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Karl Kautsky 19060815 Das Kommunistische Manifest ein Plagiat

Karl Kautsky: Das Kommunistische Manifest ein Plagiat

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 24.1905-1906, 2. Band (1905-1906), Heft 47 (15. August 1906), S. 693-702]

Das Streben, Marx und Engels als Plagiatoren zu entlarven, ist seit einiger Zeit zu einem beliebten Sport geworden. Indem man die geheimen Quellen aufspürt, aus denen Marx und Engels ihre Leistungen entlehnt haben sollen, ohne sie zu nennen, schlägt man zwei Fliegen mit einem Schlage. Man setzt die Väter des modernem wissenschaftlichen Sozialismus und damit diesen selbst aufs Tiefste herab und verblüfft gleichzeitig die Welt durch die eigene Belesenheit, der keiner der Schmöker fremd bleibt, an denen die übrige Menschheit seit Jahrzehnten ohne Beachtung vorbeigeht.

Freilich haben sich alle diese Plagiatenschnüffler, von Anton Menger und Gustav Cohn angefangen, bisher stets den Nachweis geholt, dass das jeweilige Plagiat, das sie herausgefunden, nur ihre eigene Unwissenheit auf dem Gebiet, dem das „Plagiat" angehört, oder ihre Voreiligkeit bezeugt. Aber die Methode ist zu bequem. als dass sie nicht immer wieder versucht werden sollte.

Jetzt sind es unsere Anarchisten, die ein Büchlein verbreiten, betitelt: „Die Urheberschaft des Kommunistischen Manifests, in dem eine gleichnamige Abhandlung von Tscherkessow abgedruckt wird, ein Gutachten von Labriola darüber, und als Nachtisch noch ein Artikel von Pierre Ramus gegeben wird mit dem Titel: „Friedrich Engels als Plagiator". Auf diesen Artikel einzugehen, können wir uns ersparen. Er ist nur eine stümperhafte Variierung der Tscherkessowschen Leistung.

Eingeleitet wird das Schriftchen durch eine Vorrede desselben Herrn Ramus, in der zuerst Herr Tscherkessow dem Leser als einer der „führenden Genossen" des modernen Anarchismus vorgestellt, dann über Stimmenfang und Parlamentarismus losgezogen und endlich zu Marx und Engels übergegangen wird:

Über allem Zweifel ist es erhaben, dass das hauptsächliche Wirken dieser beiden in Plagiaten bestand, die gerade darum unverzeihlicher werden, als sie, statt wie andere Plagiatoren es zu machen pflegen, Wort für Wort das Original abzuschreiben, Ideen, Gedanken und Theorien von anderen Denkern plagiierten, jedoch dieselben Denker, deren Ideen sie sich somit dienstbar machten, entweder beschimpften oder als unwissende Hohlköpfe hinstellten. … Wie soll man über jene denken, die … als die Entdecker einer absolut neuen sozialistischen Weltanschauung sich oftmals mit der Würde von Zirkusausschreiern priesen, mit Verleumdungen, Entstellungen jeden unabhängigen, revolutionären Geist überhäuften und nun selbst dastehen als Plünderer des Gedankenreichtums eines utopistischen Sozialisten."

Unter dem letzteren ist der Fourierist Victor Considérant gemeint, der von 1808 bis 1893 lebte und 1843 eine Schrift herausgab, „Principes du Socialisme“, mit dem Untertitel „Manifeste de la democratie au XIX siècle“ die dann 1847 eine zweite Auflage erlebte.

Diese Schrift „fiel bald der Vergessenheit anheim". Woher dies kam, ist Herrn Ramus nicht ganz klar. Aber, „wie dem auch sein möge, es ist gewiss, dass Marx und Engels sich diese Vergesslichkeit, diese historische Unwissenheit, die in Deutschland fast gänzlich unbekannte Originalliteratur des sozialistischen Frankreichs zunutze machten".

Nie ist der prophetische Blick, den Marx und Engels besaßen, höher eingeschätzt worden, als hier von Herrn Ramus. 1847, als eben die zweite Auflage des Considérantschen Schriftchens erschien, wussten sie sofort, dass es bald vergessen sein werde, und beeilten sich, „diese Vergesslichkeit und historische Unwissenheit" auszubeuten und das kaum veröffentlichte, „vergessene" Werk zu plündern.

Considérant selbst aber lebte bis zum Jahre 1893, als das Kommunistische Manifest längst einen Weltruf erlangt hatte. Es gab Schüler Considérants in der Internationale, zum Beispiel Karl Bürkli, Deutsche, die die deutsche sozialistische Literatur ebenso gut kannten wie die französische, im Kommunistischen Manifest ebenso zu Hause waren wie in Considérants Werken und die das Ansehen ihres Meisters hoch hielten. Aber sie alle, Considérant selbst inbegriffen, waren von der gleichen „Vergesslichkeit" und „historischen Unwissenheit" befallen, so dass sie keine Ahnung von dem Marx-Engelsschen Plagiat hatten. Erst mussten Considérant und dessen Freunde gestorben sein, bis Herr Tscherkessow zu entdecken vermochte, dass Marx und Engels jenen geplündert und – wie Herr Ramus hinzufügt – beschimpft hatten. Freilich hütet er sich wohl, ein Beispiel einer solchen Beschimpfung vorzubringen. Er hat diese frei erfunden, um die moralische Verderbtheit der beiden Plagiatoren klarer erkennen zu lassen.

Nun aber zu dem Beweis des Plagiats selbst. – Herr Tscherkessow setzt eine Reihe von Zitaten und dem Kommunistischen Manifest und aus Considérants Manifest nebeneinander, deren Vergleichung das Plagiat erweisen soll. Er fängt mit folgenden Stellen an:

Kommunistisches Manifest: „In den früheren Epochen der Gesellschaft finden wir fast überall eine vollständige Gliederung der Gesellschaft in verschiedene Stände, eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen."

Victor Considérant: „Die Gesellschaften des Altertums hatten als Prinzip und Gesetz die Gewalt, als die Politik den Krieg, als Ziel die Eroberung und als ökonomisches System die Sklaverei, das soll besagen: die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen in ihrer vollständigsten, unmenschlichstem barbarischsten Form … im Innern die Sklaverei und der Kastengeist: das war der Charakter der gesellschaftlichen Ordnung des Altertums."

Kommunistisches Manifest: „Im Mittelalter feudale Herren, Vasallen, Zunftbürger, Gesellen, Leibeigene und noch dazu in fast jeder dieser Klassen wieder besondere Abstufungen."

Victor Considérant: „Das Feudalsystem war die Folge der Eroberung. … Seine vorherrschende Beschäftigung war der Krieg und besonders die traditionelle und permanente Heiligsprechung der ursprünglichen Privilegien der Eroberung. Als ökonomisches System hatte es die Leibeigenschaft. einen schon weniger harten und brutalen Grad der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen."

Und so geht es weiter. Man wird es uns erlassen, die ganze Litanei abzuhaspeln, sie hat immer denselben Charakter: Man fragt sich vergeblich, wo da das Plagiat steckt, wo die „Ideen" sind, die Marx und Engels Considérant gestohlen haben sollen? Ist die Existenz der Sklaverei im Altertum, die der Leibeigenschaft im Mittelalter eine „Idee", die Considérant erfunden hatte, die Marx und Engels von ihm übernommen haben müssen? Alles, was Tscherkessow an Gemeinsamem aus beiden Manifesten vorbringt, sind Tatsachen, die zur Zeit der Entstehung dieser Manifeste schon aller Welt bekannt waren, die man in den verschiedensten Schriften der damaligen Literatur verzeichnet finden kann. Eigenartig bei Considérant ist höchstens die besondere Art und Weise, wie er diese Tatsachen vorbringt und miteinander verknüpft. Gerade darin unterscheidet er sich aber von Marx und Engels und nähert sich mehr der anderen Literatur seiner Zeit. So ist durchaus unmarxistisch, dagegen sehr gewöhnlich die Gewalttheorie, von der Considérant ausgeht, und die im Krieg und der Eroberung die Grundlage der antiken und der feudalen Gesellschaft sieht, nicht in besonderen Produktionsweisen. Mit welcher Verständnislosigkeit Herr Tscherkessow den Ausführungen des Kommunistischen Manifestes gegenübersteht, davon nur ein Beispiel. Er schreibt:

Der Klassenkampf, die ökonomischen Krisen! Diese größten Entdeckungen von Marx und Engels – wie uns die Sozialdemokraten erzählen. Wir wollen einmal untersuchen, was ihr Koran uns über diesen Gegenstand zu sagen hat.

Marx und Engels, Kommunistisches Manifest: Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie und des Handels nur die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, gegen die Eigentumsverhältnisse, welche die Lebensbedingungen der Bourgeoisie und ihrer Herrschaft sind.

Victor Considérant: Diese Idee (des revolutionären Kommunismus) erstand unter dem Einfluss der rapiden Entwicklung des Proletariats, des Pauperismus und der neuen Feudalität im Schoße einer Gesellschaft, die noch ganz vom revolutionären Geiste durchdrungen ist, und verbreitet sich seit einigen Jahren unter den Arbeitermassen (namentlich in den großen Industriezentren Frankreichs, Englands, sogar Belgiens, der Schweiz, Deutschlands. Sie verführt und erhitzt die Massen. Sie hat den ungeheuren Vorzug großer Einfachheit für sich): Weg mit dem Eigentum! Weg mit den Eigentümern! Keine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen mehr! Weg mit dem Erbrecht! Die Erde für alle! (Diese Formeln sind sehr einfach und verständlich für verhungerte und entblößte Massen' usw.).“

So die Zitate. Herr Tscherkessow zitiert Considérant nur unvollständig, es fehlen dort die hier in Klammern angeführten Stellen, so dass es bei ihm den Anschein bekommt, als verfechte Considérant selbst die Anschauungen des revolutionären Kommunismus, indes er sie nur anführt, um sie zu bekämpfen.

Tscherkessow fälscht hier direkt Considérant, um eine Ideenübereinstimmung zwischen diesem und Marx und Engels herzustellen. Aber auch das hilft nicht viel. Selbst wenn wir annähmen, das gefälschte Zitat sagte dasselbe, wie das Zitat aus dem Kommunistischen Manifest – wo liegt der Ideenraub. Wusste 1847 nicht alle Welt, dass die Empörung des Proletariats in den Industriezentren rasche Fortschritte machte und die Verbreitung kommunistischer Ideen begünstigte? war das wirklich eine Idee, die man von Considérant stehlen musste, um sie auszusprechen? Sicherlich könnte man auch hier von einem Plagiat nicht sprechen, sondern nur von der gleichen Konstatierung der gleichen, allgemein bekannten Tatsache – wenn beide Zitate dasselbe sagten.

Sie sagen aber gar nicht dasselbe. Und das ist der Humor von der Geschichte. Um zu glauben, dass beide denselben Gedanken aussprachen, muss man unter der „Empörung der Produktivkräfte", von der das Kommunistische Manifest spricht, die Empörung der Industriearbeiter verstehen. Davon ist aber in dein Zusammenhang, in dein das Zitat steht, gar keine Rede. Die Stelle lautet:

Die bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions-und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor."

Nun folgt das oben angeführte Zitat:

Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie und des Handels nur die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, gegen die Eigentumsverhältnisse, welche die Lebensbedingungen der Bourgeoisie und ihrer Herrschaft sind."

Nach diesem Satz fährt das Kommunistische Manifest fort:

Es genügt, die Handelskrisen zu nennen, welche in ihrer periodischen Wiederkehr immer drohender die Existenz der ganzen bürgerlichen Gesellschaft in Frage stellen. In den Handelskrisen wird ein großer Teil nicht nur der erzeugten Produkte, sondern der bereits geschaffenen Produktivkräfte regelmäßig vernichtet. In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Epidemie der Überproduktion."

Man sieht, die „Empörung der modernen Produktivkräfte" gegen die „Eigentumsverhältnisse", von der Marx und Engels hier sprechen, hat mit der Empörung der Proletarier gegen das bürgerliche Eigentum, von der Considérant spricht, nicht mehr gemein, als Herr Tscherkessow mit Vernunft und Anstand. Es ist geradezu idiotisch, die beiden Sätze einander gleichzustellen und den des Kommunistischen Manifestes für einen frechen Diebstahl Considérantscher Ideen zu erklären.

Herr Tscherkessow wird von den Anarchisten als eine ihrer größten wissenschaftlichen Leuchten gefeiert. Man sieht, der moderne Anarchismus ist intellektuell völlig au den Hund gekommen.

Trotzdem gibt es Parteigenossen, sehr bekannte Parteigenossen, die die Tscherkessowschen Anklagen sehr ernst nehmen – und dies allein veranlasst mich, auf diese trotz ihrer Absurdität einzugehen.

Es ist der italienische Genosse Arturo Labriola – in der Broschüre merkwürdigerweise hartnäckig E. Labriola genannt der Tscherkessows Ausführungen prüfte und für richtig anerkannte. Notabene, jener darf nicht verwechselt werden mit dem Antonio Labriola, dem vor wenigen Jahren verstorbenen großen marxistischen Denker und genauen Kenner des Kommunistischen Manifestes, der über dieses ein bemerkenswertes Buch geschrieben hat. Der andere Labriola, „der Führer des linken und radikalsten Flügels der italienischen Sozialdemokratie", wie Ramus in seiner Vorrede ihn bezeichnet, gräbt zwar etwas tiefer als Tscherkessow, befolgt nicht dessen unsinnige Methode der Zitatenvergleichung, sucht nach den fundamentalen Ideen des Kommunistischen Manifestes, kommt aber dabei zur Bekräftigung der Tscherkessowschen Behauptungen:

Alle diese Prinzipien und theoretischen Grundgedanken des Kommunistischen Manifestes … und so manches andere auch, obwohl von geringerer Bedeutung – sind im demokratischen Manifest enthalten. … Mehr als dies hat uns auch Marx nicht gesagt, kein Wort mehr!"

Als diese theoretischen Grundgedanken zitiert er eine Reihe von Stellen aus dem Considérantschen Manifest, die sich gegen den „neuen Feudalismus" wenden, der durch die Entwicklung der Industrie entstand; gegen die Missstände der bestehenden sozialen Ordnung, die aus der freien Konkurrenz entspringen, und die auf der einen Seite zur Verelendung der Massen, auf der anderen zur Konzentration der Kapitalien führen.

Sicher sind alle diese Ideen schon im Considérantschen Manifest zu finden. Aber das beweist doch noch nicht, dass Marx und Engels sie daraus abgeschrieben haben. Labriola selbst bemerkt:

Wie es scheint, war die Theorie der Vermehrung des Elends und der Kapitalkonzentration schon vor Marx allgemein angewendet worden von der sozialistischen Kritik, und der große deutsche Kommunist hat sie bloß übernommen als eine selbstverständliche Sache. Ruhig darf behauptet werden: das demokratische Manifest enthält alle späteren Grundgedanken des späteren Manifestes von Marx und Engels … es ist unmöglich, die Tatsache zu bestreiten, dass das demokratische Manifest von Victor Considérant der eigentliche Vater des Kommunistischen Manifestes ist."

Lässt sich eine liederlichere Beweisführung denken? Es scheint Labriola, als ob die Theorien der Verelendung und der Kapitalkonzentration von der sozialistischen Kritik schon vor Marx allgemein angewendet wurden. Er weiß also gar nichts Bestimmtes über den Stand dieser Kritik und über das Verhältnis des demokratischen Manifestes dazu. Trotzdem fällt er sein Urteil mit größter Entschiedenheit. Hätte er sich ein bisschen die Mühe genommen, andere Sozialisten der gleichen Zeit anzusehen, er hätte tatsächlich die beiden in Rede stehenden Ideen weit verbreitet gefunden. Alle Sozialisten jener Zeit waren mit ihnen vertraut.

So schrieb zum Beispiel Louis Blanc in seiner schon 1839 erschienenen Organisation der Arbeit:

Wer wäre blind genug, nicht zu sehen, dass unter der Herrschaft der unbeschränkten Konkurrenz der fortgesetzte Niedergang der Löhne notwendigerweise eine allgemeine Tatsache und keine Ausnahme ist?" (Deutsch von Prager, Berlin, R. L. Prager, 1899, Seite 29.)

Das äußerste Elend, die Zerstörung der Familie ist eine Folge der Konkurrenz" (Seite 63).

Unter der Herrschaft der Konkurrenz übergibt die Arbeit der Zukunft ein verlebtes, verkrüppeltes, ungesundes, halb in Verwesung übergegangenes Geschlecht. Wer wird dann für euch, ihr Reichen, im Kriege das Leben lassen? Ihr braucht doch Soldaten!" (Seite 67.)

Louis Blanc untersucht dann die mörderischen Wirkungen der Konkurrenz auf die Bourgeoisie und schließt diese Untersuchung mit den Worten:

Alles ist käuflich, und die Konkurrenz ist eingedrungen bis in das Gebiet des Gedankens.

So vernichten die Fabriken das Handwerk, die großen Handlungshäuser saugen die kleinen Gewerbetreibenden auf, der Handwerker, welcher sein eigener Herr ist, wird durch den Lohnarbeiter, der es nicht ist, ersetzt. der Betrieb durch den Pflug wird Herr des Betriebs durch den Spaten und das Feld der Armen fällt in die schändliche Hand des Wucherers; die Bankbrüche mehren sich, die Industrie wird durch die schlecht geregelte Ausdehnung des Kredits zu einem Spiel. in welchem der Gewinn niemanden, nicht einmal dem Schurken gesichert ist: kurz, jene gewaltige Unordnung, die so recht eigentlich geschaffen ist, bei allen Neid, Eifersucht. Hass zu erwecken und allmählich alle edlen Gefühle zu ertöten und alle Quellen des Glaubens, der Hingebung, der Poesie zu ersticken – das ist das hässliche und nur zu wahre Bild, das der Anwendung der freien Konkurrenz zu verdanken ist" (Seite 78).

Man steht, es ist reiner Zufall, dass Tscherkessow und Labriola gerade im Considérantschen Manifest die geheime Quelle der Ideen des Kommunistischen Manifestes sahen. Ebenso gut hätten sie diese im Buche Louis Blaues sieden können oder in dem irgend eines anderen Sozialisten jener Zeit.

Wenn Marx und Engels behauptet hätten, mit dem Kommunistischen Manifest beginne der Sozialismus des neunzehnten Jahrhunderts, dann wären sie sicher Plagiatoren. Aber nur jemand, der von den anderen Sozialisten jener Zeit bloß Considérant kennt, könnte dann behaupten, dass sie gerade diesen abgeschrieben hätten. Denn was das Kommunistische Manifest mit Considérants Manifest gemein hat, teilt es mit allen anderen zeitgenössischen Sozialisten.

Worin besteht aber die eigenartige Leistung des Kommunistischen Manifestes, wenn die sogenannte „Verelendungs"- und „Konzentrationstheorie" von den anderen Sozialisten seiner Zeit anerkannt wird, wenn sie alle ihren Sozialismus auf die ökonomischen Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise basieren?

Diese Leistung besteht einmal darin, dass jene Theorien im Manifest vertiefter erscheinen als bei einem anderen Sozialisten jener Zeit; dann aber, und. vor allem, in der Erkenntnis der Rolle des Klassenkampfs als Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung und der Anwendung dieser Erkenntnis auf den Klassenkampf des Proletariats. Davon hatten die meisten anderen Sozialisten gar keine Ahnung, und gerade jener Richtung, der Considérant angehörte, galt der Klassenkampf als höchst unsympathische Verirrung. Wohl war auch Considérant, und seinen Genossen die Tatsache des Klassenkampfs selbst bekannt, aber sie sahen nicht, wie er notwendig aus der ökonomischen Entwicklung hervorwuchs und die neue Gesellschaft vorbereitete. Sie hatten noch kein Zutrauen in das Proletariat. hielten es nicht für möglich, dass es sich selbst befreien werde. Sie appellierten an alle mildherzigen Seelen; diese sollten sich zusammentun, um das Proletariat zu erlösen. Wenn sie aus das wachsende Elend des Proletariats hinwiesen, geschah es, um das Mitleid der bürgerlichen Elemente wachzurufen. Daher interessierte sie in der Tatsache des wachsenden Elends vor allem die wachsende Verkommenheit der besitzlosen Klassen. Erst Marx und Engels sahen im wachsenden Elend auch den wachsenden Kampf gegen das Elend, sahen in ihm die steigende Empörung der Arbeiterklasse als Mittel, sich selbst zu befreien. Damit erhielt die Theorie der Verelendung eine ganz andere Gestalt. Ebenso notwendig wie das stete Streben des Kapitals, das Proletariat herabzudrücken, ist das stete Streben des Proletariats, sich zu erheben. Diese gegensätzlichen Tendenzen können die verschiedensten Formen annehmen, die verschiedensten Resultate zeitigen – hier völliges Versinken im Sumpfe, dort glänzendes Aufsteigen über alle anderen Kreise der niederen Volksklassen. Aber überall finden wir im Ganzen und Großen – nur ausnahmsweise und vorübergehend durch entgegenwirkende Tendenzen ausgeholten – das stete Wachsen der Klassengegensätze, die stete Verschärfung der Klassenkämpfe, was schließlich zu entscheidenden Kämpfen des Proletariats gegen das Kapital führen muss.

Das ist die neue, marxistische Form der allgemeinen sozialistischen Theorie der Verelendung des Proletariats. Sie ist im Kommunistischen Manifest bereits enthalten, wenngleich dort noch, den allgemeinen proletarischen Zuständen und der allgemeinen sozialistischen Anschauung der damaligen Zeit entsprechend, neben der wachsenden Empörung des Proletariats gegen das Elend sein Versinken im Elend noch stärker betont wird als in späteren Schriften von Marx und Engels.

Man sieht, wie schlau jene modernen sozialistischen Kritiker des Marxismus sind, die in der Theorie der absoluten Verelendung eines der Kennzeichen sehen, die ihn von den übrigen sozialistischen Schulen trennen.

Ebenso wie die kapitalistische Tendenz zur Verelendung spielt aber auch die zur Konzentration des Kapitals, zum Niedergang des Kleinbetriebs, eine andere Rolle bei Marx und Engels, als bei Considérant und den meisten anderen Sozialisten der vierziger Jahre. Bei diesen dient die Hervorhebung der einen wie die der anderen Tendenz wesentlich agitatorischen Zwecken. Sie soll auf das Gefühl der Besitzenden wirken. Es soll diesen gezeigt werden, wie unsicher ihre eigene Lage in der heutigen Gesellschaft: hier droht ihnen das große Kapital mit dem Untergang, dort die Empörung der verzweifelnden Volksklassen. Dem einen wie dem anderen können sie nur entgehen durch den Übergang zum Sozialismus.

Ganz anders bei Marx und Engels. Die proletarische Revolution ist ihnen nicht ein Ereignis, das zu Befürchtungen Anlass geben soll; sie ist ihre beste Hoffnung. Auf die besitzenden Klassen rechnen sie gar nicht, erwarten ebenso wenig von ihrer Furcht wie von ihrem Mitleid. Die Konzentration des Kapitals aber ist für sie wichtig, weil sie darin den Aufbau der wirtschaftlichen Elemente der neuen, vom Proletariat zu schaffenden Gesellschaft sehen. Diese Elemente können nicht aus der reinen Vernunft geschöpft, erfunden, sie müssen in den Tatsachen entdeckt, gefunden werden.

Die Konzentration des Kapitals wie die „Verelendung" der Massen sind Marx und Engels also Erscheinungen, aus denen sie die notwendigen Ziele und Mittel der sozialen Entwicklung ableiten. Als ihre Aufgabe betrachten sie es, das Proletariat zum Selbstbewusstsein, zum Bewusstsein der ihm durch die ökonomische Entwicklung gestellten Aufgaben zu bringen. Den meisten anderen Sozialisten zur Zeit des Kommunistischen Manifestes waren dagegen die Zunahme des Elends, der Niedergang des Kleinbetriebs Erscheinungen, geeignet, Furcht und Mitleid in den besitzenden Klassen zu erregen, diese dadurch dem Sozialismus günstig zu stimmen und so der proletarischen Empörung, die bloß zerstören könnte, zuvorzukommen.

Das ist der große, fundamentale Unterschied zwischen den Anschauungen des Kommunistischen Manifestes und den anderen sozialistischen Theorien jener Zeit – abgesehen vom proletarischen Gleichheitskommunismus, der sich wieder in anderer Weise vom Kommunistischen Manifest unterschied, der aber hier nicht in Betracht kommt.

Hätten Marx und Engels im Kommunistischen Manifest das Manifest Considérants plagiiert, dann müssten vor allem diese „fundamentalen Ideen" des Manifestes dort schon zu finden sein. In Wirklichkeit aber enthält es alle jene Gesichtspunkte, die den übrigen hier in Betracht gezogenen Sozialismus der vierziger Jahre vom Kommunistischen Manifest scheiden. So erklärt Considérant im § X über „Die sozialen Revolutionen", nachdem er die Theorien der Verelendung und der Konzentration der Kapitalien entwickelt:

Man täusche sich nicht: eine derartige Situation ist voll von Gefahren, wenn sie andauert und sich entfaltet. Das Volk Frankreichs lässt sich nicht so in die Enge treiben, wie die Arbeiterbevölkerung der Städte und des flachen Landes in Irland und England zuließ. … Ehe unsere arbeitenden Klassen zu jenem Grade von Widersetzlichkeit (réaction) und Hass kommen (wie die Chartisten), gibt es bei uns zehn Revolutionen.

Was wird aus der Zivilisation, den Regierungen, den oberen Klassen, wenn die industrielle Feudalität sich über ganz Europa erstreckt, und die große Losung des sozialen Krieges: arbeitend leben oder kämpfend den Tod', eines Tages die ungezählten Legionen der modernen Sklaven in Aufruhr bringt?

Nun, wenn nicht beizeiten die Weisheit der Regierungen, die intelligente und liberale Bourgeoisie und die Wissenschaft endlich sich besinnen, dann ist es sicher, dass die Bewegung, welche die europäischen Gesellschaften erschüttert, direkt in sozialen Revolutionen endigt und wir einem europäischen Bürgerkrieg (Jacquerie) entgegengehen."

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Wer sind also die wahren Konservativen, die intelligenten und weitblickenden Konservativen: sind es jene, die verlangen, dass die politischen und sozialen Machthaber sich über den Stand der Dinge unterrichten, um den Missständen abzuhelfen, um die verkannten Rechte und Interessen zu befriedigen und so der Gesellschaft eine friedliche und sichere Entwicklung zu ermöglichen? – oder jene, die, gesättigt und zufrieden mit ihrem Lose, davor zurückschrecken, das tiefe Elend des gesellschaftlichen Körpers zu erforschen, und meinen, dass man sich damit nicht zu beschäftigen brauche. Sind es nicht diese, die einen Sturm heraufziehen lassen, der alles umzuwälzen vermag?"

Und im nächsten Kapitel heißt es weiter:

Zu uns gehören die intelligenten und weitschauenden Konservativen! Zu uns die aufgeklärten Menschen der höheren und mittleren Klassen, die hochherzigen Menschen aller Klassen! Unsere Gesellschaft. die schon durch fünfzig Jahre der Revolutionen gepeinigt wird und die rasch der völligen Feudalität entgegengeht. ist in einem Stadium der Krise, die ernsthafte Studien und rasche Heilmittel verlangt. will man den Sturm beschwören!"

Eine sonderbare Art der Entwicklung des Klassenkampfes, dieser „fundamentalen Idee" des Kommunistischen Manifestes.

Im nächsten Abschnitt untersucht Considérant die zwei Lösungen des sozialen Problems: die eine ist der Kommunismus, eine Idee, „die in den großen Industriezentren Frankreichs, Englands, selbst Belgiens, der Schweiz und Deutschlands seit einigen Jahren verbreitet wird. Sie verführt und erhitzt die Massen. …

Diese Lösung, in ihrem Wesen negativ und revolutionär, ist nur eine Reaktion – beschränkt und gewalttätig, wie jede große Reaktion – gegen das soziale Vordringen und die tyrannische Herrschaft des Kapitals. Der Kommunismus würde nie entstehen unter Verhältnissen, wo Geld und Eigentum ihre legitimen Rechte genießen, aber kein ausschließliches Übergewicht besitzen."

Im nächsten Paragraphen vergleicht Considérant die Lage seiner Zeit mit der von 1789 und findet:

Wir haben eine völlige Gleichheit der beiden Situationen und der beiden Epochen: dieselbe Verachtung für die dringendsten Fragen, dieselbe Unwissenheit über die Bewegungen des Volkes und seine Bedeutung, dieselbe Verblendung. Aber zum Glück ist heute die Bourgeoisie zahlreich, und die Geister erwachen in ihr. Das Empfinden für das materielle und moralische Elend der arbeitenden Klassen und der Notwendigkeit, ihm abzuhelfen, tritt in ihr zutage; die soziale Wohltätigkeit durchdringt sie und treibt sie an, und überdies beginnen die bürgerlichen Klassen zu erkennen, dass sie selbst nicht weniger wie die Proletarier daran interessiert sind, dass Schutzwehren in der industriellen Ordnung geschaffen werden und Widerstand geleistet wird gegen die Überflutung durch die Finanzaristokratie."

Das aber wird nicht geleistet durch den Kommunismus, ein „rein negatives, revolutionäres, antisoziales, und illusorisches Mittel, dessen Doktrinen wir gelegentlich bekämpfen werden". Die einzige richtige Lösung ist die Gründung fourieristischer Genossenschaften, in denen Kapital, Arbeit und Talent harmonisch zusammenwirken.

Kapital, Arbeit und Talent sind die drei Elemente der Produktion, die drei Quellen des Reichtums, die drei Räder des industriellen Mechanismus, die drei großen ursprünglichen Mittel der gesellschaftlichen Entwicklung. Die drei Klassen, die sie vertreten, haben gemeinsame Interessen, und die Aufgabe ist die, die Maschinen für die Kapitalisten und für das Volk und nicht mehr für die Kapitalisten und gegen das Volk arbeiten zu lasten. Man spreche endlich davon, die Vereinigung der Klassen in der Einheit der Nation, die Vereinigung der Nationen in der Einheit der Menschheit zu organisieren!'"

Derselbe Gedankengang des Manifestes wird dann fortgesetzt in dem zweiten Teil desselben, der eine Kritik der verschiedenen politischen und sozialen Parteien in Frankreich enthält. Dort werden der politische Kampf, die Revolution, der Kommunismus als verderblich abgelehnt und die Befreiung der Menschheit durch friedliche Genossenschaftsgründungen und die Aussöhnung von Kapital und Arbeit gepriesen.

In der Tat, wer diese beiden Manifeste miteinander vergleicht und ein bisschen Kenntnis der damaligen sozialistischen Literatur hat, kommt sofort zur Einsicht, dass sie miteinander nur die oberflächlichsten Gedankengänge gemein haben, die allem Sozialismus eigen sind, dass sie aber in allen Punkten, die damals unter den Sozialisten diskutiert wurden, die die verschiedenen Richtungen der Sozialisten voneinander schieden, den geraden Gegensatz zueinander bilden. Viele Stellen des demokratischen Manifestes klingen geradezu wie eine Polemik gegen das Kommunistische Manifest, wenn sie auch naturgemäß eine solche nicht sein konnten, da sie ja früher geschrieben wurden, und wollte man eine Beziehung zwischen diesem und jenem herstellen, so könnte es höchstens die sein, dass das letztere eine Gegenschrift gegen das vorher verfasste demokratische Manifest bildet. Aber in Wahrheit bildet es eine Gegenschrift nicht bloß gegen dieses eine Manifest, sondern gegen die gesamte vorhergehende sozialistische Literatur, die es kritisiert, um über sie hinauszugehen und dem Sozialismus eine neue Begründung zu geben; seine festeste, der er seine glänzendste Siege zu verdanken hat, seine Begründung auf dem proletarischen Klassenkampf.

Man muss den Gedankengang des Kommunistischen Manifestes sehr oberflächlich und vulgär auffassen und von der sozialistischen Literatur seiner Zeit keine Ahnung haben, um zu dem Schlusse kommen zu können, es sei vom demokratischen Manifest Considérants abgeschrieben.

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