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Karl Kautsky 19051026 Die Freiheit der Meinungsäußerung

Karl Kautsky: Die Freiheit der Meinungsäußerung

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 24.1905-1906, 1. Band.(1905-1906), Heft 5 (26. Oktober 1905), S. 152-155]

Eine Fraktion der Redakteure des „Vorwärts" hat durch einige Erklärungen einen Konflikt an die Öffentlichkeit gebracht, der zwischen ihnen und den über der Redaktion stehenden Parteiinstanzen ausgebrochen ist. Diese Instanzen haben zur Stunde, da dieser Artikel in die Druckerei wandert, darauf noch nicht geantwortet. und es wäre daher verfrüht, auf die Besonderheiten des vorliegenden Falles einzugehen, zu untersuchen, ob das Vorgehen der beteiligten Instanzen wirklich der Organisation und der Praxis der Partei widerspricht; ob, wenn dies der Fall, nicht der Grund teils in dem eigenartigen Charakter des „Vorwärts" liegt, der zum Unterschied von der übrigen Parteipresse nicht eine, sondern zwei Instanzen über sich hat, teils in der Eigenart der besonderen Aufgabe, die hier zu lösen war, einen Gegensatz hinweg zu räumen zwischen zwei Fraktionen innerhalb der Redaktion, der jede gedeihliche Arbeit, wenn nicht verhinderte, so doch sehr erschwerte.

Aber ist es auch unmöglich, alles das fruchtbringend zu erörtern, ehe die beteiligten Instanzen gesprochen, so kann doch jetzt schon eine prinzipielle Frage untersucht werden, die der Konflikt im „Vorwärts" wieder ausgeworfen hat, die Frage, worin die „Freiheit und Unabhängigkeit der Presse" besteht, welche, wie eine Erklärung der beteiligten Redakteure des „Vorwärts" sagt, „bisher der schönste Stolz der Partei gewesen und allein den Redakteuren das moralische Recht gab, die Würdelosigkeit und Abhängigkeit des kapitalistischen Pressbetriebs zu geißeln".

Mit anderen Worten: Welches ist das Recht auf freie Meinungsäußerung, das den Redakteuren der Parteipresse zusteht?

Selbstverständlich haben sie dasselbe Recht wie jeder andere Parteigenosse, bei jeder Gelegenheit, die sich ihnen bietet, als Privatpersonen das Wort zu ergreifen und aus ihrem Herzen keine Mördergrube zu machen.

Aber die Partei kann auf die Dauer nicht existieren, ohne bestimmte Personen zu ihren Wortführern zu erheben, sie damit zu beauftragen, in ihrem Namen von hervorragenden Tribünen aus, zum Beispiel der einer parlamentarischen Körperschaft oder der Presse, zu der Gesamtheit der Bevölkerung zu reden.

Legt diese hervorragende Stellung, die eine Reihe von Vorrechten mit sich bringt, nicht auch entsprechende Pflichten auf? Sie gibt das Recht, weit öfter und eindringlicher und mit mehr Autorität zu den Parteigenossen und zum Volke im Allgemeinen zu reden, als sonst ein Mitglied der Partei vermag, also auch weit mehr Einfluss zu üben; sie gibt dem mit dieser Stellung Bekleideten die Möglichkeit, der Partei weit mehr zu nützen, aber auch weit mehr zu schaden, als jedem anderen Genossen möglich ist. Sollte die Partei eine solche Stellung bedingungslos geben, sollten den höheren Rechten nicht auch höhere Pflichten entsprechen?

Es war bisher das Verderben jeder demokratischen Organisation, die heftige Kämpfe gegen ihre Gegner durchzumachen hatte, sei diese Organisation nun eine Partei oder ein Staat gewesen, dass ihre Wortführer und Vorkämpfer die Möglichkeit erhielten, die hervorragende Stellung dazu zu benutzen, sich von der Organisation unabhängig zu machen und über sie zu erheben, deren Beauftragte sie waren. Das gelang um so leichter, je größer einerseits die geistigen Unterschiede zwischen den Beauftragten und ihren Mandatgebern, je unselbständiger diese wenigstens ans dem entscheidenden Gebiet, zum Beispiel der Politik, waren; und andererseits, je loser die Organisation, je geringer die Disziplin, der die Beauftragten unterworfen wurden.

Das erstere ist einer der Gründe, warum so viele bäuerliche Demokratien ihre Freiheit nicht zu wahren wussten und zusehen mussten, wie aus den Beamten und Dienern immer mehr Herren der Demokratie wurden. Das letztere trägt die Hauptschuld daran, warum Journalisten und Parlamentarier heute so häufig dahin kommen, die unorganisierte Masse der Leser oder Wähler zu gängeln und zu beherrschen.

In der Sozialdemokratie mit ihrer straffen demokratischen Organisation ist es bisher der Masse der Genossen gelungen, diese Gefahr von der Partei fernzuhalten. Journalisten und Parlamentarier hatten als solche stets nur im Auftrag der Partei zu reden, hatten daher als solche nicht das Recht auf beliebige Meinungsäußerung. Dieses Recht blieb ihnen völlig unbeschränkt dort, wo sie als einfache Parteigenossen sprachen; sie hatten es nicht dort, wo ihr höheres Recht auch höhere Pflichten mit sich brachte.

Bei Parlamentariern und Journalisten äußert sich das aber in verschiedener Weise. Weder von den einen noch von den anderen wird man verlangen, dass sie jemals wider ihre Überzeugung reden, dass sie etwas verteidigen, was sie für falsch halten, und etwas ablehnen, was ihnen als richtig erscheint. Diese Unwürdigkeit ist in der Partei noch niemand zugemutet worden. Sie müsste in unseren Vorkämpfern den besten Teil ihrer Kraft, ihre Begeisterung für ihre Überzeugung, völlig lähmen.

Wohl aber kann eine Parlamentsfraktion von einem Abgeordneten verlangen, dass er im Parlament schweigt, wenn er die Anschauungen der Fraktionsmehrheit nicht teilt, dass er seine erhöhte Position nicht dazu benützt, gegen seine eigene Partei zu sprechen. Wo er als einfacher Genosse spricht, nicht als Abgeordneter, bleibt ihm dies Recht zur freiesten Kritik unbenommen.

Wie steht es aber mit dem Journalisten? Wenn er schweigt, ist er völlig unnütz. Er ist in seinem Amte nicht einer unter vielen, von denen jeder nur selten zum Reden kommt, so dass jeder nur dann zu reden braucht, wenn er die Anschauungen der Mehrheit teilt. Der Journalist muss in seinem Blatte tagaus tagein reden über die verschiedensten Themata, deren Auswahl ihm keineswegs frei steht. Wie nun, wenn seine Anschauungen von denen seiner Auftraggeber abweichen, erheblich, dauernd abweichen? Er spricht doch nicht in seinem Namen – als solcher kann und muss er völlig frei reden – er spricht im Namen der Partei oder doch einer ihrer Organisationen. Hat er ein Recht darauf, im Namen der Organisation, mit Benutzung der Hilfsmittel der Organisation gegen diese selbe Organisation zu wirken? Diese Auffassung des Rechts auf freie Meinungsäußerung würde den Journalisten zum selbständigen Herrn der Hilfsmittel der Organisation machen, als deren Diener er eingesetzt wurden Da man ihm aber, namentlich in wichtigen Dingen, nicht ein Schweigegebot auferlegen kaum so bleibt nichts anderes übrig, als der Organisation das Recht zuzusprechen, den Journalisten zu entfernen, wenn er eine Anschauung vertritt oder in einer Weise vertritt, die im Gegensatz steht zu den Überzeugungen der Organisation. Damit wird ihm nicht das Recht genommen, seine Meinung in der Partei ebenso frei zu äußern wie jeder andere Genosse, es wird ihm nur das Vorrecht genommen, seine Meinungen als die der Partei an hervorragender Stelle mit den Mitteln der Partei zu verkünden.

Man hat dem entgegengehalten, dass damit die sozialdemokratischen Redakteure ebenso zu Tintenkulis würden wie die der kapitalistischen Presse. Aber da ist denn doch ein Unterschied. Das Entwürdigende in der kapitalistischen Presse ist die Zumutung an ihre Journalisten, ihre Haltung den wechselnden Bedürfnissen des kapitalistischen Geschäftes anzupassen. Dagegen erkennen wir auch jedem bürgerlichen Parteiorgan das Recht zu, seine Redakteure nach ihrer Gesinnung auszusuchen. Wir werden nie von Herrn Eugen Richter oder Pfarrer Naumann verlangen, dass sie etwa sozialdemokratische Redakteure in ihre Blätter aufnehmen und sozialdemokratisch schreiben lassen.

Man hat auch den Vergleich mit bürgerlichen Unternehmern gezogen, die Arbeiter wegen ihrer Gesinnung maßregeln. Das bekämpfen wir sicher aufs Lebhafteste. Aber wenn man schon eine Zeitung, die von vornherein der Verfechtung bestimmter Überzeugungen dient, mit einem Geschäft vergleichen will, das nur für die Profiterzeugung bestimmt ist, so hapert der Vergleich doch auch insofern, als wir es dem Unternehmer verargen, dass er seine Arbeiter wegen eines Umstandes entlässt, der mit ihrer Arbeitsleistung gar nichts zu tun hat. Dagegen werden wir nie einen Unternehmer deshalb angreifen, weil er einen Arbeiter entlässt, der seine Arbeit nicht in gehöriger Weise besorgt. Wenn ein Zuschneider angenommen wird, um Arbeiterblusen zuzuschneiden, und er das Recht in Anspruch nimmt, ihnen die Form von Salonröcken zu geben; wenn ein Schriftsetzer beauftragt wird, ein Werk in Frakturschrift zu setzen, und er seiner heiligen Überzeugung gemäß es in Antiqua setzt, so würden wir solche Freiheiten der Meinungsäußerung nie verteidigen. Sie wären in einem genossenschaftlichen Betrieb ebenso unmöglich wie in einem kapitalistischen.

Andererseits würden wir es selbstverständlich für höchst ungehörig finden, wenn ein Redakteur gemaßregelt würde wegen Handlungen oder Anschauungen, die er außerhalb seiner Berufsarbeit zutage fördert, etwa weil er mit seiner Frau nicht gesetzlich getraut ist oder seine Kinder nicht taufen lässt usw.

Aber das Recht, den Journalisten zu entlassen, wenn seine Berufsarbeit eine solche ist, dass sie den Zwecken der Organisation nicht entspricht, denen er dienen soll, dieses Recht muss der Organisation verbleiben, soll sie die Gewähr haben, dass ihr Organ auch stets das ihre ist und nicht das Privatorgan einiger Journalisten. Die Handhabung dieses Rechtes mag mitunter Härten nach sich ziehen, Härten, die um so unangenehmer empfunden werden, wenn sie fleißige, fähige, gewissenhafte Arbeiter bloß ihrer besonderen Überzeugungen wegen treffen. Je mehr man diese Härten vermeiden kann, um so besser; ich möchte hier keine Katastrophentheorie predigen. Aber die Scheu vor diesen Härten darf nicht dazu führen, den Parteijournalisten ein Anrecht auf ihre Stellen zu verleihen, darf ihnen nicht ein Vorrecht ohne entsprechende höhere Pflichten geben.

Das Beispiel Frankreichs möge uns warnend vor Augen stehen, wo die „freie Meinungsäußerung" der Parlamentarier und Journalisten der Partei nahe daran war, sie zu unumschränkten Herren in ihr zu machen und die Organisation zu völliger Nichtigkeit zu verurteilen.

Nicht in der „Freiheit und Unabhängigkeit der Presse" von dem Parteiorganismus haben wir ihre Würde und ihre Überlegenheit über die kapitalistische Presse zu suchen. Sie liegt in der Würde und Überlegenheit der Sache, der wir sozialdemokratische Journalisten dienen. Nicht durch unsere Position als Zeitungsschreiber, sondern durch unsere Position als Teilnehmer am Emanzipationskampf des Proletariats erheben wir uns weit nicht nur über die kleinen Kulis, sondern auch über die „völlig freien", hochmögenden Herren Chefredakteure der kapitalistischen Presse. Fühlen wir uns stets in erster Linie als Parteigenossen, dann wird uns die Einfügung in die Parteidisziplin als Parteijournalisten nicht schwerer fallen als jedem anderen Genossen.

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