des politisch-parlamentarischen Kampfes also, tritt dann der Kampf zur Eroberung des Wahlrechts in den Mittelpunkt des proletarischen Bewusstseins und bildet die Schule der proletarischen Organisation. Das allgemeine Wahlrecht ist aber das vortrefflichste Mittel, die gesamte Arbeiterklasse politisch zu schulen und zum gemeinsamen Kampf gegen die herrschenden Klassen zusammenzuschweißen. Wo das Proletariat dieses Kampfmittel besitzt, bildet seine Aufhebung entweder die Einschränkung seiner Klassenaktion, die Hemmung seiner politischen Tätigkeit oder aber die Notwendigkeit, zu neuen Kampfmethoden überzugehen oder doch weit größeren Nachdruck auf sie zu legen wie bisher. Das Wahlrecht hat andre Aufgaben je nach dem Stadium der Entwicklung, in der sich die Gesellschaft befindet. Kommt ihm beim Anfang des proletarischen Klassenkampfes vorzugsweise die Bedeutung zu, ein Mittel der Eroberung andrer Rechte und sozialer Reformen zu sein, so tritt es in dessen letzten Stadien vor allem auf als Schutzwehr, als Mittel des Proletariats, sich vorhandene Rechte und Freiheiten zu erhalten. Mit seiner Aufhebung werden Rede- und Pressefreiheit, Koalitions- und Streikrecht gefährdet und auf schwankende Grundlagen gestellt. Seine Beseitigung kann nur das erste Glied in einer Kette von Maßnahmen sein, deren jede neue eine weitere Stärkung der Reaktion bedeutet. Sie wäre der Ausgangspunkt einer rückläufigen Bewegung, deren weitere Merkmale die Beschränkung der Presse, der Versammlungsfreiheit, kurz der politischen Tätigkeit überhaupt würden.X Es ist verschiedentlich ein Vergleich zwischen der Beseitigung des Wahlrechts und dem Sozialistengesetz gezogen worden. Diesem Vergleich fehlt aber jeder Grund. Das Sozialistengesetz war ein scharfes Schwert gegen das deutsche Proletariat; es ließ aber das allgemeine Wahlrecht bestehen und damit das legale Mittel zu seiner Beseitigung. Wenn aber das Wahlrecht selbst beseitigt ist, welche legalen Mittel bleiben dem Proletariat? Nun, es ist damit politisch noch lange nicht wehrlos: vor allem bleibt ihm die Agitation in der Presse und in Versammlungen. Die Einschränkung oder gar Aufhebung des Wahlrechts vergrößert natürlich die Bedeutung dieser außerparlamentarischen Kampfmittel beträchtlich; je mehr ihm der parlamentarische Weg versperrt wird, mit desto größerer Wucht wird sich das Proletariat auf die Presse und die Versammlungen werfen. Vor allem kommen, wo der Stimmzettel fehlt, als die am besten geeigneten Mittel, seine Macht und seinen Zusammenhalt zu erweisen, Protestversammlungen und Straßendemonstrationen in Betracht. Diese Mittel haben aber sowieso einen in den Augen der Hüter der bürgerlichen Ordnung gefährlicheren, mehr revolutionären Charakter, als die Methoden des parlamentarischen Kampfes. Beim Wahlgang erscheint die Kraft des Proletariats in zahllose Einzelaktionen zersplittert, nur im Endergebnis der Wahl tritt der Gesellschaft die proletarische Massenkraft mächtig entgegen. Bei der Protestversammlung dagegen, vor allem aber bei der Straßendemonstration tritt diese Massenkraft selbst aktiv auf, dies Auftreten bildet ja gerade den politischen Akt, die politische Betätigung, und das Vorhandensein dieser Kraft, als eine fortwährende Bedrohung, kommt der bürgerlichen Gesellschaft eindringlich zum Bewusstsein. Schon diese Tatsache legt die Erwägung nahe, dass eine Regierung, die dem Proletariat die Wahlarbeit unmöglich machen, ihm auch die Wühlarbeit sehr erschweren würde, diese also gewissermaßen nur als ungesetzliche, unterirdische Tätigkeit fortbestehen könnte. Die erste Einschränkung der politischen Rechte des Proletariats bedeutet den ersten Schritt zurück auf dem zurückgelegten Weg, der vom Konstitutionalismus zum Absolutismus herunter führt. Selbstverständlich ist der ungestörte Fortgang dieser rückläufigen Bewegung undenkbar. In den ökonomisch am meisten vorgeschrittenen, mehr oder weniger konstitutionell regierten Ländern Europas würde sie die politischen Bedingungen zur Weiterentwicklung oder auch nur zur Aufrechterhaltung der Produktion auf der jetzigen Höhe zerstören. Ihre Wirkung wäre die gesellschaftliche Desorganisation, der Niedergang des Kapitalismus. Schon beim jetzigen Stand der proletarischen Organisation würde die Beseitigung der Rechte und Freiheiten der Arbeiterklasse allem Predigen des ökonomischen Fatalismus und politischen Quietismus zum Trotz einen so hartnäckigen und zähen Widerstand der Massen hervorrufen, dass der reaktionäre Vorstoß zum Scheitern käme. An welchem Punkt dieser Widerstand einsetzen würde, ist natürlich nicht vorauszusagen. Der Ausbruch revolutionärer Massenbewegungen lässt sich ebenso wenig wie ihr Verlauf, wie das bereits eingehend ausgeführt wurde, vorausbestimmen. Möglich, dass der erste Akt der Revolution von oben – sei er die Einschränkung der parlamentarischen Macht, die Einführung der Zensuswahl oder dergleichen – nicht gleich von den Massen mit einer Kriegserklärung beantwortet werden würde, möglich, dass ihnen erst die Wirkung ihrer Entrechtung, gepaart mit neuen, drohenden Angriffen, ein Weiterleben in der Knechtschaft als unerträgliche Schmach erscheinen ließe und die Revolution von unten als unerlässliche Tat aufdrängen würde. Aber mag diese Stunde früher oder später kommen, schlagen wird sie wohl, und diese Voraussicht macht es der Sozialdemokratie zur Pflicht, die Wege zu prüfen, die ihr zu Gebote stehen, wenn die Türen der Gesetzlichkeit dem Proletariat verschlossen werden. ★ ★ ★ Um Eingriffe in ihre Rechte abzuwehren, sowie den ihr durch gesetzliche Schranken verschlossenen Zutritt zur politischen Herrschaft zu erobern, muss eine Klasse über reale Machtmittel verfügen, unveräußerliche Mittel, mit denen sie ihren Willen nötigenfalls gewaltsam durchsetzen kann. Diese Mittel werden verschieden sein, sie richten sich ganz nach dem Grade der wirtschaftlichen Entwicklung und der Stellung der betreffenden Klasse im Wirtschaftsgetriebe der Zeit. Im letzten Grunde beruhen sie immer auf der Wurzel aller politischen Rechte, der Gewalt, das Wort jedoch nicht in seinem engeren Sinn, nur physischer Übermacht, sondern in seiner erweiterten Bedeutung, als Fähigkeit zu zwingen, genommen. Die Gewalt in diesem Sinne resultiert keineswegs ohne weiteres aus der Unentbehrlichkeit einer Klasse im Produktionsprozess. Schon das Beispiel des antiken Sklaven und des mittelalterlichen Fronbauern beweist dies.Y Auch ist dazu nicht unbedingt die physisch-technische Überlegenheit der Waffen erforderlich, andernfalls wäre der Sieg des städtischen Bürgertums gegen den Absolutismus, wie ihn zum Beispiel der niederländische Befreiungskampf gegen Spanien brachte, nicht möglich gewesen. Es genügt die Fähigkeit der selbständigen, der dem Gegner überlegenen Organisation und die Fähigkeit ihrer Anwendung zu seinem Schaden und Verderben. Durch die Organisation an sich, ohne ihre Anwendung, das heißt ohne Kampf, ist noch keine Klasse zur Herrschaft gelangt, und die Annahme, die Bourgeoisie werde der proletarischen Organisation weichen, sobald diese einen gewissen Umfang erreicht habe, widerspricht jeder historischen Lehre. Die Übermacht der Organisation einer aufsteigenden Klasse wie der organisatorische Zerfall untergehender Klassen erweist sich nur durch die Praxis, das heißt durch den Kampf. Welche Praxis die Organisation befolgen, welcher Kampfmittel sich die organisierte Klasse bedienen wird, das hängt mit der gesellschaftlichen Entwicklung zusammen. Neue Klassen, aus neuen Produktionsverhältnissen geboren, können neue Kampfmethoden finden und zur Anwendung bringen. Die von Eckstein hervorgehobene Tatsache, dass die Einstellung der wirtschaftlichen Tätigkeit bis jetzt noch nie politische Kampfmethode einer Klasse gewesen ist, braucht also für Gegenwart und nächste Zukunft nicht im Mindesten maßgebend zu sein. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind heute ganz andre wie zur Zeit aller früheren Klassenkämpfe, und Mittel, die für die Vergangenheit nicht in Frage kommen konnten, können sich dessen ungeachtet für den proletarischen Kampf der Zukunft sehr wohl als durchführbar und nützlich erweisen. Eine kurze Übersicht der Gewaltmittel, die von den verschiedenen Klassen im Laufe ihrer geschichtlichen Klassenkämpfe angewendet wurden, wird dies bestätigen. Dem antiken Sklaven fehlte mit der Möglichkeit der Organisation die der verabredeten, gleichzeitigen Arbeitseinstellung. Während des Mittelalters herrschte die Naturalwirtschaft vor, die Produzenten waren von einander unabhängige wirtschaftliche Einheiten; die sozialen Verhältnisse beruhten nicht auf ökonomischer, sondern auf persönlicher Abhängigkeit, auf dem Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis, dem Schutz und Schutzbedürfnis. Aber auch die persönlich Abhängigen und Schutzbedürftigen des Mittelalters waren nicht besitzlos: der unfreie Bauer besaß Vieh, Arbeitsgeräte, kurz Produktionsmittel. Sobald eine Klasse diese besitzt, ist sie einerseits am ungestörten Fortgange der Produktion interessiert, anderseits aber können die Herrschenden sich bei Arbeitsverweigerung durch Konfiskation schadlos halten. Nur der Lohnarbeiter, der Proletarier, der aller Produktionsmittel los und ledig ist, kann die Arbeitsniederlegung wagen: das Stilllegen der Produktion bildet seine besondere Methode des Widerstandes, die der besonderen Art seines Abhängigkeitsverhältnisses entspricht. Während des Mittelalters bestand dagegen infolge der sozialen Struktur für alle kämpfenden Klassen in geringerem oder größerem Masse die Möglichkeit, dem Gegner durch Verweigerung der persönlichen Verpflichtungen zu schaden; folglich wurde diese Verweigerung eine Waffe im Klassenkampf. Die Heeresfolge war eine der wichtigsten Verpflichtungen des Adels gegen die Fürsten, ihre Verweigerung ein gewöhnlicher Akt der Notwehr, wenn der Adel sich in seinen Rechten gekürzt oder bedroht fühlte. Wohl bildete diese Verweigerung der Heeresfolge oft nur die Einleitung zum bewaffneten Widerstand. Der Adel hatte aber keinen Grund, der Entscheidung der Waffen aus dem Wege zu gehen. Der moderne Staat als Zentralisation mächtiger Herrschaftsmittel war noch nicht aufgekommen; die Ungleichheit der Waffen, die den verschiedenen Klassen zu Gebote standen, war unendlich geringer als in späteren Zeiten: die physische Gewalt, der bewaffnete Widerstand war für jede Klasse eine Möglichkeit, sogar für die unterste Klasse, die der hörigen Bauern. Die Verweigerung der wirtschaftlichen Funktion aber hatte in den Zeiten der vorherrschenden Naturalwirtschaft für diese Bauern, die Masse der Bevölkerung, keinen Sinn. Sie war nur möglich für die wenig zahlreiche Klasse der städtischen Lohnarbeiter, der Gesellen. Im ökonomischen Kampfe gegen die Meister wendeten die Gesellen oft mit gutem Erfolge sowohl Streik wie Boykott an, als politische Kampfmittel aber wären diese Methoden ganz ungenügend gewesen, Bessere Aussichten im politischen Kampf bot auch ihnen, wie den andern Teilen des Bürgertums, die physische Gewalt, da es ihnen weder an körperlicher Energie, noch an Organisation und Bewaffnung mangelte. Die Kämpfe des aufkommenden Bürgertums gegen Absolutismus und feudale Klassen spielten sich unter andern, neuen ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen ab. Die Naturalwirtschaft war von der einfachen Warenproduktion zurückgedrängt, diese wiederum fing an, der kapitalistischen Produktionsweise Platz zu machen. Die ökonomische Abhängigkeit der Produzenten von einander hatte große Fortschritte gemacht, die Mehrzahl von ihnen verfügte jedoch noch über ihre eigenen Produktionsmittel und folglich über das Produkt ihrer Arbeit. Solange diese Verhältnisse währten, das heißt, solange die Produktion die Mehrzahl der Produzenten selbst bereicherte, konnte die Arbeitsverweigerung im Arsenal politischer Waffen keine Verwendung finden. Es musste da nahe liegen, nicht die wirtschaftliche Tätigkeit selbst, sondern ihre Früchte dem Gegner zu verweigern, das heißt, dem absolutistischen Staate die Geldabgaben vorzuenthalten, die er zu seinem Heerwesen und seiner Bürokratie brauchte und dem wohlhabenden Bürgertum entnahm. So wurde die Steuerverweigerung zu einer wichtigen, oft angewendeten Waffe im Klassenkampf der aufkommenden Bourgeoisie. Daneben aber kam auch für sie, wie früher für den Adel, der bewaffnete Widerstand in Betracht. Vielmals fand er Anwendung, wenngleich seine Formen mit den Zeiten sich geändert hatten. Der rebellische Vasall, an der Spitze seiner Männer dahin reitend, konnte mit gutem Grunde hoffen, seinen Souverän in offener Schlacht niederzuwerfen, dessen Schlösser zu stürmen und einzunehmen: er verfügte über Gewaltmittel, die denen seines Herrn immer gleichartig, oft ebenbürtig, manchmal, wenn mehrere Edle sich verbündeten, sogar überlegen waren. Schon beim städtischen Bürgertum des Mittelalters war dies nicht mehr der Fall. Die Bewaffnung der ritterlichen und fürstlichen Heere war ganz anders als die der städtischen Miliz. Die schwere Bewaffnung und Rüstung jedoch, herrührend aus den Zeiten, wo die Schlacht sich in eine Reihe von Zweikämpfen auflöste, gereichte den Rittern nicht immer zum Vorteil gegenüber der Beweglichkeit der städtischen Fußgänger. Und überall, wo fürstliche Söldnerheere der kampftüchtigen städtischen Miliz gegenüberstanden, stellte sich, bei ungefähr gleicher Bewaffnung, der folgenschwere Unterschied zwischen Zwangs- und freiwilliger Organisation ein. Wiederum waren die Bedingungen des bewaffneten Widerstandes verändert worden, als das „Volk“ zu Ende des achtzehnten und in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts das heißt die zum Kampf verbundenen Arbeiter, Handwerker, Kleinbürger und Intellektuellen den Straßenkampf als eine Waffe in den Revolutionskämpfen gegen Absolutismus und privilegierte Klassen oftmals mit gutem Erfolge anwendeten. Aus dem modernen Staat und der Entwicklung der Technik war das mit moderner Bewaffnung versehene Heer hervorgegangen. Wurden auch dem Aushaltungsvermögen immer größere Forderungen gestellt, so spielte doch physische Kraft keine entscheidende Rolle mehr, die technische Ausrüstung war ein wichtiger, oft ausschlaggebender Faktor geworden; der Unterschied in der Bewaffnung zwischen Volk und Militär vergrößerte sich immer mehr. Die neuen Verhältnisse, die technische Überlegenheit des Militärs vor allem, führten zu einer neuen Taktik. Es in offener Schlacht besiegen zu wollen, wäre Torheit gewesen, aber die schmalen, winkligen Straßen und Gassen der Städte, ein Vermächtnis früherer Jahrhunderte, boten der Insurrektion noch einen für sie äußerst günstigen Kampfplatz. Dennoch war die technisch-militärische Überlegenheit des Heeres eine so ungeheure, dass, wie Engels in seinem berühmten Vorwort zu den Marxschen Klassenkämpfen klargelegt hat, ein wirklicher Sieg der Insurrektion über das Militär, ein Sieg wie zwischen zwei Armeen, schon damals zu den größten Seltenheiten gehörte. Trotz seiner militärtechnischen Unterlegenheit konnte aber der Aufstand dennoch siegen, weil er der Armee in Vorzügen andrer moralischer Art, in Zähigkeit, Einmütigkeit und Energie manchmal überlegen war. „Auf den wirtschaftlichen Sieg“, schreibt Engels, „hatten die Insurgenten es auch nur selten angelegt. Es handelte sich für sie nur darum, die Truppen durch moralische Einflüsse, die beim Kampfe zwischen den Armeen zweier kriegführender Länder gar nicht oder doch in weit geringerem Grade ins Spiel kommen, mürbe zu machen. Gelingt das, so versagt die Truppe oder die Befehlshaber verlieren den Kopf und der Aufstand siegt. … Selbst in der klassischen Zeit der Straßenkämpfe wirkte also die Barrikade mehr moralisch als materiell. Sie war ein Mittel, die Festigkeit des Militärs zu erschüttern. Hielt sie vor, bis dies gelang, so war der Sieg erreicht; wo nicht, war man geschlagen.“1 In seiner schon vorhin erwähnten Artikelserie über „Staatsstreich und politischer Massenstreik“ gibt Parvus eine anschauliche Darstellung von der Art, wie die Barrikadenkämpfe zustande kamen und von den moralischen Mitteln, die den Sieg auch manchmal auf ihre Seite brachten. Wir entnehmen seinen prägnanten Ausführungen folgende Stelle: „Die Barrikadenrevolution, wie sie die Geschichte aufweist, erscheint uns vor allem als der Abschluss der geschilderten Entwicklungsreihe politischer Äußerungen und zugleich ihre Vereinigung und höchste Kraft- und Wirkungssteigerung. Aber sie war mehr als das. Sie war die gesellschaftliche Desorganisation. Die Fabriken, Werkstätten, Wohnhäuser leerten sich, die Straßen und Plätze waren überfüllt, Die Läden wurden geschlossen. Die Produktionstätigkeit, der Handel, der Verkehr stockten. Die vielen tausend Fäden des gesellschaftlichen Puppenspiels wurden auf einen Augenblick gelöst. Und mit der Alltagsbeschäftigung verschwand auch der moralische Alltagsdusel. Die Bequemlichkeit hörte auf, die Lässigkeit wirkte nicht mehr, die Tradition war vergessen, der Schlendrian gebrochen, die kleinlichen Lebenssorgen wurden zurückgestellt und nur eins beseelte die schiebende, drängende, flutende, wogende Menge das politische Interesse. Im aufgeregten Menschenchaos löste sich der Einzelwille auf und zur Geltung kamen die Gesetze der Massenbewegungen. Politisierende Menschenhaufen bildeten sich an den Straßenecken. Es waren die Nervenknoten der zu einem großen Ungetüm verschmolzenen Volksmenge auf offener Straße, die Sensitivitätsknäuel, die in zitternder Hast Eindrücke, Nachrichten, Gerüchte, Gedanken, Worte, Stimmungen weiter trugen, erzeugten, aufbauschten, im Flusse erhielten. Die Unsicherheit, das Ungewöhnliche, Perverse der Situation, die nervöse Spannung, die Konzentration des Interesses auf einen Punkt, das nahe Beisammensein in großer Volkszahl steigerten das Fassungsvermögen, schafften gleichsam an Stelle der gewöhnlichen geistigen Empfänglichkeit einen verfeinerten, potenzierten, revolutionären Massenintellekt. Deshalb das schnelle Umsichgreifen eines revolutionären Aufstandes notabene, wenn er zur richtigen Zeit kam. Der Staat wurde in den allgemeinen Strudel hineingerissen. Die Regierungsmaschinerie klappte vorzüglich, solange der gesamte gesellschaftliche Mechanismus ungestört funktionierte … Als aber die Berufstätigkeit aufhörte, der korrekte Geschäftsmann ebenso wie der Gauner und Schwindler außer Erwerb gesetzt wurden, wenn ernste Volksmengen sich in den Straßen bewegten und auf den Hausmauern Inschriften erschienen: „Tod den Dieben“ dann ergriff die Regierungsorgane vom Schutzmann bis zum König eine bange Besorgnis, eine herzbeklemmende Unsicherheit, eine scheue Ratlosigkeit. Gaben sie sich früher für die Beschützer des Volkes aus, so erschienen sie jetzt schutzbedürftig gegenüber dem Volk. Denn gegen sie richtete sich der lange verhaltene Zorn des aus seiner gewaltigen Ruhe aufgerüttelten Volkes. Vor allem aber ging das Bestreben der Regierung dahin, die Ordnung wieder herzustellen, das heißt das Volk mit Gewalt zu veranlassen, die einzelnen Stellungen in der gesellschaftlichen Tretmühle wieder einzunehmen, es mit Gewalt in den gewohnten Schlendrian hineinzuzwängen. Allein die Polizei verschwand im Menschenstrome und wurde machtlos. So blieb die einzige Zuversicht – das Militär. Die Aufgabe, die dem Militär zufiel, war die, das Volk aus den Straßen zu verjagen, es zu Paaren zu treiben, um dadurch die Zauberkräfte der Zusammenrottungen zu zerstören, in der Erwartung, dass die auseinander gesprengte Menge, ohne Zusammenhang untereinander, entmutigt würde und ihre aufgelösten Einzelglieder, auf sich selbst gestellt, den moralischen Halt verlören, nachgäben und wieder ins Joch kröchen, um im ausgetretenen Geleise fortzutraben. Dem widersetzte sich das Volk. So entstanden die Barrikaden. Die Bedeutung der Barrikade ist nach zwei Richtungen hin zu betrachten. Erstens war sie ein Sammelpunkt und Organisationsmittel. Gerade wo es sich um eine von vornherein unorganisierte Masse handelte, wie das bei den geschichtlich bekannten gewaltsamen Revolutionen stets der Fall war, war dieser Punkt sehr wichtig. Die Massenversammlungen bekamen dadurch ein Ziel und ein Bindemittel. Besonders wirksam zeigte sich das bei den durch ihre Berufstätigkeit von einander getrennten, aber doch im beschränkten Raume der Straße, des Stadtviertels in sehr ansehnlicher Zahl vorhandenen Kleinhändlern, Handwerkern, Hausindustriellen usw. Durch den Barrikadenbau wurden diese Leute aus den Budiken, Werkstätten, Hinterhäusern herausgelockt und vereinigt. Für alle vollends war die Barrikade die Proklamation, die öffentliche Kund- und Geltendmachung der Revolution, das aufgehisste Banner, um die revolutionären Kräfte zu sammeln. Man bedenke, wie zahlreich noch 1848 das Kleinbürgertum und das Handwerkertum waren, wie unorganisiert die Arbeiterklasse selbst, um die Wichtigkeit dieses Moments zu begreifen. Deshalb zeigt jede Revolution zunächst eine aufsteigende Bewegung. Sie brauchte Zeit, um sich zu entfalten. Und solange diese Ausdehnungsfähigkeit anhielt, war der Sieg auf Seiten des Volkes. Mit Recht verweist Engels darauf, dass der Sieg des Volkes in Berlin 1848 unter anderem dem starken Zufluss neuer Streitkräfte während der Nacht und des Morgens vom 19. März zuzuschreiben ist. Zweitens war die Barrikade eine Schutzwehr: Deckung auf Seiten des Volkes und Hindernis auf Seiten des Militärs. Die Macht dieser Hemmung auf das Militär lag nicht immer in ihrer materiellen, sondern mehr noch in ihrer moralischen Wirkung. Der Marsch der Truppen wurde aufgehalten, dadurch entstand Unordnung in den Reihen, die stramme Spannung des sich militärisch bewegenden Zuges ließ nach, Zeit verstrich, die Soldaten durch Gewohnheit, militärischen Drill zusammengehalten, durch den Trommelschlag betäubt, durch den gemeinsamen Kolonnenmarsch hingerissen, bekamen Gelegenheit, sich umzusehen, nachzudenken, sich Rechenschaft abzulegen von ihren Handlungen. Und da es nicht einen Kampf in offenem Felde gegen einen fremden Feind galt, sondern einen Angriff im engen Raum der Straße, unter den Augen der Bevölkerung auf das Volk, mit dem die Soldaten gestern erst friedlich verkehrten und dem sie selbst entstammten, so bemächtigte sich eine Energielosigkeit, eine Unlust, eine Verwirrung der Truppen, sie wurden „demoralisiert“, und das desto mehr, je mehr Sympathien sie von vornherein dem Aufstande entgegenbrachten. Es ist bekannt, dass man deshalb bei revolutionären Kämpfen die mangelnde Begeisterung der Soldaten durch reichliche Branntweinrationen zu ersetzen pflegte. Im Schnapsrausch lag also in letzter Linie das Heil des Staates.“Z ★ ★ ★ Aus dieser Übersicht der verschiedenen, während vieler Jahrhunderte im Klassenkampf angewendeten Mittel folgt, dass die kämpfenden Klassen in der Vergangenheit über bestimmte, mit der gesellschaftlichen Entwicklung überhaupt und den gesellschaftlichen Zuständen zusammenhängende Kampfmittel verfügten. Die Verweigerung einer wichtigen gesellschaftlichen, wenn auch nicht notwendig ökonomischen Funktion erwies sich uns als eine der geschichtlichen Methoden der Abwehr. Daneben kommt dann die eigentliche Gewalt in der Form des bewaffneten Widerstandes in Betracht. Die Wirkung der geschichtlichen Entwicklung aber ist, die Gewaltmittel in den Händen des Staates zu zentralisieren, das Volk zu entwaffnen, somit den Abstand zwischen den kämpfenden Klassen in militärtechnischer Hinsicht immer größer zu machen und den bewaffneten Widerstand immer schwieriger. Zum Glück für die aufkommende Klasse unsrer Zeit, für das Proletariat, entscheidet aber immer weniger die bloße technisch-militärische Überlegenheit. Es gewinnt dagegen ein andrer Faktor immer mehr an Bedeutung: die Festigkeit, Zähigkeit und Widerstandskraft der Organisation. Wir wollen jetzt die möglichen Kampfmittel prüfen, die sich für das moderne Proletariat aus den Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung sowie aus seiner eignen Stellung im Produktionsprozess ergeben. In der Produktion erfüllt das Proletariat eine hochwichtige Rolle, da es mit seiner Arbeit das ganze Gemeinwesen erhält. Daneben hat es auch im Staatswesen gewisse Verpflichtungen zu erfüllen, deren wichtigste Steuerzahlung und Militärdienst sind, und deren Verweigerung es vielleicht als Zwangsmittel im Klassenkampf anwenden könnte. Endlich ist es, wie alle andern Klassen, auch Konsument. In den ökonomisch hoch entwickelten Ländern bildet das Proletariat die zahlreichste Klasse der Bevölkerung und folglich überall, wo die allgemeine Dienstpflicht die persönliche Grundlage des modernen Militarismus ausmacht, den größten Teil der Armee. Als Steuerzahler trägt es, infolge seiner Armut, einen erheblichen Teil der öffentlichen Lasten nur dort, wo indirekte Steuern auf Konsumgegenstände gelegt sind, also in fast allen europäischen Ländern außer England. Würde das Proletariat, wie einstmals die Bourgeoisie, die Steuerverweigerung als politische Waffe anzuwenden versuchen, so könnte es dies folglich nur in seiner Rolle als Konsument, indem es den eignen Konsum herabsetzte. Die indirekten Steuern auf Konsumgegenstände, die Zölle und Akzisen, die dem Proletariat aufgelegt werden, treffen sowohl seine ersten Lebensmittel (Getreide, Fleisch, Kartoffeln, ferner Baumwolle, Hausgerät, Steinöl usw.), wie seine Genussmittel (Zucker, Tabak, Tee, alkoholische Getränke). Allgemein geht die Tendenz der (reaktionären) Entwicklung auf Erhöhung dieser Steuern, weil die Ausgaben für Militarismus und Marinismus ins Ungeheure wachsen, die herrschenden Klassen es aber ablehnen, die Mittel zu dieser Politik durch progressive Einkommens- und Erbschaftssteuern aufzubringen. Den Konsum seiner ersten Lebensmittel auf längere Zeit bedeutend herabzumindern, wäre für das Proletariat wie für jede Klasse unmöglich. Freiwillige Einschränkung des Konsums an Genussmitteln ist dagegen wohl möglich und schon von Völkern versucht worden, die durch Besteuerung ausgebeutet wurden, wie von den Nordamerikanern vor dem Unabhängigkeitskrieg gegen England. Das Resultat einer derartigen Aktion des Proletariats könnte aber nur ein moralisches sein, jedenfalls könnte sie höchstens erst bei langer Dauer eine gewisse wirtschaftliche Schädigung einiger Gruppen aus den besitzenden Klassen erreichen. Sie könnte somit nur wirken als eine verstärkte Form der Manifestation. Die Steuerverweigerung kann eine brauchbare Waffe sein, wenn von einer Klasse angewendet, die über das Produkt ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit selbst verfügt und somit dem Staate die zu seiner Existenz notwendigen Geldmittel verweigern kann, ohne den eigenen Konsum einzuschränken. Bei Klassen, wo dies nicht der Fall ist, also für die Praxis des proletarischen Klassenkampfes, kommt die Steuerverweigerung nicht ernstlich in Betracht. Außer der Steuerverweigerung ist noch der Boykott als wirtschaftliche Waffe im politischen Kampf schon angewendet worden. Vor einiger Zeit wurde er, zwar in geringem Umfang, von den Afrikaner Buren gegen englische Waren versucht. Neuerdings findet er unvermutet Anwendung bei den Eingeborenen in Bengalen, wo er sich zu einer drohenden Bewegung gegen die englische Herrschaft entwickeln soll. Mittels des Warenboykotts kann man aber nur einen nationalen Feind treffen. Im politischen Kampf ist er für das Proletariat unbrauchbar, weil er das Moment der internationalen Solidarität vollständig ausschalten würde. Das Proletariat müsste, um den nationalen Feind treffen zu können, die Feinde seiner internationalen Brüder bevorzugen. Außerdem würde eine Erhöhung des Schutzzolles der Bourgeoisie ein Mittel bieten, die Durchführung des Boykotts unmöglich zu machen. Neben der Steuerzahlung ist die wichtigste staatliche Verpflichtung des Proletariats der Militärdienst. Die Verweigerung dieses Dienstes, die Stellungsverweigerung, wäre die moderne Wiederauflebung der mittelalterlichen Verweigerung der Heeresfolge. Ihre Folgen für den einzelnen würden aber, dem gewaltigen Abstand in den Machtverhältnissen zwischen dem modernen Staate und dem rebellierenden Individuum gemäß, für dies Individuum ganz andre sein. Der mittelalterliche Baron forderte durch die Verweigerung seiner Lehnspflicht den offenen Kampf heraus, aber er fürchtete ihn nicht allzu sehr, weil er über qualitativ, wenn auch nicht immer quantitativ gleiche Waffen wie sein Herr verfügte; er konnte den Kampf aufnehmen mit der Aussicht zu siegen. Der moderne Arbeiter dagegen, der die Stellungsverweigerung wagt, kommt in Konflikt mit dem ganzen Herrschaftsapparat des Staates und wird von diesem zerdrückt wie ein lästiges Insekt. Ihrer praktischen Aussichtslosigkeit wie ihrer schweren persönlichen Gefahren wegen ist die individuelle Stellungsverweigerung von der Sozialdemokratie immer bekämpft worden. Die gewisse agitatorische Wirkung, die ihr nicht abgesprochen werden darf, fällt gegenüber ihren Bedenklichkeiten kaum ins Gewicht. Anders wie mit der individuellen steht es mit der organisierten Stellungsverweigerung. Vom Proletariat in großem Maßstabe angewendet, wird sie in revolutionären Zeiten den Regierungen bei inneren Unruhen arge Verlegenheiten bereiten können, vielleicht auch bei ausländischen Kriegen. In Finnland ist vor kurzem ein schwacher Versuch in dieser Richtung gewagt worden, in der allerletzten Zeit wurde die organisierte Stellungsverweigerung von der polnischen sozialistischen Partei, im Zusammenhang mit andern revolutionären Mitteln im Kampfe gegen den Absolutismus, nicht ganz ohne Erfolge angewendet. Die organisierte Stellungsverweigerung ist jedoch nichts andres als eine etwas abgeschwächte Form des militärischen Streiks, das ist: des unbedingt revolutionärsten Streiks, den es in der bürgerlichen Gesellschaft gibt. Bleibt dieser Streik auf die im Militärdienst Neueintretenden beschränkt, breitet er sich nicht nach und nach auf die schon im Militärdienst Stehenden, auf die Armee, aus, so werden in den unvermeidlichen gewaltsamen Zusammenstößen, die er erzeugt, die Streikenden unerbittlich überwältigt. Nur wenn der Streik sich auch auf das stehende Heer erstreckt, die Stellungsverweigerung sich zur Dienstverweigerung, zur allgemeinen Insubordination erweitert, können seine Aussichten günstig sein. Es ist aber ganz unwahrscheinlich, dass im Laufe der Entwicklung eine politische Erregung, mächtig genug, die Bande der Militärdisziplin zu lockern und die Armee zur Insubordination hinzureißen, beim Heer ihren Anfang nehmen wird. Volkserhebungen pflegen nicht beim Militär anzufangen; vielmehr setzt die Armee ihrem siegreichen Vordringen gewöhnlich anfangs einen gewissen Widerstand entgegen, auch wenn sie sich schließlich von ihnen mitreißen lässt. Die organisierte Stellungs- und Dienstverweigerung wird als proletarisches Kampfmittel zweifellos in Anwendung kommen, aber nur als Teil, als Moment einer allgemeinen revolutionären Bewegung der Arbeiterklasse, deren Einleitung und wichtigstes Ausdrucksmittel nichts andres sein kann als eine mächtige Streikkrise. Zum Militärstreik kann es nur kommen in Tagen revolutionärer Gärung, wenn das herrschende Regime schon ernstlich bedroht und dem Zusammenbruch nahe erscheint. Solange Militärpflichtige und Soldaten fürchten müssen, dass die politische Gewalt, gegen die sie sich auflehnen, nach Beendigung des Kampfes noch dieselbe sein wird, werden sie sich hüten, einen Kampf aufzunehmen, der für sie den Verlust der Freiheit, ja des Lebens bedeuten würde. Sie können ihn nur wagen, wenn Aussicht erscheint, die bestehende Staatsgewalt zu stürzen und eine neue an deren Stelle zu setzen. Soll ihnen aber diese Hoffnung winken, so müssen sie nicht isoliert dastehen, sondern nur einen Teil bilden der ganzen proletarischen Klasse, die sich ebenfalls im offenen Kampf gegen die Staatsgewalt befindet. Unter dieser Voraussetzung kann nicht nur, sondern wird wahrscheinlich die Stellungs- und Dienstverweigerung eine wichtige Rolle spielen im Entscheidungskampf des Proletariats. Schon deswegen wird dies der Fall sein müssen, weil der Staat in seiner Abwehr gegen eine mächtige politisch revolutionäre Streikbewegung jedenfalls ebenso wohl die Arbeiter des Eisenbahndienstes und andrer wichtiger Produktionszweige militarisieren, das heißt unter militärische Zucht stellen, wie die in der Armee und in der Reserve dienenden professionellen Arbeiter zur Berufsarbeit befehlen wird. Streik und Dienstverweigerung werden auf diese Weise verkettet werden, unerbittlich ineinander übergehen. Die Stellungs- und Dienstverweigerung kann also den politischen Massenstreik nicht ersetzen, geht aber notwendig aus der revolutionären Streikbewegung hervor, erhöht ihre Intensität und dürfte eine Bedingung ihres Sieges sein. Hiermit sind die möglichen Zwangsmittel erschöpft, die dem Proletariat aus seiner Stellung im Produktionsprozess und in der bürgerlichen Gesellschaft erwachsen. Es bleibt nur die Gewalt im eigentlichen Sinne, die bewaffnete Insurrektion übrig. Eine ausführliche Prüfung ihrer Aussichten ist hier nicht notwendig, wie auch Parvus in seiner mehrfach zitierten Artikelserie von 1896 und Kautsky in seiner Abhandlung von 1904 auf eine solche Prüfung verzichtet haben. Fr. Engels hat in klassischer Klarheit und Präzision die Gründe auseinandergesetzt, weshalb die bewaffnete Insurrektion mit Barrikadenkämpfen und derlei kriegerische Geschehnisse in den Revolutionsbewegungen der Gegenwart keine entscheidende Rolle mehr spielen können, und diese Gründe nochmals auseinanderzusetzen, hieße nur, die Engelsschen Ausführungen wiederholen. Es ist aber neuerdings im internationalen Sozialismus die Aussichtslosigkeit der bewaffneten Insurrektion doch wieder angezweifelt worden, sowohl von einer Fraktion des russischen Sozialismus, wie von angesehenen Wortführern der italienischen und englischen Sozialdemokratie. Dazu kommt, dass die russischen Ereignisse der letzten Monate eine neue, wichtige, wenn auch noch nicht abgeschlossene Erfahrung zu dem Tatsachenmaterial der proletarischen Revolutionsbewegungen hinzugefügt haben, der sich vielleicht doch neue Gesichtspunkte abgewinnen lassen. Aus dem einen wie dem andern Grunde dürften einige Ausführungen über die mögliche Rolle der Gewalt im proletarischen Emanzipationskampfe hier nicht unangebracht sein. Bekanntlich ist die Partei der russischen Sozialrevolutionäre der Ansicht, dass sich die organisierte Gewalt als eine für das Proletariat nützliche Waffe erweisen kann, und zwar hauptsächlich wegen ihrer moralischen Wirkung.* Der bewaffnete Widerstand gegen Polizei und Militär bei Streiks, Umzügen, Straßendemonstrationen usw. scheint ihnen ein geeignetes Mittel, das Proletariat zu größerem Kampfmut zu erziehen, sein Selbstgefühl zu heben und der langen Gewöhnung des Gehorsams und der Unterwerfung unter die Autorität entgegenzuwirken. Die russischen Revolutionäre haben den bewaffneten Widerstand bei Straßenumzügen usw. manchmal in Anwendung gebracht. Der einzig mögliche Erfolg bestand außer in der erzieherischen Wirkung des tapferen Standhaltens gegenüber der bewaffneten Macht, in dem Eindruck auf die öffentliche Meinung. Der Gedanke an die Möglichkeit einer Erschütterung der russischen Staatsgewalt, des Sturzes des Absolutismus durch den Kleinkrieg mit der Polizei mit den den Arbeitern zu Gebote stehenden primitiven Waffen, konnte ja bei niemandem aufkommen. Die moralische Wirkung des Widerstandes, die Erziehung des Wollens zum Kampf und zur Kampftüchtigkeit beim Proletariat mag wohl ihren Nutzen gehabt haben unter Verhältnissen wie den russischen, wo jede regelmäßige Massenaktion unmöglich war, jeder Streik und jede Manifestation das Eingreifen der Autoritäten herausforderte, hat aber nur eine Existenzberechtigung unter solchen, das Proletariat zu völliger Rechtlosigkeit verurteilenden Verhältnissen. Das Ausbrechen und der Fortgang der revolutionären Bewegung in Russland haben aber gezeigt, dass, sobald das Proletariat den Kleinkrieg gegen Polizei und Militär zum großen Krieg gegen die herrschende Staatsordnung erweitert, nicht an erster Stelle die physische Gewalt, sondern der Massenausstand zum eigentlichen Träger der politischen und sozialen Klassenerhebung wird. Der Streik ergibt sich als Notwendigkeit, von selbst, aus jeder wirklichen Revolutionsbewegung der Gegenwart, weil er aus der ökonomischen Lage der Arbeiterklasse hervorgeht. Ohne die Fabriken, Werkstätten, Bergwerke zu verlassen, wo es an die Kette des Kapitals geschmiedet, von diesem in Vereinsamung und Zersplitterung festgehalten wird, kann das Proletariat keine allgemeine politische Aktion vornehmen. Der Streik ist die Einleitung, der erste Schritt jeder revolutionären Massenaktion, wie auch ihr weiterer Fortgang sich abspielen möge. Er ist zudem die einzige Aktionsform, die alle Gruppen des Proletariats aufrüttelt und in die politische Bewegung hineinzieht, weil er es allen ermöglicht, gegenüber dem wirtschaftlichen und sozialen Druck des Kapitals, der die allgemeine Grundlage der modernen Gesellschaft ist, ihre Forderungen zu erheben. Nicht mit dem Straßenkampf, sondern mit dem Massenstreik hat die revolutionäre Erhebung in Russland angefangen. Wohl aber sind in vielen Fällen Straßenkampf und gewaltsamer Widerstand die zweite Phase der Bewegung gewesen: Aufstände, Straßenkämpfe, Zusammenstöße mit Polizei und Militär sind überall aus dem Streik hervorgegangen und haben Tausende von Opfern erheischt. Durchgehend aber bilden die Straßenkämpfe bloß heroische Episoden der revolutionären Streikbewegung, Begleiterscheinungen von untergeordneter Bedeutung gegen diese selbst, das heißt solcher, deren Ergebnis für das Schicksal der Revolution nicht entscheidend ist. Über ihr Schicksal entscheidet, soweit das Proletariat als ein Faktor der russischen Revolution in Betracht kommt – und das ist in sehr hohem Grade, wenn auch lange nicht ausschließlich der Fall in erster Linie der Verlauf der Streikbewegung selbst, der Umstand, ob das Proletariat imstande ist, die Bewegung intensiv und extensiv immer großartiger zu gestalten, sie mit kurzen Unterbrechungen, die den Absolutismus nicht zu Atem kommen lassen, immer von neuem zu wiederholen, die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse folglich immer tiefer zu zerrütten, den aus dem Volke hervorgegangenen Teil der Armee immer mehr zu erschüttern und der Insubordination näher zu bringen, die Regierung immer mehr zu verwirren, ihre Machtmittel zu lähmen, sie zum tatenlosen Hin- und Herschwanken oder zur verzweifelten Untätigkeit zu verdammen. Die russische Revolution hat in diesem Augenblick noch keinen entscheidenden Vorteil über den Gegner zu verzeichnen, aber dennoch hat die revolutionäre Streikbewegung im Laufe der letzten Monate so gute Fortschritte mit der Desorganisation des absolutistischen Staates gemacht, dass sich aus den russischen Ereignissen deutlich ergibt, welch treffliche Waffe der Streik als die natürliche Form der proletarischen Revolution, sogar in den Händen eines an Zahl schwachen und wenig geschulten Proletariats ist. Ein allgemeiner Versuch der Arbeiter und Intellektuellen zur bewaffneten Insurrektion hätte zweifellos mit einer furchtbaren Niederlage geendet und das Proletariat auf Jahre geschwächt und kampfunfähig gemacht. Nach einer mehrere Monate andauernden, mit Demonstrationen, Revolten und Straßenkämpfen verbundenen Streikbewegung steht das Proletariat nicht nur ungebrochen und ungeschwächt da, in der Lage, den Kampf nach Gutdünken, wenn erschöpft, abzubrechen und wieder zu beginnen: es hat im Kampfe seine Kraft kennen gelernt und das Bewusstsein seiner gesellschaftlichen Unentbehrlichkeit gewonnen. In einigen Monaten des Kampfes hat es dem Absolutismus gewaltigeren Schaden zugefügt als die Intelligenz in jahrzehntelangem Ringen. Es hat durch den Streik jede Festigkeit des Erwerbs und der Existenz unmöglich gemacht, in der Gesellschaft einen unerträglichen Zustand der Unruhe und der Unsicherheit hervorgerufen, die Einkünfte des Staates stark herabgesetzt, ihm höhere Ausgaben aufgenötigt, allen andern revolutionären Klassen Gelegenheit gegeben, die gesellschaftliche und staatliche Desorganisation durch Einstellung ihrer eigenen wissenschaftlichen und administrativen Tätigkeit zu fördern. Dieses Proletariat hat innerhalb Jahresfrist für seine Klasse eine ansehnliche faktische, wenn auch nicht gesetzliche Freiheit der Agitation und Organisation gewonnen und für die ganze Gesellschaft in verschiedenen Landesteilen eine nie dagewesene Freiheit der Presse geschaffen. Die Kampfeskräfte der Revolution sind kolossal gewachsen, die ungesetzliche Presse hat ungeheure Verbreitung gefunden. Vor allem aber hat, vielleicht als wichtigstes Ergebnis dieser ersten Periode der Revolution, eine Welle der Militäraufstände angesetzt, deren Fortgang den Zarismus unmittelbar bedrohen würde. Diese Militärrevolten sind neben den Niederlagen im Osten ohne Zweifel auf die Berührungen zurückzuführen, die das Heer Wochen und Monate hindurch mit den ausständischen Arbeitern hatte, sowie ferner auf die elende Henkersarbeit, zu der die Regierung das Militär missbrauchte und die ihm auf die Dauer zum Ekel wurde. Endlich ist während dieser Periode in Gestalt der Duma ein neuer wertvoller Ausgangspunkt für die weitere revolutionäre Agitation unter den entrechteten Volksmassen, vor allem den Bauern, gewonnen. Das russische Proletariat hat diese Erfolge nur unter sehr blutigen Opfern errungen. Bei dem Petersburger Massaker sind Tausende gefallen und bei den Zusammenstößen der Arbeiter mit dem Militär zu Warschau, Lodz, Riga, Odessa, Moskau sind abermals Tausende auf dem Schlachtfeld der Freiheit geblieben. Bei den von der Streikbewegung nicht scharf getrennten Straßenkämpfen ist in ganz Russland das Blut der Revolutionskämpfer geströmt. Es gibt wohl keinen größeren Ort, keine Industriestadt, kein Bergwerk, wo nicht todesmutige Proletarier den blutdürstigen Unterdrückungsversuchen der Autokratie zum Opfer gefallen sind. Eine Revolution ohne Opfer, und zwar gegen den asiatisch barbarischen Absolutismus, ist aber unmöglich. Wäre jedoch nicht der Streik, sondern der bewaffnete Versuch zur Insurrektion gleich von Anfang an die allgemeine Erscheinungsform des Kampfes gewesen, dann wären nicht wie jetzt einige Hunderte oder Tausende von Proletariern gefallen, sondern das russische Proletariat selbst läge, aus unzähligen Wunden blutend, am Boden wie das Pariser Proletariat nach der Niederwerfung der Kommune. Der politische Massenstreik, sei es als gleichzeitige Erhebung des ganzen Proletariats, sei es in der geänderten, schleppenden Form, wie er sich jetzt in Russland abspielt, stellt sich, wie aus den russischen Ereignissen hervorgeht, als das beste Mittel dar, der staatlichen Gewalt einen zwar nicht immer ungewaltsamen, aber ebenso wenig vorwiegend von der materiellen Gewalt abhängigen Widerstand entgegenzusetzen, der eben darum den überlegenen staatlichen Gewaltmitteln nicht zu unterliegen braucht, weil seine Machtmittel größtenteils andrer Art sind. Der politische Massenstreik ist die einzig mögliche Form des Bürgerkriegs, in welchem den mit den raffiniertesten Mitteln moderner Technik ausgerüsteten Soldaten von der andern Seite nur „die offene Brust und das ungeschützte Herz“ entgegengestellt wird und dennoch nicht die bewaffnete Regierungsgewalt, sondern das unbewaffnete Heldentum der Masse entscheidet. ★ ★ ★ Auch von einem Teil der italienischen und englischen Sozialdemokratie wird vielfach die Auffassung vertreten, dass im Entscheidungskampfe des Proletariats die bewaffnete Gewalt die wichtigste Rolle spielen wird. Genosse Hyndman verwirft, wie man sich erinnern wird, den revolutionär-politischen Massenstreik, weil dieser ihm gegen die Gewalt der politischen Machthaber keine Aussicht zu bieten scheint; er akzeptiert ihn höchstens als Einleitung zur bewaffneten proletarischem Insurrektion. Er stellt sich diese jedoch nicht in der alten, von der technischen und gesellschaftlichen Entwicklung längst unmöglich gemachten Form eines Kampfes der Volksmassen gegen die Armee vor, sondern will das Heer selbst in den Dienst der Freiheit stellen, die Armee zum Zweck der Niederwerfung der kapitalistischen Herrschaft anwenden. Deshalb empfiehlt er den deutschen Genossen, in der Armee sozialistische und antimilitaristische Agitation zu treiben. Deshalb befürwortet er eine Art der Heeresorganisation, die sich mit sozialistischem Bewusstsein durchdringen lässt, wovon er erwartet, sie werde sich in so hohem Masse eins mit dem Volk. fühlen, dass dieses sie als Werkzeug seiner revolutionären Erhebung anwenden könne: das Volksheer, die Miliz. Zweifellos würde die Existenz der Miliz – das heißt, die zu militärischen Zwecken organisierte, aber nicht als selbständiges Organ außer und über dem Volke stehende gesamte männliche Bevölkerung – den politischen Massenstreik als Form und Mittel der proletarischen Revolution überflüssig machen. Zwar wäre auch in diesem Falle die Unterbrechung der Produktion, das Heraustreten des Proletariats aus den Fabriken, Werkstätten und Bergwerken die unerlässliche Voraussetzung zur aktiven Entfaltung seiner militärischen Macht. Dieser aber fiele die Aufgabe zu, das bürgerliche Regiment durch direkte Gewalt zu stürzen, anstatt es hauptsächlich, wie der politische Streik will, durch die indirekte Desorganisation und Demoralisation zu beseitigen. Jedoch die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering, dass unter Verhältnissen, die den politischen Streik, also die Anwendung von Gewaltmitteln für die Arbeiterklasse zur Durchführung ihrer Emanzipation notwendig machen – wo ihr also die Demokratie nicht oder nicht mehr zu Gebote steht – eine militärische Organisation auf demokratischer Grundlage erwachsen oder Bestand haben wird. Die Miliz, wie die Sozialdemokratie sie auffasst – nicht in der zwieschlächtigen Form, wie sie aus technisch-militärischen Rücksichten auch von militärischer Seite verlangt wird –‚ ist keine auf sich selbst ruhende Heeresform, sondern die Gewährung eines wichtigen politischen Rechtes von unmittelbarer Wirkung und noch größerer Tragweite wie das Wahlrecht; sie ist die Voraussetzung und Konsequenz einer ausgebildeten Demokratie. Sie kann nur bestehen entweder in einer kleinbürgerlichen oder Bauerndemokratie, oder aber in einer modernen Demokratie, in der das Proletariat den ganzen politischen Einfluss ausübt, der seiner wichtigen Stellung im Wirtschaftsgetriebe und seiner politischen Reife und Einsicht entspricht. Aber sein sozialistisches Ziel wird das Proletariat ja in einer derartigen Demokratie auf gesetzlich-parlamentarischem Wege erreichen können und damit verschwindet die Notwendigkeit der Anwendung des politischen Streiks wie jedes Gewaltmittels überhaupt. Erreicht aber die demokratische Entwicklung diesen Reifegrad nicht, greift die herrschende Klasse vielmehr zu dem Mittel der politischen Entrechtung des Proletariats, um sich halten zu können, so ist die demokratische Heeresorganisation, die Volksmiliz, nicht als Mittel zum Siege des Proletariats, sondern erst als dessen Ergebnis zu erwarten. Das Proletariat ist heute schon so sehr der Schrecken seiner Gegner, dass die Regierungen keinen Schritt zur Volksmiliz hin zu tun wagen, wie erwünscht ein solcher aus militärtechnischen Gründen auch wäre. Die Wehrfähigkeit einer entrechteten Klasse ist den Herrschenden immer gefährlich; und wo das Proletariat politisch imstande ist, die Umformung des stehenden Heeres zur Miliz durchzusetzen, ist es um so eher imstande, die politische Demokratie zu erringen und sich zu erhalten. Jedenfalls ist bis jetzt in den wichtigsten europäischen Ländern von einer Entwicklung des stehenden Heeres zur Volksmiliz nichts zu bemerken. Wo, wie in den kleineren Ländern, finanzieller Rücksichten halber die Dienstzeit ein Jahr nicht übersteigt oder noch geringer ist, steht dennoch das Kasernensystem, die militärische Rechtspflege usw. in voller Blüte, kurz es wird alles aufgeboten, um trotz der kurzen Dienstzeit den „militärischen Geist“ auszubilden. In der alten norwegischen Bauerndemokratie, wo eine Art Milizsystem von jeher heimisch war, schlägt die Heeresentwicklung den Weg zum Militarismus ein. Nur in der Schweiz, dem Musterland der kleinbürgerlichen und bürgerlichen Demokratie, steht das Volksheer noch fest gewurzelt, obgleich es auch dort militaristische Ansätze gibt. Bleibt England übrig. Dort aber sind die Heeresverhältnisse sehr verschieden von denen des Festlandes, wie ja auch seine gesellschaftlichen Verhältnisse im Allgemeinen manches Eigentümliche zeigen. Ein stehendes Heer auf der Grundlage der allgemeinen oder persönlichen Dienstpflicht gibt es nicht, die Heeresverfassung beruht auf einer Mischung von Söldnerarmee und freiwilligen Milizen. Die große Heeresreform, von der seit Jahr und Tag die Rede ist, die auszuführen aber das nächste liberale Ministerium wahrscheinlich ebenso wenig Lust verspüren wird, wie bisher die konservativen Unionisten diese immer wieder aufgeschobene „gründliche“ Reform muss jedenfalls zu einer Art von Milizheer führen; denn das englische Volk, das nie persönliche Militärlasten kannte, würde sich auf bäumen gegen eine Dienstzeit von der Länge, wie das stehende Heer sie fordert. England ist aber unter den kapitalistisch entwickelten Ländern Europas das Land, wo die Bourgeoisie die Erweiterung der Rechte des Proletariats am wenigsten zu fürchten braucht, weil dieses bis jetzt seine politischen Rechte doch nicht zum Zwecke seiner Befreiung anwendet. Das englische Proletariat besitzt Vereinsfreiheit, aber es hat keine starke selbständige politische Organisation; es hat Pressefreiheit, aber die unabhängige Arbeiterpresse hat keinen politischen Einfluss und keine Bedeutung; es hat ein so gut wie allgemeines Wahlrecht, aber es schickt fast keine mit klarem Klassenbewusstsein erfüllten Kämpfer ins Parlament. So würde es auch wohl die militärische Macht, welche die Einrichtung der Miliz ihm verliehe, im heutigen Stadium seiner politischen Reife oder vielmehr Unreife nicht anwenden, um die Staatsgewalt zu bekämpfen, sondern sich wahrscheinlich betören lassen, für die Interessen der besitzenden Klassen sein Leben einzusetzen. Erwachen aber die englischen Arbeiter einmal zum Klassenbewusstsein, führen ihre vielfachen Bestrebungen der letzten Jahre, sich eine von den bürgerlichen Parteien unabhängige Vertretung im Unterhause zu sichern, schließlich zur Bildung einer starken sozialdemokratischen Partei, so dürfte es auch in England mit der Einführung der Miliz einen Haken haben, oder es würde wohl daneben ein Söldnerheer, eine starke Schutztruppe, ausgebildet werden, die nicht nur als Kolonialarmee fungieren könnte, sondern im Notfall auch gegen den „inneren Feind“ anzuwenden wäre. Alles in allem ist die Aussicht nicht groß, dass das Proletariat, vom Staate militärisch organisiert, durch diese Organisation den Staat im Entscheidungskampfe wird besiegen können. Vielmehr dürfte die Einführung der Volksmiliz eine der ersten politischen Maßnahmen der siegreichen Arbeiterklasse sein, um ihre Herrschaft gegen die Gefahr reaktionärer Wühlereien sicher zu stellen. Wenn aber die Aussicht gering ist, dass das Milizsystem vor der proletarischen Revolution zustande kommt, so wird diese mit der Heeresorganisation der Gegenwart, mit dem stehenden Heere, zu rechnen haben. Das stehende Heer der Neuzeit ist ebenso verschieden vom Berufs-(Söldner-)Heere früherer Zeiten, wie von einer wirklichen Miliz: es hält zwischen beiden die Mitte. Es ist jene Heeresform, die es dem bürgerlichen Staat ermöglicht, die Wehrkraft der gesamten Nation auszunützen, sie aber anzuwenden zu seinen eigenen Zwecken, das heißt auch zu solchen, die den Interessen des Proletariats zuwiderlaufen. Das Proletariat aber liefert infolge seiner großen Zahl das Hauptkontingent der Armee. Jener Teil des Proletariats aber ist am ehesten von den herrschenden Klassen zu ihren Zwecken zu gebrauchen, der, auf dem Lande aufgewachsen und beschäftigt, noch in Ehrfurcht vor den staatlichen Autoritäten befangen ist. Die städtischen Elemente dagegen, die, nicht im Autoritätsglauben aufgewachsen, frühzeitig selbständig denken gelernt haben und für die Autorität eher Geringschätzung als Ehrfurcht empfinden, würden sich weit eher dazu verstehen, sich ihr zu widersetzen. Eine Anzahl dieser Elemente steht, gesellschaftlich und politisch aufgeklärt, den Autoritäten misstrauisch und indifferent, wenn nicht gar feindselig gegenüber. Die Regierung, die sie zum Zweck der gewaltsamen Niederwerfung einer proletarischen Erhebung, etwa einer politischen Streikbewegung, wobei die Massen sich im ganzen frei von Gewalttätigkeiten verhielten, anwenden wollte, würde ein äußerst gewagtes Spiel treiben, dessen Konsequenzen ihr verhängnisvoll sein könnten. Die städtischen Elemente überwiegen aber jetzt schon bedeutend in den Armeen der wichtigsten Kulturstaaten und das Verhältnis von städtischer und ländlicher Bevölkerung verschiebt sich immer mehr zugunsten der erstem, In seiner Abhandlung über den politischen Streik gibt Kautsky einige Zahlen an, die das Überwiegen der städtischen Bevölkerung in der Armee für Deutschland darlegen. Nach den Angaben des Heeresergänzungsgeschäftes waren 1902 von je 100 Tauglichen 29,36 in der Landwirtschaft und 70,64 anderweitig beschäftigt. Es rekrutiert sich also in Deutschland noch kaum ein Drittel der Armee aus der rückständigen agrarischen Bevölkerung. Zwar ist das Verhältnis zwischen dieser und der städtischen Bevölkerung nicht für die ganze Armee dasselbe, wie folgende Zahlen erweisen. Es waren bei den verschiedenen Truppenkörpern:
Es stehen also dem Staat noch Gebiete zur Verfügung, wo fast die Hälfte der Armee sich aus den in der Landwirtschaft Beschäftigten rekrutiert. Diese Gebiete schrumpfen aber immer mehr zusammen: in allen kapitalistischen Ländern ist die agrarische Bevölkerung relativ, das heißt im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung, in einigen auch absolut, im Rückgang begriffen. Dieser Prozess vollzieht sich ziemlich schnell. In Holland, wo die kapitalistische Entwicklung schwach ist und durch viele Umstände gehemmt wird, betrug die in der Landwirtschaft beschäftigte Bevölkerung 1899 nicht ganz mehr 30 Prozent der Gesamtbevölkerung, gegen 35 Prozent im Jahre 1889. Im ältesten Lande des Kapitalismus, in England, ist die agrarische auf ein Sechzehntel der Totalbevölkerung zusammengeschrumpft. Neben ihrer fortwährenden relativen Verminderung an Zahl ändert sich aber auch der Charakter der ländlichen Bevölkerung infolge verschiedener Umstände. Die körperliche wie geistige Abgeschlossenheit der Bewohner des flachen Landes schwindet mehr und mehr, wenn auch dieser Fortschritt mit zunehmender Abhängigkeit und zunehmender Ausbeutung des Landes von der Stadt verknüpft ist. Hieraus aber, wie aus dem in verschiedenen Formen vor sich gehenden Prozess der Kapitalisierung der Landwirtschaft überhaupt, ergibt sich wieder das stetige Vordringen des Sozialismus auf dem flachen Lande. Je mehr diese Entwicklung fortschreitet, je weniger die Regierungen imstande sein werden, Truppenkörper, die in ihrer Mehrheit aus rein landwirtschaftlichen Gegenden rekrutiert werden, gegen die städtischen Arbeiter aufzubieten, je mehr auch in solchen Gegenden ein neuer Geist sich Bahn bricht, desto schwerer dürften sie sich entschließen, die Armee gegen nicht gewalttätige Massen anzuwenden, weil sich die Folgen eines solchen Wagnisses immer unberechenbarer erweisen werden. In Belgien, wo die in der Landwirtschaft Beschäftigten nur noch 29,4 Prozent aller Tätigen ausmachen, überdies infolge des Systems der Stellvertretung die Zusammensetzung der Armee eine fast rein proletarische ist, also der Boden für eine starke antimilitärische Agitation gegeben war, erscheint diese in den Augen der herrschenden Klassen schon jetzt als in hohem Grade unzuverlässig. Sie wagen es kaum, das Heer bei Streiks, Straßenmanifestationen usw. zu Hilfe zu ziehen: es ist zu diesem Zwecke der städtische Mittelstand in eine Art Nationalgarde organisiert worden. Wie kühl und ablehnend jedoch die in die Armee Eintretenden infolge ihrer städtischen Herkunft sowie der sozialdemokratischen Agitation mehr und mehr den herrschenden Organen in ihrem Denken und Empfinden gegenüberstehen mögen, die staatliche Verwaltung besitzt wirksame Mittel, zu verhüten, dass diese rebellische Gesinnung sich in die Tat umsetzt. Diese Mittel sollen zuwege bringen, dass, wie auch die Köpfe der Soldaten denken mögen, die Flinten in der Richtung schießen, die der Kommandierende befiehlt. Wohl ist es nicht möglich, die Armee den gesellschaftlichen Einflüssen zu versperren, und wo die allgemeine politische Gesinnung der Arbeiterklasse eine revolutionäre Erhebung zu entfachen droht, wird im Militär mit Ausnahme der außer dem Volke stehenden Elemente, wie die Kolonialsöldner der europäischen Staaten und die halb-barbarischen russischen Kosaken die gleiche unzufriedene Stimmung vorkommen. Diese Stimmung wird sogar unter dem Druck des Militärdienstes in der Armee eher stärker wie schwächer sein. Der Militärverwaltung aber stehen drei Mächte zur Verfügung, das Heer, aller Unzufriedenheit zum Trotz, äußerlich zu handhaben, ganz wie es ihr beliebt: einmal die militärische Organisation, dann die militärische Disziplin, und endlich die militärische Führung. In seiner oft angeführten Abhandlung analysiert Parvus Charakter und Rolle dieser Mächte in trefflicher Weise. Ihr gemeinsamer Zweck ist „die Auflösung der Persönlichkeit des Soldaten in die Gesamtheit der Truppenabteilung, die sich instinktiv dem Kommandowort unterwirft“, mit einem Worte: der blinde Gehorsam. Für die proletarische wie für jede bisherige Revolution gilt es einen Weg zu finden, diesen Zauber des willenlosen Gehorsams zu brechen, im Soldaten den Menschen freizusetzen; zu bewirken, dass er aus dem automatischen Teil eines Räderwerks zum bewussten, verantwortlichen Teil eines organischen Ganzen werde, das seine wirkliche Gesinnung und seinen Willen betätigen kann. Wir wissen, wie diese Aufgabe, das Militär als solches zu verwirren und zu desorganisieren, das heißt das Bewusstsein des Menschen und Bürgers zu wecken, in den früheren Revolutionskämpfen der Barrikade zukam, wissen aber auch, dass sie in den proletarischen Kämpfen der Gegenwart und Zukunft diese Aufgabe nicht mehr erfüllen kann. An die Stelle des materiellen Hindernisses, das der kleinbürgerlichen Revolution als „mechanisches Bindemittel“ diente, tritt das moralische Hindernis der nicht gewalttätig vorgehenden Masse, die kein andres Bindemittel als ihr Klassenbewusstsein und ihre Organisation braucht. Die Geschichte der proletarischen Emanzipationskämpfe hat schon jetzt einige Erfahrungen zu verzeichnen, wo Soldaten sich weigerten, die Waffen gegen ihre Brüder zu gebrauchen. Es handelt sich aber in diesen Fällen meist um gewerkschaftliche Kämpfe, wo nur berufliche Sonderinteressen in Frage kommen, die die gesamte Arbeiterschaft, wie starke Sympathien sie auch in ihr hervorrufen, doch nicht dermaßen in ihren Tiefen aufwühlen, wie es bei einer politisch-sozialen Frage der Fall ist. Nur aus einer solchen gewaltigen, allgemeinen Erregung der Massen aber kann der politisch-revolutionäre Streik hervorgehen. Zudem hat er den Sturz des bürgerlichen und die Einführung eines proletarischen Regiments zum Ziel, sichert also den Soldaten, die sich dem Streik anschließen, im Falle des Sieges Straflosigkeit zu. Es ist schon vorher ausgeführt worden, in wie hohem Masse der im Großen und Ganzen nicht gewalttätige Charakter der proletarischen Revolution die Entfaltung von Gewaltmitteln seitens der Herrschenden hindern könne. Der Streik als solcher, der ja den Mittelpunkt, die wichtigste Erscheinungsform der revolutionären Bewegung bildet, ist nicht militärisch greifbar. Zwar schließt dieser im Allgemeinen nicht gewaltsame Charakter vereinzelte Zusammenstöße sowie die Anwendung von Gewalt seitens des Proletariats nicht aus, wo diese sich zum guten Fortgang der Bewegung, zur weiteren Desorganisation des Staates nötig erweisen. Es gibt in dieser Hinsicht einen wichtigen Unterschied zwischen dem ökonomischen Berufsstreik und dem politisch-revolutionären Streik, der meines Erachtens oft gar nicht genügend beachtet wird. Bei den heutigen ökonomischen Streiks hat die Arbeiterklasse durch Gewalt nur zu verlieren, im Kampfe um die Macht im Staate aber wird die Gewalt einen Faktor des Sieges bilden können. Es hieße sich eine ganz falsche Vorstellung vom proletarischen Revolutionskampfe machen, wenn man annehmen wollte, es werde in ihm alles ebenso ruhig zugehen, wie zum Beispiel beim letzten Streik im Ruhrgebiet. Im Großen und Ganzen aber ist schon deswegen der Mangel an Gewalttätigkeit ein Merkmal des proletarischen Revolutionskampfes, weil die Kämpfer, die Streikenden, unbewaffnet sind. Das Militär steht bloßen Ansammlungen von Menschen gegenüber, es hat keinen mit materiellen Mitteln kämpfenden Gegner, keine revolutionäre Armee gegen sich, aus deren Reihen ihm selbst Tod und Verderben droht. Es soll, wenn zum Angriff vorgegangen wird, auf eine unbewaffnete Menge feuern, die vielleicht durch Bitten und Zurufe auf die Anrückenden einzuwirken versucht. Kommt es aber nicht dazu – und keine Regierung wird es mit leichtem Herzen dazu kommen lassen – so wird das Militär nur zu langweiligem, ermüdendem, eintönigem Polizei- und Beaufsichtigungsdienst gebraucht. Den ganzen Tag bringt es auf der Straße zu, teilweise inmitten des Volkes, nicht in großen Truppenkörpern, wo die Disziplin ungeschwächt aufrecht erhalten werden kann und die Entfernung die Zurufe aus der Masse unverständlich macht, sondern aufgelöst in kleinste Truppenteile. Denn der Widerstand ist nicht auf bestimmte Plätze konzentriert; der Feind, die Masse, ist allgegenwärtig, und jedes öffentliche Gebäude, jeder Bahnhof, jede Fabrik muss mit peinlicher Sorgfalt bewacht werden. Je länger dieser mühsame, scheinbar zwecklose Beaufsichtigungsdienst währt, der die Truppen allen moralischen Einflüssen der friedlichen Insurrektion aussetzt, desto mehr erschlafft die Wirkung der militärischen Organisation und Disziplin. Diese können wohl, bei einem unerwarteten Konflikt, die Soldaten zu schonungslosem Vorgehen auch gegen Unbewaffnete und Wehrlose treiben, auf die Dauer aber widerstehen sie den menschlichen Empfindungen der Ermüdung, des moralischen Widerwillens, der Zusammengehörigkeit mit dem Volke wohl schwerlich. So erweist sich der politische Streik als vorzüglich geeignet, die Macht des blinden Gehorsams zu brechen, und damit die letzte Stütze zu untergraben, die der sinkenden bürgerlichen Herrschaft noch zu Gebote steht: die Militärgewalt. Der politische Streik ist gleichzeitig Verweigerung der gesellschaftlich-ökonomischen Funktion und Kampf gegen die staatlichen Gewaltmittel und zwar in der neuen Form, in die die modernen Verhältnisse diesen Kampf umgewandelt haben: zu einem Ringen, worin nicht die grob-materiellen Mittel, sondern die moralischen Vorzüge der höheren, auf Freiwilligkeit beruhenden Organisation entscheiden. Der politische Massenstreik wird die Zusammenfassung der verschiedenen Kampfmittel der Vergangenheit und deren Ablösung durch eine Methode, die der Grundtatsache der modernen Gesellschaft: der kapitalistischen Ausbeutung und dem Wesen des Proletariats als organisierter Klasse entspricht. ★ ★ ★ Aus der Prüfung des politischen Massenstreiks, seiner Tatsachen, der Voraussetzungen seines Sieges, sowie der Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit seiner Anwendungen im Klassenkampfe ergibt sich von selbst die Stellung, die der Sozialdemokratie ihm gegenüber zufällt. Sie hat keinen Grund, eine Waffe zu verwerfen, die der Arbeiterschaft ihrem Ziele der Eroberung der politischen Macht als Hebel zur Umgestaltung der kapitalistischen in eine sozialistische Gesellschaft näher bringen kann. Sie sieht im politischen Massenstreik keinen Gegensatz, sondern eine Ergänzung ihrer bisherigen Mittel und Methoden, eine Ergänzung, die der Arbeiterklasse im Verlauf und als Folge der sozialen Entwicklung ihr eigenes Wachstum an Kraft und Selbstbewusstsein einbegriffen als geschichtliches Produkt des Klassenkampf es auf gedrängt wird. Vor allem trennt kein Widerspruch den politischen Massenstreik vom Parlamentarismus. Der Parlamentarismus bleibt ein äußerst geeignetes, vielleicht unentbehrliches Mittel, die Massen über den kulturwidrigen Charakter des modernen Staates aufzuklären, sie aus dumpfer Teilnahmslosigkeit zu erwecken und dem proletarischen Emanzipationskampfe zuzuführen, den bürgerlichen Parteien Reformen abzuringen, sie vorwärts zu treiben und die Differenzen auszunutzen. Er bleibt das einzige Mittel, das gesamte Proletariat unausgesetzt und unaufhaltsam gegen die gesamte herrschende Klasse zu organisieren und ins Feld zu führen. Der politische Massenstreik, der eine nur selten, in bestimmten geschichtlichen Situationen anwendbare Waffe ist, kann den Parlamentarismus nie ganz oder teilweise überflüssig machen. Er kann ihn keineswegs ersetzen, wie dies jetzt von der äußersten Linken der französischen und italienischen Partei, wohl als Reaktion des parlamentarischen Illusionismus der letzten Jahre, gepredigt wird. Wohl aber wird er wahrscheinlich als ein Mittel in Betracht kommen, die parlamentarische Aktion des Proletariats erst möglich zu machen, zu erhalten und zu erweitern. Zwar zeigte uns eine eingehende Untersuchung, dass dies nur in bestimmten Phasen des proletarischen Emanzipationskampfes und unter bestimmten Vorbedingungen der Fall sein könnte. Werden diese Vorbedingungen auch voraussichtlich nicht überall eintreffen – denn die heutige gesellschaftliche Entwicklung geht nicht schablonenmäßig vor sich, sondern gestaltet sich verschiedenartig, je nach dem Ergebnis früherer Ereignisse und Kämpfe –‚ so wird sich doch wahrscheinlich in einer Anzahl Länder der politische Massenstreik als ein brauchbares Mittel erweisen, als ein Mittel, das durch ähnlichen, aber stärkeren Druck wie die Volksversammlung und die Straßendemonstration, die Herrschenden bewegt, in Angelegenheiten, die direkt das Wesen der Klassenherrschaft berühren, nachzugeben in der Überlegung, dass eine allzu schroffe Haltung ihren Interessen weit mehr zuwiderläuft, als ein teilweises Entgegenkommen. Daneben aber hat die Sozialdemokratie den politischen Massenstreik noch für seine anderen, viel gewaltigeren Aufgaben und Ziele zu erfassen und zu beleuchten, nämlich als Form der proletarischen, das heißt sozialen, Revolution. Die Sozialdemokratie hat das Recht auf Revolution niemals aufgegeben, sie hat sich immer offen zu der insurrektionellen Idee bekannt, falls die herrschenden Klassen der Arbeiterschaft unmöglich machen würden, das gesteckte Ziel auf gesetzlichem und friedlichem Wege zu erreichen. Aber sie hat die soziale Revolution nur wie ein „Traum und Hoffen“ erfassen können, solange der proletarische Klassenkampf bloß auf Macht, auf etwas Macht, nicht auf die Macht gerichtet war, weil das Proletariat richtig erkannte, dass es dazu noch zu schwach sei. Wohl hat die Sozialdemokratie mit Marx erkannt, dass die soziale Revolution ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit, sondern nur aus der Zukunft schöpfen könne:2 sie hat aber von dem Inhalt dieser Poesie lange Zeit hindurch nichts Positives gewusst. Aus der Wirklichkeit des proletarischen Lebens, aus dem Vollgefühl der Macht, die der Arbeiterschaft als Trägerin der Produktion innewohnt, aus der wachsenden Fähigkeit, diese Machtfülle mittels seiner Organisation, Disziplin, Einsicht und Begeisterung auch anzuwenden, zu realisieren – aus dieser Gesinnung, die auf zunehmende Reaktion bei den herrschenden Klassen in den Ländern der entwickelten Gegensätze stößt – geht die Idee des politischen Massenstreiks als Form der proletarischen Revolution hervor. Solange die revolutionäre Idee keine deutlichen Formen annahm, blieb sie, wenn sie auch nie erlosch, in den Regionen einer nebelhaften Ungewissheit. einer unsicheren Möglichkeit gebannt. Sie blieb Gedanke und gewann nicht die lebendige Kraft der Vorstellung. Erst während des letzten Jahres hat die revolutionäre Praxis die russische Revolution dem Gedanken das Nebelhafte abgestreift. Die neue, spezifische Form der proletarischen Revolution gefunden, gewissermaßen erfunden zu haben, deren Titanengestalt Tag für Tag in tapferem Ringen, in immer erneuten Bemühungen hervortreten zu lassen, ist einer der unermesslichen Dienste, die das russische Proletariat der internationalen Arbeiterschaft erweist. So trägt heute die Propagierung des politischen Massenstreiks für das Proletariat nicht mehr etwas Zukünftiges in dem Sinne von etwas Nebelhaftem und Fernem. Es handelt sich jetzt nicht mehr darum, dem Proletariat in der Plage des Tageskampfes durch Hinweis auf den politischen Massenstreik „Traum und Hoffen“ zu geben, eine Fata Morgana zu zeigen. Die Propagierung des Massenstreiks ist zu einer Verbindung von Gegenwart und Zukunft geworden, zu einem Erhellen und Erkennen der Wege, die, – rau und hart und voller Gefahren –‚ den Traum zur Wirklichkeit machen und dem Hoffen Erfüllung bringen können, Können, nicht müssen. Denn die Form der Revolution, wenn das eherne Wirken der Geschichte sie auferlegt, bekennen, bedeutet für die Sozialdemokratie keineswegs, auf die Revolution schwören, sie vor dem friedlichen Weg bevorzugen, oder gar mit ihr drohen. Die Auffassung der Organisierungs- und Hebungsarbeit des alltäglichen politisch-parlamentarischen Kampfes also bedeutet nur eine unter den Aufgaben der Sozialdemokratie, sowie die Praxis der täglichen gewerkschaftlichen Arbeit zur Besserung der Arbeitsbedingungen nicht alle Aufgaben der Gewerkschaften erschöpft. Die Aufklärung und Aufrüttelung der Massen zum revolutionären Bewusstsein, zur Einsicht, dass nur sie selbst wichtige politische und soziale Umwandlungen durchführen können, die Verbreitung der sozialistischen Grundgedanken und Ideale in den Massen, diese zweite Hauptaufgabe der Sozialdemokratie bildet zugleich die andre Seite der Vorbereitung des politisch-revolutionären Massenstreiks, das heißt die Vorbereitung der Arbeiterschaft für große geschichtliche Momente, für folgenschwere Wendungen. In solchen Momenten aber wird die Sozialdemokratie in desto höherem Masse den aktiven Plan und die bewusste Leitung des Kampfes in den Händen haben, je mehr die breiten Volksmassen gelernt haben, sie als ihre natürliche Führerin bei allen wichtigen politischen und sozialen Ereignissen zu betrachten, je entschlossener sie sich zeigt, die historisch gegebene Situation tatkräftig dazu auszunutzen, die Arbeiterklasse furchtlos und entschlossen durch alle Wirkungen des Kampfes hindurch zum Siege zu führen. A Diese ist bis jetzt (Oktober 1905) immer noch nicht gefallen. Ein Gesetzentwurf, der Streiks, welche „die Sicherheit des Staates gefährden“, strafbar stellen wollte, ist von der Kammer verworfen worden, Die eben beendeten Wahlen haben die Sozialdemokraten und Linksradikalen sehr gestärkt und die Aussichten des allgemeinen Wahlrechts gebessert. B Diese Strafe wurde in der geänderten Vorlage auf 4 Jahre reduziert. C Neuerdings ist, nach dem Sturz des Ministeriums Kuyper, ein erfreulicher Umschlag eingetreten. D Oda Olberg: Der italienische Generalstreik. Neue Zeit, Jahrgang XXIII, Band I, Nr. 1. Unsere Darstellung des Streiks stützt sich hauptsächlich auf diesen vortrefflichen Bericht. E Siehe auch: La Grève générale et la politique ouvrière, Enrico Leone, Mouvement Socialiste vom 1. Nov. 1904. F Siehe: B. Kritschewsky, Le prolétariat et la Révolution en Russie. Mouvement Socialiste, 1. Februar 1905. G Die Korrektur dieser Blätter fällt in die Tage, wo dieser Moskausche Generalstreik zu einem erneuten, gewaltigen, alle früheren weit überragenden, das ganze Land mitreißenden Ansturm ausgewachsen ist, dem es gelingen wird, die Burg des Absolutismus zu bezwingen, nachdem die früheren Stürme ihre Vorwerke eroberten und ihre Fundamente erschütterten. H Der Streik im polnischen Schulwesen geht seinem Ende entgegen; sein Ziel, die Einführung der polnischen Sprache im Unterricht, ist erreicht worden. Der Universitätsstreik in Russland erreichte gleichsam sein Ziel in der Gewährung der Autonomie der Universitäten, die diese in den entscheidenden Oktobertagen zu einer Stütze und einem Hort der Revolutionäre macht. I Zwar ist es der Regierung diesmal noch gelungen, durch wirtschaftliche Zugeständnisse des Eisenbahnerstreiks Herr zu werden. Es soll aber in diesen Ausführungen nicht bloß das wirklich Geschehene, sondern darüber hinaus die Wirkungen dargestellt werden, die sie in Verbindung mit der revolutionären Lage überhaupt haben können und zweifellos auch haben werden, sobald das russische Proletariat zum erneuten Ansturm auf den Absolutismus all seine Kraft zusammenrafft. Diese im März ausgesprochenen Hoffnungen haben sich inzwischen (Ende Oktober) voll und ganz erfüllt. J Die erste Epoche der russischen Revolution. Von L. Martow. Neue Zeit, Jahrgang 24. Band 1, Nr. 1-2. K Ausgenommen im Fall, dass auch das nichtsozialistische Proletariat und das Kleinbürgertum den Streik unterstützen und ein Teil der Bourgeoisie die Regierung im Stiche ließe. In diesem Falle ist aber der Streik unnötig. (Mouvement Socialiste, S. 248.) L Die Erfahrung des holländischen Streikversuchs vom April 1903 stimmt vollkommen mit dieser Anschauung überein. Die holländische Regierung schritt nicht einmal zur Aufhebung des Versammlungsrechts usw. weil der Streik sich gleich vom Anfang an als misslungen darstellte. M Wo im Folgenden von den Voraussetzungen des politischen Massenstreiks die Rede ist, da sind immer nicht die zu seinem Versuch, sondern zu seinem Gelingen erforderlichen Bedingungen gemeint. N Es ist ein Hauptfehler der jüngst in der Bibliothèque Socialiste erschienenen Broschüre des Genossen E. Buisson über den Generalstreik, dass er zwar die Zahl der im Groß-, Mittel und Kleinbetrieb beschäftigten Personen, nicht aber deren Verteilung auf die verschiedenen Produktionszweige und ebenso wenig die unvergleichlich viel größere Leistungsfähigkeit des Großbetriebs untersucht. Die im Groß- und im Kleinbetrieb beschäftigten Personen werden bei ihm einfach als Produktionskräfte einander gleichgestellt. Bei dieser Methode gelangt Genosse Buisson natürlich zu einem Schlusse, dem meinen diametral entgegengesetzt. nämlich, dass wenn auch die Produktion im Großbetrieb vollständig lahm gelegt würde, die Arbeiter der Klein- und Alleinbetriebe imstande wären, die Produktion auf gewisse Zeit notdürftig aufrecht zu erhalten. O Das hier von den Eisenbahnen Gesagte gilt nur für Europa, nicht zum Beispiel für Nordamerika, wo das Eisenbahnkapital noch eine ganz andre wichtige politische Rolle spielt. P Siehe hierüber auch: Rosa Luxemburg: Und zum dritten Male das Belgische Experiment, Neue Zeit, Jahrgang XX, Bd. II, S. 208 usw. Die Verfasserin beruft sich hier, als interessantes Exempel, auf einen lokalen politischen Generalstreik zu Carmaux. Q Filippo Turati: Lehren und Folgen des Generalstreiks in Italien. Sozialistische Monatshefte 1904, Bd. II, Heft 2. S Die jüngsten Ereignisse in Russland zeigen, wie auch unter Verhältnissen, die außerordentlich geeignet sind, das revolutionäre Empfinden der Intelligenz zu schärfen, geringe Konzessionen genügen, um den sozial höher stehenden Teil der Bevölkerung zu veranlassen, den revolutionären Kampf im Stich zu lassen. Die russischen Professoren haben bekanntlich, als die Regierung den Hochschulen eine teilweise „Autonomie“ gewährte – eine solche nämlich, die bloß die Professoren selbst gegen Eingriffe der Polizei sicherstellte und sonst alles beim alten ließ – sich beeilt, die auch von ihnen erhobenen allgemein-politischen Forderungen zu vergessen und sich bereit erklärt, den Unterricht wieder aufzunehmen. Die Studenten dagegen haben sich, als sie erklärten, die Universität bis zur Gewährung der politischen Freiheit als eine revolutionäre Tribüne, eine Stätte der Propaganda und Agitation zu betrachten, ihrer ruhmreichen Vergangenheit würdig gezeigt. T Enquete des Mouvement Socialiste, S. 229 usw. U Der Ausbruch des politischen Massenstreiks als spontane Arbeiterrevolte gegen „Verfolgungen der Polizei, die das Streikrecht illusorisch machen,“ ist für Italien unterdessen eingetroffen. Es hat aber nicht den Anschein, dass die italienischen Arbeiter den Streik als „Taktik der Verzweiflung“ betrachtet und empfunden haben. V Ed. David, Die Eroberung der politischen Macht, Sozialistische Monatshefte 1904, I. Bd., 3. Heft, S. 206. W Mit der Anschauungsweise der oben zitierten Schriften stimmten die Ausführungen des Genossen Bömelburg in seinem Referat über den Generalstreik auf dem Kölner Gewerkschaftskongress vollständig überein. „Man fragt, was wir anfangen sollten, wenn wir kein Wahlrecht mehr hätten. Wir werden dann im Kampfe die Mittel anwenden, die wir als zeitgemäß betrachten. Und wenn uns die Reaktionäre trotzdem das Wahlrecht nehmen, glauben Sie, dass wir dann am Ende unseres Lateins sind? (vielfache Zurufe: Nein, noch lange nicht!) Und wenn man uns auch noch das Koalitionsrecht nähme, glauben Sie, wir wären dann am Ende unseres Lateins? (Erneute Zurufe.) Heute hat das Gefühl in der Arbeiterschaft Wurzel gefasst, dass wir ungerecht behandelt werden. Wir wissen, was wir für Menschenrechte haben, und keine Reaktion wird imstande sein, diesen Gedanken in der Bevölkerung auszurotten. Wenn wir die Organisationen stärken und ihre Mitglieder zu klassenbewussten, überzeugungstreuen Genossen erziehen, können wir mit ruhigem Mute der Zukunft entgegensehen. Dann wird, wenn es einst heißt: kämpfen, die Arbeiterschaft am Platze sein, sie wird Siegen und das Ziel erreichen, das sie sich gestellt hat.“ Der Redner fand lebhaften Beifall. Die David und Kolb haben Schule gemacht! Nur schade, dass Genosse Bömelburg dem Kongress nicht verriet, auf welche „zeitgemäße Mittel“ er sich, soll vom politischen Streik nicht die Rede sein, bei Verlust der politischen Rechte verlässt, um den Kampf weiter zu führen. X Man lese über diesen Punkt die Ausführungen von Parvus in seiner vortrefflichen Artikelserie: „Staatsstreich und politischer Massenstreik“, Neue Zeit, Jahrgang 19, Bd. II. 1 Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 22, S. 509-527, hier 519f., 521. Im Original statt dem Anfang: „Ein wirklicher Sieg des Aufstandes über das Militär im Straßenkampf, ein Sieg wie zwischen zwei Armeen, gehörte zu den größten Seltenheiten. Darauf hatten die Insurgenten es auch ebenso selten angelegt. Es handelte sich für sie nur darum, die Truppen mürbe zu machen durch moralische Einflüsse, die beim Kampfe zwischen den Armeen zweier kriegführender Länder gar nicht oder doch in weit geringerem Grade ins Spiel kommen.“ * Der Terrorismus, der Gewaltakt des einzelnen (wenn auch auf Beschluss der Organisation) gegen einzelne, braucht hier nicht erörtert zu werden, weil er von den Sozialrevolutionären ausdrücklich als ein nur unter den jetzigen russischen Verhältnissen in Frage kommendes Mittel betrachtet wird. 2 “Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat.” (Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte) |