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Karl Kautsky 19061003 Der Parteitag von Mannheim

Karl Kautsky: Der Parteitag von Mannheim

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 25.1906-1907, 1. Band (1906-1907), Heft 1 (3. Oktober 1906), S. 4-10]

Alle Welt erwartete, der Mannheimer Kongress werde einer der erregtesten werden, die wir bisher gehabt, vielleicht ein zweites Dresden: gleich diesem erregt wegen der scharfen Gegensätze, die vor ihm schon in der Partei aufeinandergeprallt; nicht minder erregt und voll revolutionären Feuers wegen der gewaltigen Situation, in der er tagte. Zitterte in dem Dresdener Parteitag noch der herrliche Wahlsieg vom 16. Juni nach, so durfte man wohl erwarten, dass in der Tagung von Mannheim die russische Revolution ein Echo finden würde.

Wider Erwarten ist der jüngste Parteitag ein recht ruhiger geworden. Aber der würde sich irren, der da wähnte, das sei einem Mangel an Enthusiasmus, einer Ernüchterung der „Revolutionsromantik" in den Reihen des deutschen Proletariats zuzuschreiben. Es war vielmehr die Folge von Verhältnissen, die mit der Frage des revolutionären Enthusiasmus gar nichts zu tun haben.

Nehmen wir zum Beispiel den letzten großen Gegenstand der Tagesordnung, das meisterhafte Referat Haases. Wäre es am Beginn der Verhandlungen gehalten worden, es hätte eine Sturmflut der Empörung über die Klassenjustiz entfesselt und eine ausgedehnte Diskussion angeregt, die eine kraftvolle Bestätigung der Ausführungen des Referenten ergeben musste. Aber am Schlusse der Verhandlungen fehlte dem Parteitag dazu die Zeit und die Elastizität.

Wir möchten bei dieser Gelegenheit eine Anregung aufnehmen, die, wenn wir nicht irren, Genosse Hoch zuerst gegeben.. Referate der Art, wie die der Genossen Haase, Schulz, Zetkin, schon vor dem Parteitag in Druck legen zu lassen und den Genossen zugänglich zu machen. Das verständnisvolle Anhören eines derartigen Referats erfordert eine große geistige Anstrengung. Zur Gewinnung eines vollen Verständnisses genügt aber meist nicht das bloße zuhören, dazu ist ruhiges Überlegen und Studieren erforderlich. Der Referent selbst könnte in einer Broschüre sein Thema viel gründlicher behandeln, er brauchte nicht aus Rücksichten auf die Geschäftslage von der Wiedergabe einer Reihe wichtiger Argumente und Tatsachen abzusehen, wie das in der Regel geschieht. Auf dem Parteitag sollte dann auf Grund des gedruckt vorliegenden Referats die Diskussion erfolgen mit dem Schlusswort des Referenten. Dadurch gewännen der Referent und die Diskussionsredner. Der Kostenpunkt käme kaum in Betracht, denn hinterdrein wird doch in der Regel der Druck des Referats beschlossen.

Was von dem Referat Haase, gilt nicht minder von den Ausführungen der Genossen Schulz und Klara Zetkin, die dem historischen Materialismus geradezu ein ganz neues Gebiet eroberten. Der Gedankenreichtum und die großen Gesichtspunkte der Referate hätten eine höchst bedeutende Diskussion hervorrufen können, aber auch hier konnte der Kongress aus äußerlichen Rücksichten nicht zum Worte kommen.

Allerdings hätte die Diskussion in einer Beziehung einen anderen Verlauf genommen, als bei der Besprechung der modernen Klassenjustiz. Haases Ausführungen waren eines einmütigen Widerhalls sicher; die Erziehungsgrundsätze, die uns Schulz und Klara Zetkin entwickelten, wären dagegen energischem Widerstand begegnet, indes wahrscheinlich nur bei einem Manne, bei dem Genossen David.

Mit Recht hatten die Referenten als das Ziel unserer Erziehungsarbeit wie unseres Klassenkampfes die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Handarbeit und Kopfarbeit hervorgehoben. Dagegen wandte sich in verschiedenen Kundgebungen Genosse David, der vielmehr die Fortentwicklung der Arbeitsteilung zwischen Handarbeit und Kopfarbeit forderte: „Das ist's“, meinte er, „wofür eine sozialistische Gesellschaft im Interesse rationellster Verwendung ihrer menschlichen Arbeitskräfte zur Erzielung höchster Kulturleistungen zu sorgen hätte."

Der Gegensatz, der hier zutage tritt, ist kein anderer als der zwischen proletarischer und bürgerlicher Gesellschaftsanschauung. Die Davidschen Auffassungen wären daher sicher energisch zurückgewiesen worden, hätte die Möglichkeit einer Diskussion darüber bestanden. Sie wäre interessant und bedeutend geworden. Aber sie fiel dem Zeitmangel und der Ermüdung des Parteitags zum Opfer. Leider mit ihr auch die vortrefflichen Leitsätze, die dem Wohlwollen eines noch gar nicht bestehenden Ausschusses überwiesen wurden.

Anders ging es mit den Gegenständen, die in den ersten Tagen des Kongresses zur Verhandlung kamen. Wenn sie nicht leidenschaftliche Debatten entfesselten, lagen die Gründe hier woanders.

Man konnte erwarten, es werde einen lebhaften Sturm gegen Parteivorstand und Vorwärts, namentlich wegen ihrer preußischen Politik, geben. Genau derselbe Kreis, der bei dem Wechsel in der Redaktion des „Vorwärts" jene bekannten wütenden Angriffe gegen den Parteivorstand und die neue Redaktion gerichtet hatte, eröffnete in den letzten Wochen vor dem Parteitag ein wahres Kesseltreiben gegen diese beiden Körperschaften. Man durfte wohl annehmen, dass Methode darin lag, dass Revanche genommen werden sollte und dass die Haltung der beiden Körperschaften in der Bewegung um die Landtagswahlreform als der geeignetste Angriffspunkt angesehen wurde.

Aber zu unserem großen Erstaunen fanden die großen Fanfaren vor dem Parteitag nicht die entsprechende Fortsetzung auf diesem, sondern endeten mit der bescheidenen Bitte, man möge die Stampfer, Braun und Konsorten doch weniger grob behandeln, eine Bitte, die als durchaus unberechtigt zurückgewiesen wurde.

Es ist aber klar, dass eine Diskussion darüber weder Leidenschaften erregen noch große Gesichtspunkte zutage fördern konnte.

Aber auch die Diskussion über das Hauptthema des Parteitags, das Verhältnis von Partei und Gewerkschaft, wurde unter Bedingungen geführt, die weder das Erwecken von Enthusiasmus noch die Aufrollung großer Gesichtspunkte sehr begünstigten.

Die Frage, um die es sich hier handelte, ist eine Lebensfrage für das kämpfende Proletariat. Sie wird auch in den verschiedensten Ländern außerhalb Deutschlands gerade jetzt auf das Lebhafteste diskutiert, in Frankreich wie in England und Amerika: man kann im Allgemeinen sagen, in allen jenen Ländern, in denen Partei und Gewerkschaft sich bisher zu unabhängig voneinander gegenüberstanden, und überall finden wir die gleiche Tendenz nach größerer Annäherung der Gewerkschaften an die politische Partei und an stärkere Erfüllung mit dem Geiste dieser. Es ist dies eine Notwendigkeit, die der allgemeinen historischen Situation entspringt, dem zunehmenden Versagen der isolierten Gewerkschaft, der zunehmenden Bedeutung dagegen, welche die Gewerkschaft als Glied des allgemeinen sozialdemokratischen Emanzipationskampfes gewinnt. Es wächst die Zahl der Kampfesgebiete, auf denen ein Erfolg nur durch das Zusammenwirken von Partei und Gewerkschaft erreichbar ist, diese Gebiete sind aber eminent politisch, so dass die Führung auf ihnen der Partei zufallen muss.

Darin liegt durchaus keine Degradation der Gewerkschaften, im Gegenteil, ihre Wichtigkeit muss dabei steigen. Es liegt hier einer der Fälle vor, wo ein Organismus als Teil eines großen Ganzen mehr gedeiht, wichtiger wird wie als isolierter Körper. So hat Hamburg zum Beispiel als Teil des Deutschen Reiches sich gewaltiger entfaltet wie vordem als souveräner Staat.

Aber dies Näherrücken von Partei und Gewerkschaften und das Wachstum des Einflusses der Partei in der Gewerkschaft vollzieht sich nicht immer ohne Reibungen, und gerade die letzten beiden Jahre waren in Deutschland reich daran. Wir brauchen bloß an die Fragen der Maifeier, des Massenstreiks, des Vorwärtskonflikts, des Protokolls der Konferenz der Zentralvorstände, sowie an zahlreiche Polemiken der Gewerkschaftspresse gegen den Parteivorstand und einzelne Parteiorgane zu erinnern, an die Leugnung der unbedingten Verbindlichkeit der Parteitagsbeschlüsse für solche Parteigenossen, die gleichzeitig Gewerkschafter sind usw.

Gerade diese Erscheinungen waren es ja, die den diesmaligen Parteitag veranlassten, sich mit dem Verhältnis zwischen Partei und Gewerkschaft zu beschäftigen. Da erschien es einer ganzen Reihe von Genossen notwendig, dies Verhältnis genauer zu bezeichnen, als es in der Bebelschen Resolution geschah, und zu betonen, dass die Sozialdemokratie nicht eine bloße parlamentarische, den Gewerkschaften beigeordnete Körperschaft sei, sondern die Vertreterin des gesamten proletarischen Emanzipationskampfes sein solle, von dem die gewerkschaftliche Bewegung nur ein Teil. Um das anzusprechen, brachten wir unseren Zusatz zur Bebelschen Resolution ein.

Wir erwarteten, die Verfechter der gewerkschaftlichen Zentralität würden unseren Zusatz grundsätzlich bekämpfen und er werde so Gelegenheit zu einer großen, grundsätzlichen Auseinandersetzung des Verhältnisses von Partei und Gewerkschaft geben. Dazu kam es indes leider nicht. Ein Teil unserem Zusatzes fand keinen Widerstand, sondern allgemeine Zustimmung, obwohl er in die gewerkschaftliche Neutralität bereits ein bedenkliches Loch reißt. Der am schärfsten zugespitzte Teil unseres Amendements wurde aber von einer Reihe von Rednern ebenfalls nicht grundsätzlich verworfen, vielmehr als selbstverständlich bezeichnet, aber aus Zweckmäßigkeitsgründen abgelehnt.

Hätten die Gewerkschafter auf dem Parteitag die Haltung fortgesetzt, die sie in den letzten Jahren eingenommen, und hätten sie dementsprechend unser Amendement als falsch grundsätzlich bekämpft, so wäre es sicher angenommen worden, daran ließ die Stimmung des Parteitags keinen Zweifel, aber die Gewerkschafter ließen alle praktischen Streitpunkte fallen, erwähnten gar nicht den Vorwärtskonflikt, sie gaben ihre Verwahrungen gegen die unbedingte Gültigkeit der Parteitagsbeschlüsse auf und akzeptierten den Standpunkt der Partei in den Fragen der Maifeier und des Massenstreiks. Man vergleiche die Mannheimer Verhandlungen mit dem Protokoll der Konferenz der Gewerkschaftsvorstände vom Februar, und man wird finden, dass die Stimmung unter den Gewerkschaften völlig umgeschlagen hatte. An Stelle der Kampfeslust war Versöhnlichkeit und Entgegenkommen getreten. Dies nahm mitunter sehr eigenartige Formen an, wie der Antrag Legien, der feststellen wollte, dass der Kölner Beschluss und der Jenenser über den Massenstreik sich nicht widersprechen derselbe Jenenser Beschluss, den Legien ein Jahr vorher abgelehnt hatte, weil er eine Konzession an den Anarchosozialismus bilde; derselbe Jenenser Beschluss, gegen den sich Bömelburg aufgelehnt hatte, weil er eine Unterordnung der Gewerkschafter bedeute, die an den Kölner Beschluss gebunden seien.

Je mehr diese Stimmung der Gewerkschafter auf dem Kongress zutage trat, desto mehr wendete sich die Debatte über unser Amendement von der großen Frage, ob seine Grundsätze richtig seien, der geringfügigeren zu, ob es zweckmäßig sei, diese Grundsätze gerade jetzt, wo sie von den Gewerkschaftern zum Teil selbst anerkannt wurden, in einer Form auszusprechen, die von denselben Gewerkschaftern als eine kränkende empfunden werde.

Über diese Zweckmäßigkeit eine Entscheidung herbeizuführen, war nicht unsere Absicht gewesen. Je mehr der letztere Gesichtspunkt in den Vordergrund trat, und je häufiger die Redner – auch jene, die unser Amendement ablehnten – erklärten, dass es etwas Selbstverständliches sage, desto überflüssiger wurde die Abstimmung über unser Amendement, die nur ein falsches Bild der wirklichen Stimmung ergeben hätte.

Wir haben auch ohne Abstimmung unser Ziel vollständig erreicht, unsere Anschauung über das Verhältnis von Partei und Gewerkschaft in der Partei einzubürgern. Andererseits können die Gewerkschafter sich jetzt nicht mehr darüber beklagen, dass ihr Entgegenkommen zur Partei mit ihrer Demütigung beantwortet worden sei. Werden sie in dem Sinne der Erklärungen weiter arbeiten, die sie dem Parteitag abgaben, dann bedeutet dieser sicher einen gewaltigen Schritt vorwärts auf der Bahn fruchtbaren Zusammenwirkens von Partei und Gewerkschaft.

Insofern haben wir allen Grund, auf die Verhandlungen des Mannheimer Parteitags mit Befriedigung zurückzublicken. Wenn sie trotzdem einen peinlichen Nachgeschmack in uns zurückließen, so ist daran nicht die Diskussion über das Verhältnis von Partei und Gewerkschaft schuld, sondern die damit eng verknüpfte über den politischen Massenstreik.

Hier haben einzelne Redner in Mannheim ganz andere Töne angeschlagen als in Jena.

Ich möchte nicht so weit gehen wie David, der Bebels Haltung in Jena mit einer Fanfare und die in Mannheim mit einer Schamade verglich. Wenn man das Bebelsche Referat hier und dort vergleicht, wird man finden, dass sie nicht miteinander unvereinbar sind. Wenn sie trotzdem grundverschieden klingen, so ist dies zum großen Teil dem Umstand zuzuschreiben, dass sie verschiedene Aufgaben zu erfüllen hatten. In Jena galt es, der Idee des Massenstreiks zum Durchbruch zu verhelfen, der die Gewerkschafter in Köln den Krieg erklärt hatten. In Mannheim wurde die Jenenser Resolution von niemand mehr bestritten. Wohl aber war der Streit über ihre Auslegung ausgebrochen. Eine Reihe Genossen unter der Führung der ehemaligen Redaktion des „Vorwärts" hatten darin den Sieg ihrer Anschauung gesehen, als sei der Massenstreik ein Mittel, das jetzt unter allen Umständen dort anzuwenden sei, wo das Proletariat sich beeinträchtigt fühle und auf energischen Widerstand stoße. Diese Auffassung war zurückzuweisen, und sie wurde zurückgewiesen. Dabei musste aber naturgemäß der Nachdruck vor allem auf die Schwierigkeiten gelegt werden, die dem Massenstreik unter den gegenwärtigen Verhältnissen Deutschlands entgegenstehen. Ich darf daran erinnern, dass mir meine Zurückweisung dieser Auffassung vom Massenstreik den für mich sehr schmerzlichen Tadel einbrachte, ich stände auf gleichem Boden mit Wolfgang Heine.

Weist man nun diese Auffassung des Massenstreiks zurück, dann bleibt allein jene andere übrig, dass der Massenstreik bei so scharf zugespitzten Klassengegensätzen und einer so starken Regierung wie in Deutschland nur in einer Situation einen Erfolg erzielen könne, die Aussicht gebe, sich zu einer revolutionären zu gestalten.

Steht man aber auf diesem Standpunkt, dann kommt alles darauf an, ob man das Eintreten einer solchen Situation in absehbarer Zeit für möglich hält oder nicht. Hält man es für unmöglich, glaubt man, die gegenwärtige Situation sei auf lange hinaus unwandelbar, dann hat man recht, die Diskutierung und Propagierung des Massenstreiks für überflüssig, ja für einen Fehler zu halten. Die Kampfmittel, die vielleicht nach zwanzig Jahren in Betracht kommen, brauchen uns heute nicht zu kümmern.

Steht man nicht auf dem Stampfer-Eisnerschen Standpunkt und propagiert man trotzdem den Massenstreik, dann kann man dies nur tun, wenn man mit der Möglichkeit des baldigen Eintretens einer revolutionären Situation in Deutschland rechnet, für die man gewappnet sein muss.

Nur unter dieser Voraussetzung hatte die Jenenser Resolution einen Sinn, und so wurde sie auch aufgefasst. Bebels Referat in Mannheim erweckte aber die Empfindung, als bedeute es einen Schritt hinter Jena zurück, als sähe er heute für Deutschland die Möglichkeit der Anwendung des Massenstreiks in weit größerer Ferne als vor einem Jahre, als erschienen ihm die dagegen vorliegenden Schwierigkeiten für die nächste Zeit weit unüberwindlicher als damals.

Namentlich seine Ausführungen über die Haltung des deutschen Proletariats im Falle eines Krieges oder einer bewaffneten Intervention erweckten den Eindruck, als hielte Bebel gerade in solchen Lebensfragen, die zum Mindesten von gleicher Wichtigkeit sind wie das Reichstagswahlrecht oder das Koalitionsrecht, die Anwendung eines Massenstreiks für ausgeschlossen.

Nun ist es sicher, dass wir einen Militärstreik, wie ihn die französischen Antimilitaristen predigen, nicht durchführen können. Auch ein Massenstreik nach bereits ausgebrochenem Kriege wäre schwer durchführbar. Dagegen braucht man keineswegs von vornherein einen Massenstreik als aussichtslos zu verurteilen, der ausbricht, um eine Regierung daran zu hindern, einen Krieg anzuzetteln. Wenn die Regierungen Deutschlands und Frankreichs eine Politik verfolgten, die zum Kriege zwischen den beiden Ländern zu führen drohte, und das Proletariat Frankreichs zum Protest dagegen in einen Massenstreik einträte, so sind wir fest davon überzeugt, dass das Proletariat Deutschlands es ohne weiteres für seine Pflicht halten wird, die Aktion unserer französischen Brüder durch eine wuchtige Parallelaktion zu unterstützen, die sehr wohl die Wirkung haben könnte, die zum Kriege treibende Politik der Regierungen zu durchkreuzen.

Was aber die Intervention anbelangt, so ist es sicher richtig, dass sie ein Wahnsinn wäre, den wir unter den gegebenen Verhältnissen der deutschen Regierung nicht zuzutrauen brauchen. Aber die russischen Verhältnisse können sich über Nacht ändern, und wie die deutschen Regierungen ausschauen und denken werden, wenn das Zarenregime durch eine demokratische Republik ersetzt ist, dafür können wir nicht die geringste Garantie übernehmen. Es erscheint mir nicht im Mindesten ausgeschlossen, dass wir dann ein Regime bekommen, welches aus Angst vor dem Übergreifen der Revolution zu jeder Tollheit fähig ist. Dass aber das deutsche Proletariat jeden Versuch, die russische Freiheit mit deutschen Bajonetten zu meucheln, als einen Angriff auf seine eigenen Lebensinteressen auffassen und entsprechend beantworten würde, darüber braucht man wohl keinen Zweifel zu hegen.

Nun hat ja Bebel auch die Versicherung abgegeben, dass die Sozialdemokratie in jedem Falle ihre Schuldigkeit tun werde. Aber das geschah erst im Schlusswort und konnte den Eindruck der ersten Rede aus den Gang der Verhandlungen nicht verwischen.

Gewiss wäre es falsch, behaupten zu wollen, Bebel habe in Mannheim eine Schwenkung nach rechts vorgenommen. Ich betone nochmals, dass sein Mannheimer und sein Jenenser Referat sehr wohl miteinander vereinbar sind und dass nur die veränderte Situation es war, die ihn veranlasste, in Mannheim andere Gesichtspunkte stärker zu betonen als in Jena. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sein Referat in Mannheim den Eindruck erweckte, als herrsche in führenden Kreisen der Partei nicht mehr die siegreiche Zuversicht vom vorigen Jahre, und dies musste notwendigerweise dahin wirken, dass die Mannheimer Verhandlungen über den Massenstreik nicht jenen Charakter jubelnder Kampfeslust trugen wie die von Jena, dass ihr Ton ein gedämpfter war.

Das ist es, was der bürgerlichen Presse als das wichtigste Charaktermerkmal des Parteitags aufgefallen ist, und daher ihre Jubelhymne über die Sozialdemokratie, die anfange „vernünftig" zu werden – das schlimmste Urteil, das aus bürgerlichem Munde über sie gefällt werden könnte. Noch schlimmer aber wäre es, wenn auch unsere ausländischen Bruderparteien denselben Eindruck gewännen. Das könnte aus sie sehr deprimierend wirken, namentlich auf die französische und russische.

Daher erscheint es uns geboten, zu konstatieren, dass dieser Eindruck auf einer Täuschung beruht. War der Mannheimer Ton über den Massenstreik ein anderer als der Jenenser, so beruht dies aus einer Reihe äußerlicher Momente, die den Verhandlungen hier ein anderes Gepräge gaben als dort, nicht aber aus einem Wandel der Anschauungen oder auch nur der Stimmungen. Die deutsche Sozialdemokratie ist heute von dem gleichen revolutionären Feuer erfüllt, von dem gleichen Kampfesmut beseelt wie bisher. Die Stimmung des Mannheimer Parteitags war die denkbar kampflustigste, und wenn das nicht genügend zum Ausdruck kam, so liegt das nicht zum Geringsten daran, dass seit Jahren auf keinem Parteitag der Widerstand gegen das revolutionäre Empfinden so schwach war wie auf diesem. Gerade diese Ablehnung aber ist es, die am meisten zu seiner lebhaften Betonung anstachelt.

Dresden bedeutete das Ende des theoretischen Revisionismus. Aber um so größere Hoffnungen setzten unsere Gegner auf den „praktischen Revisionismus" der Gewerkschafter. Nun war die Signatur von Mannheim vor allem die eines entschiedenen Rucks der gewerkschaftlichen Welt nach links.

Wenn unsere Gegner das nicht sehen, wenn ihnen dieser Vorgang vielmehr als ein Ruck der Partei nach rechts erscheint, so können wir ihnen ruhig diesen Triumph gönnen. Er wird sehr kurzlebig sein. Die ganze historische Entwicklung arbeitet fieberhaft daran, die Klassengegensätze aufs Äußerste zu verschärfen, und diese Entwicklung drängt das Proletariat mit Naturnotwendigkeit immer weiter nach links, erfüllt es mit immer revolutionärerem Geiste. Das ist eine Entwicklung, die ganz unabhängig ist von dem Wollen und Wünschen einzelner Personen, die den einzelnen mit sich reißt. Und sie gilt für die gewerkschaftliche Bewegung nicht minder wie für die politische.

Wer aus den Verhandlungen von Mannheim das Gegenteil herauszuhören glaubte, wird bald genug seinen Irrtum inne werden.

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