Karl Kautsky‎ > ‎1906‎ > ‎

Karl Kautsky 19060509 Die Wahlen in Frankreich

Karl Kautsky: Die Wahlen in Frankreich

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 24.1905-1906, 2. Band (1905-1906), Heft 33 (9. Mai 1906), S. 209-213]

Berlin, 9. Mai.

Nach England Frankreich – und binnen wenigen Tagen werden wir wohl hinzufügen dürfen: nach Frankreich Belgien! Welch glänzender Triumphzug des Sozialismus in Westeuropa – zur Zeit der russischen Revolution, des österreichischen Wahlrechtskampfes!

Den herrlichen Wahlsieg unserer französischen Genossen als speziell französische Erscheinung zu charakterisieren, überlassen wir einem Genossen, der den Dingen in Frankreich näher steht. Aber dieser Wahlsieg ist nur ein Teil einer allgemeinen internationalen Entwicklung, und von dieser Seite sei er hier betrachtet.

Es bildete bisher eine Eigenart des Fortschritts der Sozialdemokratie in allen Ländern Europas, dass er zeitlich zusammenfiel mit einem Rückgang des Liberalismus, mit einem Anwachsen der konservativen Parteien und der Reaktion. Jetzt dagegen ist in Westeuropa diese Art des Entwicklungsganges durchbrochen. Schon vor einem Jahre brachten die Wahlen in Holland gleichzeitig den Sieg der Liberalen und den der Sozialdemokratie. Der Januar dieses Jahres sah dann in England die vernichtende Niederlage der Konservativen und als Sieger neben den Liberalen die neue Arbeiterpartei. Nun bietet uns Frankreich das gleiche Schauspiel, dass bürgerliche Radikale und Sozialisten über Konservatismus und Klerikalismus triumphieren, und unsere belgischen Genossen rechnen bereits bei den Wahlen der nächsten Tage mit dem Sturze des klerikalen Ministeriums.

Hier liegt also nicht eine besondere französische, sondern eine allgemeine Erscheinung in den Ländern des parlamentarischen Regimes vor.

Wenn auch nicht ausschließlich, so doch zum großen Teile ist sie in den Wandlungen der konservativen Partei begründet.

Der Gegensatz zwischen Liberalen und Konservativen war ursprünglich in letzter Linie der zwischen Stadt und Land, zwischen Kapitalprofit und Grundrente, zwischen dem raschen Tempo der ökonomischen Entwicklung in den Großstädten und dem relativen Stillstand des flachen Landes und der Kleinstädte. Die Hochburgen des Liberalismus, die großen Städte, waren aber auch die Brutstätten der Sozialdemokratie. Dort gewann das Proletariat zuerst das Klassenbewusstsein und die Kraft zu einer selbständigen Klassenpolitik. Blieb dem Liberalismus das flache Land mit den Kleinstädten verschlossen, so wurde er in den größeren Städten immer mehr von der Sozialdemokratie zurückgedrängt, und so schien es, dass er schließlich zwischen Konservatismus und Sozialismus zerrieben werden sollte.

Der erstere wurde zunächst durch die ökonomische Entwicklung noch weiter begünstigt. Diese wirkte dahin, in der verschiedensten Weise die Abgeschlossenheit der agrarischen Bevölkerung zu beseitigen; das bedeutete aber anfänglich ein Anwachsen der konservativen Denkweise in den Städten. Die überseeische Konkurrenz senkte die Grundrente und drängte die großen und kleinen Grundbesitzer, diesen Verlust durch erhöhte industrielle Kapitalprofite wettzumachen, die Landwirtschaft zu industrialisieren, zum Anhängsel einer rentablen Industrie zu machen, einer Zuckerfabrik, Branntweinbrennerei, Molkerei usw. Damit schwand der Gegensatz zwischen Grundrente und Kapitalprofit, die ehedem so kapitalfeindlichen Agrarier wurden nun die Schrittmacher kapitalistischer Ausbeutung.

Aus der anderen Seite zogen die Verbesserungen der Kommunikationsmittel wachsende Scharen von Landleuten sowie von Händlern und Handwerkern der kleinen Städte in die großen industriellen Zentren, wo sie als Streikbrecher, Krämer oder Kleinmeister ihre Existenz suchten und politisch zunächst an den überlieferten konservativen Anschauungen hängen blieben, denen sie nun in der Großstadt einen weiteren Boden schufen.

Endlich brachte der Aufschwung des Großkapitals einen ständigen Niedergang des Kleinbetriebs auch in den Großstädten und machte damit deren ehedem liberale Kleinbürger ebenfalls den anscheinend noch antikapitalistischen konservativen Tendenzen zugänglich.

Aus einer einheitlichen Klassenpartei wurde so die konservative Partei, welches immer ihr Name sein mochte, die Vertreterin der mannigfachsten und widersprechendsten Klasseninteressen. Das ermöglichte ihr vielfach eine rasche Ausdehnung im ganzen Lande, es beseitigte ihre agrarisch-kleinstädtische Beschränktheit, aber es verurteilte sie auch nicht bloß zur Unfruchtbarkeit, sondern sogar zu Unehrlichkeit und zu widerspruchsvollen Maßnahmen, die nichts anderes erzielen konnten, als Unbehagen, Missvergnügen oder gar Erbitterung.

In unparlamentarischen Ländern ist es den konservativen Parteien mitunter noch möglich, ihre Impotenz und ihre Missgriffe zu verschleiern und die Schuld daran der Regierung aufzuhalsen. In parlamentarischen Ländern dagegen hat jede Partei, die die Majorität besitzt, die Verantwortung für die Akte der Regierung selbst zu tragen, und es war ihre Impotenz und ihre Misswirtschaft, wodurch in England die konservative Partei so elend zu Falle gebracht wurde, die mit ungeheuren Majoritäten ein volles Jahrzehnt lang geherrscht. Gelingt es, das klerikale Regime zu stürzen, das Belgien seit zwei Jahrzehnten verwüstet, so ist dies sicher ebenfalls vor allem den erbärmlichen Leistungen dieses Regimes zuzuschreiben.

In Frankreich kam der Konservatismus in den letzten Jahrzehnten nicht zur politischen Macht, obwohl er bei den Wahlen von 1898 erhebliche Fortschritte auszuweisen hatte. Aber er besaß zeitweise die Mehrheit in vielen und großen Gemeinden, und das genügte, seine Impotenz zu beweisen. Er verstand es aber auch, sogar als Oppositionspartei durch die Art seiner Opposition seine völlige Programm- und Ideenlosigkeit und völlige Unfähigkeit zu irgend welcher positiven Leistung aufs Unzweideutigste darzutun.

Dadurch aber, dass er seinen rein agrarischen Charakter verlor, in den großen Städten Eingang fand und der Sachwalter des Großkapitals wurde, lockerte er auf der einen Seite die Wurzeln, die er aus dem flachen Lande geschlagen hatte, und stieß er aus der anderen Seite auf die Sozialdemokratie, und damit auf einen weit gefährlicheren Gegner wie den Liberalismus.

So wurden die Ursachen seiner vorübergehenden Ausdehnung auch die Ursachen seines jetzigen Zusammenbruchs.

Der Liberalismus und bürgerliche Radikalismus hat aber gesiegt nicht wegen seiner eigenen Kraft, sondern wegen der Impotenz seiner Gegner; nicht wegen der Übermacht seines Programms, sondern deswegen, weil der Konservatismus dem programmlosen Radikalismus nichts als Widersprüche und Dummheiten entgegenzusetzen hin. Und so kann dieser Sieg des Radikalismus nichts anderes zeitigen, als dessen Untergang. Für unsere Partei aber schafft er die günstigste Situation.

Ebenso wenig wie der Konservatismus kann der Radikalismus weiterhin etwas leisten, aus dem einfachen Grunde, weil weitere soziale Fortschritte von erheblicher Bedeutung heute nur noch möglich sind auf Kosten des Kapitals, durch Einschränkung der kapitalistischen Ausbeutung oder durch Einschränkung der Machtmittel des kapitalistischen Staates. Zu solchen Maßregeln ist aber der bürgerliche Radikalismus heute weniger fähig denn je.

Alle Reformen, die das radikale Regime versuchen wird, müssen scheitern oder verkrüppelt werden durch den Widerstand des Kapitals, in dessen Bannkreis der französische Radikalismus wie jede bürgerliche Partei steht. In dem Kampf um solche Reformen wird dieser Radikalismus zu einer konservativen Partei werden. Das Schicksal der bürgerlichen Demokratie in der heutigen Gesellschaft ist besiegelt: Soweit sie nicht der Sozialismus ablöst und auslöst, muss sie dem Konservatismus erliegen. Wo sie diesen besiegt, gelangt sie in eine Position, die sie treibt, selbst die Funktionen einer konservativen Partei zu übernehmen.

Gerade jetzt ist sie in Frankreich mehr als je dazu gezwungen, sich selbst untreu zu werden und als regierende Partei alles zu tun, was sie als Opposition gebrandmarkt.

Die stete Zuspitzung der Klassengegensätze, besonders gefördert durch die russische Revolution, hat augenblicklich einen solchen Höhegrad erreicht, dass allenthalben Riesenkämpfe zwischen Arbeitern und Unternehmern ausbrechen. Als gehorsamem Lakaien des Kapitals fällt da dem radikalen Regime die Aufgabe zu, jedes bisherige bürgerliche Regime durch die skrupelloseste Aufbietung militärischer und polizeilicher Machtmittel zu überbieten. Einige erbauliche Pröbchen davon hat es schon in den Tagen vor dem ersten Mai und an diesem selbst abgelegt.

Gleichzeitig ist aber auch infolge des russisch-japanischen Krieges das europäische Gleichgewicht ins Wanken gekommen, haben Misstrauen und Ländergier in der Kolonialpolitik neue Konfliktstoffe geschaffen, die heute in Marokko, morgen an der Küste des Roten Meeres, übermorgen vielleicht am Persischen Golf oder in China den Weltfrieden gefährden. Da muss eine kapitalistische Regierung, und mag sie noch so radikal sein, alle Mittel des Landes in kriegerischen Rüstungen erschöpfen, so dass für soziale Reformen nichts übrig bleibt.

Dieselbe auswärtige Politik drängt aber die radikale Regierung, dem zarischen Absolutismus zur kräftigsten Stütze zu werden, und so nicht bloß in den schärfsten Gegensatz zum russischen Volke und allen aufrichtigen Freunden der russischen Freiheit, vor allem dem französischen Proletariat zu geraten, sondern auch die volle Verantwortung für die russischen Schwindelfinanzen und für den furchtbaren Bankrott auf sich zu nehmen, den der Zusammenbruch der russischen Staatswirtschaft in Frankreich nach sich ziehen muss.

Und dabei hat das radikale Regime den einzigen Programmpunkt verloren, der es populär machte – die Trennung des Staates von der Kirche. So ungenügend und schwächlich diese Reform durchgeführt, so wenig die Kirche dadurch in ihrem Wesen erschüttert sein mag, für die nächsten Jahre ist wohl die Kirchenpolitik von der Tagesordnung abgesetzt und damit der Radikalismus seiner größten Anziehungskraft beraubt.

Nichts gibt es mehr, was die Sozialdemokratie noch mit dem Radikalismus vereinigen könnte, denn auch die republikanische Staatsform ist endgültig sichergestellt. Für die Sozialdemokratie ist jetzt die Haltung, die sie dem Radikalismus gegenüber einzunehmen hat, klar durch die Ereignisse vorgezeichnet: die entschiedener Opposition, durch die auch die letzten Reste des Proletariats vom bürgerlichen Radikalismus losgelöst werden. Auf der anderen Seite wird dieser durch die Logik der Tatsachen immer konservativer, immer ähnlicher den Parteien der Rechten werden.

So dürfen wir erwarten, dass diese Wahl in Frankreich die letzte war, die sich unter dem Zeichen des Gegensatzes der Republikaner, bürgerlicher wie sozialistischer, gegen Monarchisten und Klerikale vollzog, und dass die Entwicklung der Gegensätze in der neuen Kammer eine derartige sein wird, dass die nächsten Wahlen nur noch einen Gegensatz kennen werden: Hie bürgerliche Parteien, hie Sozialdemokratie.

Und was für Frankreich, gilt mit den nötigen Änderungen auch für England, für die parlamentarischen Länder überhaupt. Die Hauptaufgabe der praktischen Politik unserer Genossen in diesen Ländern ist eine ganz andere als in den halb absolutistischen Ländern Osteuropas. Bei uns ging die Loslösung der Proletarier vom Liberalismus relativ leichter vor sich – wenn auch absolut schwer genug – wegen der Erbärmlichkeit dieses Liberalismus. Aber gerade diese Erbärmlichkeit bewirkt, dass der Allgewalt von Armee, Bürokratie und Junkertum kein starkes Parlament entgegengestellt wurde. So fällt uns Sozialdemokraten die Ausgabe zu, diese Allgewalt zu brechen, und solange diese schwere Aufgabe nicht gelöst, werden unsere westeuropäischen Genossen stets betroffen davon sein, dass dem starken Anwachsen unserer Stimmenzahlen nicht ein entsprechendes Anwachsen politischer Macht folgt.

Es ist jedoch ungerecht, in einer falschen Taktik der deutschen Sozialdemokratie die Ursache dieser ihrer anscheinenden Schwäche zu suchen, wo doch allein bei der Schwäche des früheren Liberalismus die Schuld zu suchen ist. Tollheit aber ist es, in einem Bündnis mit den letzten elenden Resten dieses selben Liberalismus das Mittel zu sehen, das uns die Kraft verleihen soll, das zu erkämpfen, was der Liberalismus in den Tagen seiner stolzesten Blüte und Kraft nicht zu erringen wagte und nur zu erbetteln suchte.

Nicht minder ungerecht waren aber wieder deutsche Genossen, wenn sie sich über die anscheinende Schwäche westeuropäischer sozialistischer Bewegungen wunderten und die Ursache davon in einer falschen Taktik suchten. Liegt die Ursache der relativen Schwäche der deutschen Sozialdemokratie, ihre politische Machtlosigkeit bei ihren enormen Stimmenzahlen, in der Machtlosigkeit des deutschen Reichstags, so liegt in der Stärke des Parlaments die Ursache der bisherigen relativen Schwäche westeuropäischer sozialistischer Parteien, nämlich des langsamen Anwachsens ihrer Stimmenzahlen, der großen proletarischen Gefolgschaft, die sie dem bürgerlichen Liberalismus lassen mussten. Diese Stärke des Parlamentarismus wurde geschaffen von der liberalen Bourgeoisie in einer Reihe glänzender revolutionärer Kämpfe, die auf die Masse der Bevölkerung aller Klassen den größten Eindruck machten und die Anschauungen des Liberalismus tief in ihnen einwurzeln ließen, so dass selbst die Erfahrungen des proletarischen Klassenkampfes und die Aufklärung durch den Sozialismus in vielen proletarischen Schichten eine liberale Färbung erhielten.

So erklärt es sich, dass es den Liberalen in England, den Radikalen in Frankreich immer wieder gelang, der ihnen entschlüpfenden proletarischen Massen in der einen oder anderen Form habhaft zu werden.

Wir dürfen erwarten, dass dies für England ein Ende nimmt, und wir dürfen mit noch größerer Bestimmtheit annehmen, dass für Frankreich dieses Ende bereits gekommen ist. Die Loslösung der proletarischen Massen von der bürgerlichen Demokratie, soweit sie dieser noch anhingen, wird nun mit Riesenschritten vorangehen. In einem parlamentarischen Lande, wie Frankreich, bedeutet jedoch eine Partei von der Stärke der deutschen Sozialdemokratie eine ganz andere politische Macht, als in einem Lande des verschämten oder unverschämten Absolutismus.

Die Kraft, welche die französische Sozialdemokratie erringt, muss aber ebenso wie die, welche die russische entfaltet, zurückwirken auf den Kampf gegen die Allmacht von Armee, Junkertum und Bürokratie, den die Sozialdemokratie in Deutschland führt. Und so geht es hüben und drüben, in verschiedener Weise, aber in gleichem Tempo, unter steter Verschärfung der politischen und sozialen Gegensätze dem gleichen großen Entscheidungskampf entgegen, in dem das Proletariat die politische Macht erobern wird.

K. K.

Kommentare