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Karl Kautsky 19060607 Eine ethisch-ästhetische Geschichte der Pariser Kommune

Karl Kautsky: Eine ethisch-ästhetische Geschichte der Pariser Kommune

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 24.1905-1906, 2. Band (1905-1906), Heft 37 (7. Juni 1906), S. 351-360]

Herr Karl Bleibtreu ist „Zivilstratege", das heißt Militärschriftsteller, ohne Militär zu sein, und er ist Verfechter des Milizsystems. Das bringt ihn in Gegensatz zu den Berufsoffizieren und in einige Zielgemeinschaft mit der Sozialdemokratie. Die militärische Seite war es offenbar auch, die ihn an der Pariser Kommune vor allem interessierte und ihn antrieb, deren Geschichte zu schreiben.* Es musste ihn interessieren, zu untersuchen, wieso es kam, dass die Pariser Milizen von den französischen Berufssoldaten geschlagen wurden, denselben, die soeben durch die preußischen Berufssoldaten die fürchterlichsten Prügel erhalten hatten. Kein Wunder, dass die Verehrer der stehenden Heere daraus die Minderwertigkeit des Milizsystems deduzieren!

Wenn man näher zusieht, verschwindet freilich die angebliche Minderwertigkeit der Pariser Milizen vollständig. Sie haben sich vielmehr den Berufssoldaten in jeder Beziehung überlegen gezeigt, an Intelligenz, Ausdauer, Mannhaftigkeit und Todesverachtung; sie wussten auch ihre Waffen aufs Vortrefflichste zu handhaben, obwohl die französischen Nationalgarden nichts weniger als geschickte Milizsoldaten waren. Wenn sie trotzdem unterlagen, so geschah dies aus Gründen, die mit dem Milizsystem gar nichts zu tun haben.

Wie jede Armee erfordert auch die Milizarmee eine straffe Organisation ihrer Zweige. Der einzelne Soldat mag sich noch so gut schlagen, so bleibt das nutzlos, wenn nicht die verschiedenen Teile des Heeres planmäßig zusammenwirken, voneinander wissen, einander helfen, und wenn nicht der Nachschub an Truppen sowie an Munition und Proviant nach allen Punkten, wo er erfordert wird, leicht und ohne Umstände vor sich geht.

Das heutige Proletariat hat in allen Kulturstaaten gerade auf dem Gebiet der Massenorganisation so reiche Erfahrungen hinter sich, und es hat sich so sehr den anderen Klassen hier überlegen gezeigt, dass wir ruhig erwarten dürfen, es werde sich, wenn es einmal den Staat erobert, den schwierigsten organisatorischen Ausgaben gewachsen zeigen und auch die Organisation der Armee aufs Zweckmäßigste durchzuführen verstehen.

Das Pariser Proletariat von 1871 war aber noch nicht so weit. Zum großen Teile noch in Kleinbetrieben beschäftigt, deren Personal von vornherein schwer in großen Vereinigungen zusammenzufassen ist, entbehrte es überdies jeder Art öffentlicher Organisation, ökonomischer oder politischer Art, da ihm die große Revolution das Koalitionsrecht genommen und Kaiserreich wie Königtum auch die Möglichkeit des Zusammenschlusses in politischen Vereinen beseitigt hatte. So traf das Jahr 1871 das Pariser Proletariat ohne starke Organisationen, ohne organisatorische Erfahrungen, und es blieb ihm keine Zeit, unter der Kommune solche zu sammeln, da es sofort in den Kampf auf Leben und Tod eintreten musste. Kein Wunder, dass in seinem Kriegswesen die größte Verwirrung herrschte. Eher darf man sich über die Ordnung wundern, die die Kommune trotz alledem in der Zivilverwaltung herzustellen wusste. Aber es liegt nahe, dass gerade die besten Köpfe der Kommune sich den sozialen Aufgaben zuwendeten, die sie studiert hatten, dass sie sich auf jene Gebiete warfen, in denen sie zu Hause waren, und dass daher im Kriegswesen weniger gewissenhafte, bescheidene und erfahrene Elemente sich nur zu sehr breit machen konnten.

Neben der Organisation bedarf aber auch jede Armee der Disziplin, der willigen und freudigen Ausführung der Anordnungen der Führer. Besonders erforderlich ist diese Disziplin für die höheren Kommandostellen. Beim gemeinen Soldaten ergibt sich die Disziplin von selbst, sobald er einmal ins Feuer gebracht und so lange seine Widerstandskraft noch nicht gebrochen ist. Der Sieg bedeutet für ihn die beste Möglichkeit, das eigene Leben zu retten, der unerträglichen Spannung der Nerven ein wohltuendes Ende zu bereiten. Die Aussichten auf Sieg und Rettung sind aber unzertrennlich gebunden an rasches und entschiedenes Zusammenwirken mit den anderen Teilen der Armee, ein Zusammenwirken, dessen Vermittler der Offizier ist. Da folgt diesem der Soldat von selbst, unwillkürlich, wenn die Befehle nicht geradezu seine physischen oder moralischen Kräfte übersteigen oder direkt widersinnig sind.

Ganz anders steht es mit der Disziplin bei den höheren Offizieren. Sie sind am Siege nicht so sehr mit ihrem eigenen Leben interessiert wie die Mannschaften und niederen Offiziere, die direkt in den Kampf eingreifen; aber sie haben am Siege auch nicht jenes Interesse wie der Höchstkommandierende, der für die gesamte Armee verantwortlich ist, deren Erfolge, aber auch deren Niederlagen vor allem auf sein Konto gehen.

Dabei liegt sachliche Kritik an den Befehlen der Vorgesetzten dem höheren Kommandanten näher als den Mannschaften. Der gemeine Mann übersieht nur ein Stückchen des Schlachtfeldes, hat keine Ahnung davon, was an anderen Punkten desselben vorgeht, der direkte Kampf nimmt ihn ganz in Anspruch, er hat keine Zeit und keine Stimmung zur Kritik, wenn nicht widersprechende Befehle sich folgen und ihn verwirren. Der Offizier aber, der ihn kommandiert, kennt seine Situation ebenso gut wie er selbst, da er sie ja mit ihm teilt. Er wird nicht leicht, wenigstens nicht. aus eigenem Antrieb, etwas von ihm verlangen, was dieser Situation nicht entspricht, was die Kritik herausfordert.

Je höher der Offizier, desto mehr vom Schlachtfeld übersieht er, desto freier ist auch sein Kopf, alle Chancen und Möglichkeiten abzuwägen. Dabei aber stammen die Befehle, die er erhält, in der Regel von einer Stelle, die seine Situation nicht aus direkter Anschauung kennt, sondern aus Berichten, die vielleicht lückenhaft, vielleicht missverstanden, vielleicht durch die Ereignisse überholt und wertlos gemacht sind. Da wird es oft Pflicht, dem Befehl nicht zu gehorchen, sondern nach eigenem Ermessen zu handeln. Fehlt aber der Respekt vor dem Oberkommando, das Vertrauen zu dessen Fähigkeiten, oder bestehen gar Eifersüchteleien zwischen ihm und den ihm im Range nahestehenden Offizieren, so dass diese eine gewisse Genugtuung über Misserfolge des verhassten oder beneideten Generals empfinden, dann wird die Möglichkeit der Insubordination von den höheren Kommanden leicht sogar in pflichtwidriger Weise ausgenutzt.

In den stehenden Heeren weiß man kein anderes Mittel, die Disziplin zu sichern, als dass man den stummen Gehorsam, die maschinenmäßige Ausführung aller von oben stammenden Befehle dem Soldaten und seinen Offizieren zur zweiten Natur macht, ihnen völlig das Bedürfnis austreibt, über die Zweckmäßigkeit der erhaltenen Befehle nachzudenken. Aber je größer die Schlachtfelder werden, je unübersichtlicher, je mannigfaltiger und unberechenbarer die Wechselfälle auf jedem seiner Teile, je notwendiger die rascheste Ausnutzung jeder Möglichkeit, um so dringender notwendig wird die Ausbildung der selbständigen Initiative des Soldaten. Diese zu entwickeln und gleichzeitig die notwendige Disziplin aufrecht zu halten, ist eines der schwierigsten Probleme der modernen Kriegführung.

Das Proletariat hat, allerdings auf anderem Boden, dieses Problem für seine Kämpfe bereits gelöst. In seinen Klassenkämpfen entwickelt es die strammste Disziplin aller Beteiligten, seien es einfache Soldaten oder Führer, während der Aktionen, aber es entwickelt sie dank der größten Freiheit und Rücksichtslosigkeit der Kritik aller Beteiligten innerhalb seiner Organisationen vor und nach den Aktionen. Dank dieser Rücksichtslosigkeit, dem von unseren Gegnern so genannten „Terrorismus", ist es den Führern kaum möglich, ihre Organisationen in irgend eine große Aktion zu verwickeln, deren Notwendigkeit nicht von diesen selbst anerkannt wird, ist es unmöglich, dass sich Führer behaupten, die nicht von dem Vertrauen derer getragen werden, die sie dazu erhoben; angesichts der doppelten Kontrolle der Massen von unten und der leitenden Vertrauensmänner von oben ist es aber auch sehr erschwert, ja fast unmöglich gemacht, dass einzelne Leiter von Teilorganisationen offenbare Disziplinwidrigkeiten begehen.

Dieselbe freie und rücksichtslose Kritik vor und nach der Aktion, die den größten Eifer, die größte Einheitlichkeit und Geschlossenheit aller Beteiligten während der Aktion hervorruft, erzeugt aber auch die nötige Einsicht aller Kämpfer in Sinn und Methode des Kampfes und die nötige Selbständigkeit und Initiative während aller Einzelkämpfe, in die sich der große Kampf auflöst; so erzeugt der Klassenkampf des Proletariats die höchste und wirksamste Form der Disziplin, die freudige und verständnisvolle Disziplin. Und wenn das siegreiche Proletariat einmal ein Milizheer einzurichten hat, wird es auch ihm diese Art der Disziplin einzuflößen wissen, gerade jene Art, deren das moderne Kriegswesen bedarf.

Aber als 1871 dem Pariser Proletariat die politische Macht zufiel, da war in den Reihen seiner Nationalgarden der Geist oder vielmehr die Geistlosigkeit des alten militärischen Kadavergehorsams natürlich nicht zu finden, indes die seinem Klassenkampf entsprechende Form der Disziplin in seinen eigenen Reihen noch nicht entwickelt, denn das erfordert Jahrzehnte mühsamer Organisationsarbeit und energischer Organisationskämpfe, zu denen das französische Proletariat noch keine Gelegenheit gehabt hatte. Wohl entwickelte dann der Kampf selbst in den Reihen der Nationalgardisten die nötige Disziplin, aber sie fehlte vollständig unter den Kommandierenden. Keiner der Generäle der Kommune war so allbekannt und wohlbewährt, dass die anderen Kommandierenden sich ihm freiwillig gefügt hätten oder dass die kämpfenden Massen sie zu freiwilliger Unterordnung unter ihn hätten zwingen können. So gab es kein oberstes Kommando, keinen allgemeinen Plan, jeder Truppenteil operierte auf eigene Faust, ohne sich viel um die Befehle und Gegenbefehle zu kümmern, die mitunter in verwirrender Fülle auf die Truppen niedersausten, indes bei anderen Gelegenheiten dem Oberkommando nicht die leiseste Äußerung zu entlocken war.

Trotz alledem schlugen sich die Pariser Milizen so glänzend, dass sie nur enormer Übermacht erlagen. Mit Recht weist Bleibtreu darauf hin:

Was den Wert bewaffneten Volksaufgebots betrifft, so sah man die eben noch fliehende und von jener Panik des 3. April angesteckte Bürgerwehr schon wenige Tage später aufs Bravste standhalten, dann sogar durch kurze Kriegserfahrung auf gleiche Stufe mit den ältesten Veteranen kommen. Was unter den beiden Polen (Dombrowski und Wroblewski) und was in Issy geleistet wurde, lässt sich von keiner Truppe übertreffen, keineswegs nur in heroischem Widerstand, sondern auch in heftigem, unwiderstehlichem Angriff. Nur fünffache Übermacht der Liniensoldaten ward irgendwo dieser Milizen Meister" (S. 113).

Diese Übermacht bestand anfangs nicht. Als die Pariser sich gegen den Thiersschen Überfall erhoben, verfügten sie über mehr Truppen als der Versailler Klüngel, und die des letzteren waren unzuverlässig und schwankend. Hätte damals Paris sofort energisch die Offensive ergriffen, was ein Lebenselement jeder revolutionären Bewegung ist, hätten die Kommunards den Mont Valérien besetzt, einen Angriff auf Versailles unternommen, die reaktionäre Nationalversammlung gesprengt, so wäre die schwankende Armee auf ihre Seite getreten, die Städte Frankreichs hätten sich ihnen angeschlossen, einen Teil des flachen Landes mitgerissen; wenn auch nicht eine sozialistische, so doch eine radikal-demokratische Republik wäre damals begründet worden.

Aber die Pariser Proletarier waren sich des Ernstes und der Erfordernisse der Lage nicht bewusst. Sie wollten in ihrer Mehrheit keinen Bürgerkrieg, kein Blutvergießen, sie wünschten sich friedlich, ohne Gewalttätigkeit zu emanzipieren, und viele von ihnen glaubten, dieser Wunsch genüge, die friedliche Entwicklung zu sichern. Sie erkannten nicht die Schroffheit des Klassengegensatzes zur Bourgeoisie, erkannten nicht, dass diese ein politisch selbständiges, wehrhaftes Proletariat um keinen Preis duldet, sie erkannten nicht genügend, dass sie nur die Wahl hatten, entweder ihre Waffen auszuliefern und sich kampflos aus Gnade und Ungnade zu unterwerfen oder ohne Zögern zum Angriff vorzugehen.

Wohl gab es Leute unter ihnen, die danach verlangten, aber auch hier fehlte wieder die Organisation, die eine bestimmte Taktik zu der der Kommune hätte machen und sie einheitlich und konsequent verfolgen können. Diese vermochte weder auf den Kampf zu verzichten, noch ihn mit voller Kraft aufzunehmen; so verpasste sie die Zeit, in der sie ihre Übermacht ausnutzen und durch den Zauber des Erfolges das übrige Frankreich an sich fesseln konnte. Die Versailler Regierung gewann Zeit, neue Truppen an sich zu ziehen, die schwankenden zu befestigen und Paris zu isolieren, um so eher, als der Sozialismus außer Paris noch keinen starken Anhang besaß, das Proletariat außer Paris schwach, unwissend, zusammenhanglos war, so dass nur der Sieg des hauptstädtischen Proletariats es hätte aufrütteln, anfeuern, zum Kampfe fortreißen können.

So wurde der Kampf zwischen Versailles und Paris schließlich ein Krieg zwischen Frankreich und Paris. Und damit war der Untergang der Kommune besiegelt.

An allen diesen Umständen ging sie zugrunde, in diesen lagen auch die Ursachen ihrer militärischen Niederlage und nicht in irgend einer absoluten Überlegenheit des Berufsheers über das Milizsystem.

Das wäre wohl das Ergebnis einer Untersuchung der Frage, woran die Pariser Kommune militärisch scheiterte. Diese Frage ist gar nicht zu beantworten ohne eine Darlegung der politischen und sozialen Verhältnisse in Frankreich und insbesondere in Paris und eine Bloßlegung ihrer historischen Wurzeln. Kriegsgeschichte lässt sich überhaupt nicht fruchtbar betreiben ohne Erforschung der Politik und Ökonomie der kriegführenden Mächte. Erst wenn wir deren politische und ökonomische Verhältnisse kennen, vermögen wir zu unterscheiden, was an ihrer Kriegführung gesellschaftliche Notwendigkeit, was individuelle Leistung der Kommandierenden; dann erst wird uns vieles begreiflich, was vom rein militärischen Standpunkt betrachtet unverständlich, ja mitunter wahnwitzig erscheint.

Indes diese historisch-ökonomische Methode ist nicht die Bleibtreus. Er ist nicht bloß „Zivilstratege", sondern auch Dichter, und als solcher zieht er die ethisch-ästhetische Methode vor, die nicht danach trachtet, die Menschen und ihre Taten zu begreifen, sondern nur danach, sie zu beurteilen, sie zu rubrizieren in schöne und hässliche, gute und böse, und zwar im Interesse der Wirkung in der krassesten Weise; sie zu scheiden in Engel und Teufel, in Halbgötter und Bestien.

Um Missverständnissen vorzubeugen, sei gleich bemerkt, dass die ästhetische Wirkung dieser Scheidungen nicht bedarf. Unter den Dichtern haben sie gerade einige der größten Dramatiker und Romanschriftsteller vermieden. Diese verfuhren in ihren Schöpfungen nicht ethisch-ästhetisch, sondern, wenn man so sagen darf, historisch-ökonomisch; sie suchten ihre Gestalten begreiflich zu machen als Produkte der Verhältnisse, suchten ihrem Publikum die Empfindung beizubringen von der Notwendigkeit des Handelns dieser Gestalten, das heißt von der gesetzmäßigen, erkennbaren Notwendigkeit, die etwas ganz anderes ist, als die unerforschliche Notwendigkeit, die irgend eine Gottheit oder sonstige mystische Macht über uns verhängt. Und sie sahen das Tragische in dem Konflikt zwischen der von Natur und Gesellschaft gegebenen Notwendigkeit, dem Müssen auf der einen Seite, und dem Wollen des diesen Gewalten gegenüber ohnmächtigen Individuums auf der anderen.

Die ethische Ästhetik dagegen geht von der Willensfreiheit aus; sie sieht das Tragische in dem Konflikt zwischen dem Wollen und dem Sollen; sie will nicht eine tragische Notwendigkeit darstellen, sondern eine tragische Schuld, eine Versündigung an dem sittlich Gebotenen, und sie sucht, selbst wenn sie noch so atheistisch ist, das Walten einer ewigen Gerechtigkeit, was immer damit gemeint sein mag, zur Darstellung zu bringen, einer ewigen Gerechtigkeit, die zum Schlusse immer siegt und Sühne für die tragische Schuld fordert.

In dieser Weise hat Bleibtreu die Geschichte der Kommune geschrieben. Er sieht, dass ihre Milizen sich glänzend schlagen, aber trotz allen Heldenmuts erliegen infolge der Organisationslosigkeit, der Undisziplin, der Illusionen, der Isolierung der Kommune. Statt hier ein Problem zu sehen, das zu lösen ist, statt zu erkennen, dass alle diese Faktoren nichts sind als Produkte der Unreife des französischen Proletariats, statt den Ursachen dieser Unreife nachzuspüren, ist er gleich fertig mit seinem ethischen Urteil: die Kämpfer der Kommune waren Helden, aber sie verstanden nicht, sich einen großen Mann zum Führer zu setzen, sie gaben Lumpen, Schuften und Schreiern das Heft in die Hand: das war ihre tragische Schuld, und dafür mussten sie büßen.

So schreibt Bleibtreu zum Beispiel:

Ja wahrlich, die Kommune, so gewiss sie gesiegt hätte, einen Gambetta in ihrer Mitte, ging stückweise an sich selber zugrunde" (S. 88).

"Dass die Kommuneregierung verdientermaßen unterging, weil sie außer den zwei tapferen Schriftstellern Varlin und Vermorel nicht einen einzigen Höherbegabten besaß, bedarf keiner Erörterung. Wie Unkenntnis der Gesetze nicht vor Bestrafung schützt, so Ideologie nicht vor verdientem Misserfolg, denn die Geschichte ist eine kalte Realistin. Sie fördert insgeheim die Idee, das Ideale, durch verschlungene Wandelgänge der Entwicklung, aber zu schwache Propheten und Reformer zerbricht sie. Und die Arbeiter, das Volk, litten sie schuldlos? Jene läppische, so oft mit heuchlerischem Augenverdrehen von Reaktionären gegen Arbeiterführer aufgetischte Phrase vom armen verführten Volk, das für feige und selbstsüchtige Demagogen büßen müsse, klang nie unwahrer als hier. Das Volk selber gab sich solche Führer und wollte keine anderen, Disziplinlosigkeit und Lotterei drangen hier gerade von unten nach oben, klägliche Mischung von Schwäche und Wildheit entsprach dem ganzen Milieu, das einen Pyat und Rigault, einen Delescluze und Vallès verlangte. So entsprach denn auch der blutige Sturz. das unsägliche Leiden dieser Arbeiterbewegung einer tieferen geschichtlichen Moral und Notwendigkeit. Aber dass sie mutig den Kampf aufnahm bis zum bitteren Ende und heldenhaft in den Tod ging, das hat die Kommune entsühnt und ihr in allen freien Herzen ein ewiges Denkmal gesetzt. Die jährlichen Kränze und Wallfahrten des Pariser Volkes zum Père Lachaise bedeuten den inneren Sieg, den kommenden Triumph ihrer Sache. Ihre Besieger aber hat heute ganz Frankreich geschichtlich gerichtet. trotz alles Gebelfers der Junker und Pfaffen. Eine Fehlgeburt, die eine Neugeburt verheißt, hat die Kommune dennoch das letzte Wort behalten. Denn das Schicksal ist streng, aber gerecht" (S. 254 und 255)

So verteilt Herr Bleibtreu, als „Schicksal" und „tiefere geschichtliche Moral" verkleidet, seine Kränze, verdammt und entsühnt, verurteilt die Kommune zum Tode, weil sie nur zwei höherbegabte Schriftsteller in ihrer Mitte zählte, und prophezeit ihren kommenden Triumph, weil ihr jährlich Wallfahrten gewidmet werden.

Als echter ethisch-ästhetischer Geschichtsschreiber ist Herr Bleibtreu aber nur vertraut mit den Verfügungen der tieferen geschichtlichen Moral und höheren Gerechtigkeit, die man sich ohne das geringste Wissen nach Belieben fabrizieren kann, dagegen scheinen ihn die Tatsachen der Ökonomie und Politik sehr wenig zu interessieren.

Ein paar Beispiele genügen. Aus S. 71 beweist er uns in folgender Weise die völlige Impotenz der Kommune:

Blödsinnige Dekrete, als lebe man im tiefsten Frieden, um eine neue soziale Ordnung zu gründen, beschäftigten den schwatzhaften Müßiggang der Stadthausregenten. Da die Markthallen von Lebensmitteln strotzten, also jede Hungergefahr fern schien, verbot man, obschon die Arbeiter selbst dagegen protestierten, jede Nachtarbeit in den Bäckereien als unwürdige Überarbeitung" (S. 71).

Welcher Blödsinn – natürlich das Verbot der Nachtarbeit und nicht die Auslassungen des Herrn Bleibtreu darüber. Die letzteren blödsinnig zu nennen, verbietet der gute Ton, den ethisch-ästhetische Kritiker stets so hochhalten. Wir erlauben uns daher nur höflichst zu bemerken, dass erstens die Bäckereiarbeiter selbst es waren, die das Verbot der Nachtarbeit forderten, und dass zweitens der Zusammenhang dieses Verbots mit der Lebensmittelfülle in den Markthallen ein ethisch-ästhetisches Geheimnis ist, unerforschlich für jeden ökonomisch-historisch unterrichteten Verstand.

Bezeugt dieser Passus das ökonomische Verständnis Bleibtreus, so ersehen wir sein politisches Wissen aus der Bemerkung auf S. 50, die unter den „letzten politischen Zugeständnissen des Kaiserreichs" in erster Linie „das allgemeine Stimmrecht" aufzählt, dasselbe allgemeine Stimmrecht, mit dessen Erteilung in der Verfassung vom 14. Januar 1852 Napoleon als Präsident das plebiszitäre Kaiserreich einleitete.

Und nun noch das Wissen des Herrn Bleibtreu vom Sozialismus. Die Anschauungen des Proudhonismus liefen nach ihm „im Grunde auf einen großen Arbeiterbildungsverein hinaus", dafür aber „schwor das radikale Kleinbürgertum im Allgemeinen auf den nichts weniger als sozialistischen und erst infolge der Kommunekämpfe dazu bekehrten Blanqui" (S. 46).

Man denke, Blanqui wurde 1805 geboren, war nach Bleibtreu noch 1871 nichts „weniger als sozialistisch" und bekehrte sich „dazu" erst „infolge der Kommunekämpfe" – den Siebzigern nahe! welches Wunder! – freilich nur für die ethisch-ästhetische Geschichtsschreibung des Sozialismus. Für die ökonomisch-historische Auffassung ist die hohe Bedeutung, die Blanqui in der Geschichte des Sozialismus erlangte, weniger wunderbar. So schrieb zum Beispiel schon 1842 L. Stein in seinem Buche über den „Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreich in dem Paragraphen, der „die Epoche des Babouvismus" von 1835 bis 1839 behandelt:

Man suchte … den Babouvismus zum eigentlichen Lebensprinzip des Proletariats zu machen. … Die Hauptverkünder dieser Gütergemeinschaft waren drei Leute, die früher schon an den Verbindungen der Republikaner teilgenommen … hatten. Ihre Namen waren zu jener Zeit dem Volke und der Polizei wohlbekannt; sie hießen Blanqui, Barbis und Martin Bernard" (S. 405).

Man sieht, bei solchen Kenntnissen des Sozialismus, der politischen Zustände und des Arbeiterschutzes wäre es schwer, eine andere Geschichte der Kommune zu schreiben, als eine ethisch-ästhetische.

So weiß Herr Bleibtreu auch über Marx nicht viel anderes zu berichten, als er sei „unheimlich" gewesen, „ein Mazzini des Sozialismus" – Marx, dessen erste Tat in der Internationale die Beseitigung aller mazzinistischen Tendenzen war.

Allerdings, die Polizisten und Journalisten aller Länder, denen es in ihrer Berichterstattung nicht darum zu tun war, Wissen und Aufklärung zu verbreiten, sondern ihre Auftraggeber und Leser durch auffallende Enthüllungen zu verblüffen, diese oberflächlichen und ebenso gewissenlosen wie unwissenden Sensationsjäger haben die Internationale nie für etwas anderes gehalten als eine Verschwörergesellschaft und Marx für einen Mazzini, und noch dazu einen „unheimlichen".

Die Charakteristik des Herrn Bleibtreu hört aber dadurch nicht auf, unwahr zu sein, sie ist nur, was in den Augen manches modernen Schriftstellers noch weit schlimmer, nicht einmal originell.

Und ebenso wenig originell ist die Hervorhebung der jüdischen Abstammung von Marx – das einzige, was Herrn Bleibtreu außer dem „unheimlichen" Verschwörertum an Marx interessiert.

So berichtet er von der Kommuneregierung, dass die Mitglieder der Internationale, die ihr angehörten, manchen wackeren Mann auswiesen:

Freilich auch mehrere rabiate Hohlköpfe oder problematische Naturen wie der ungarische Jude Leo Fränkel, der beim Rassegenossen Karl Marx in die Schule ging und mit rabbinerhafter Spitzfindigkeit dozierte, dass alle anderen nichts vom Sozialismus verstünden" (S. 29)

So lächerlich es ist, die Ideengemeinschaft zwischen Marx und Frankel auf ihre Rassengemeinschaft zurückzuführen, so total falsch und leichtfertig erfunden ist die Charakterisierung Frankels. Er war ebenso wenig rabiat wie ein Hohlkopf, keine problematische Natur und von der Geringschätzung anderer weit entfernt, vielmehr ein stiller, fleißiger und bescheidener, dabei aber höchst intelligenter Arbeiter.

Und gerade er gehört zu jenen, die Bleibtreu besonders wegwerfend behandelt, und er wird nie erwähnt, ohne dass sein Judentum hervorgehoben würde.

Da Herr Bleibtreu bestritten hat, dass er ein Antisemit sei, wollen wir einige Pröbchen davon zitieren. Von Frankel heißt es weiter:

Unter letzteren (den Sozialisten) befand sich überdies ein störendes Element in der Person Fränkels, der zwar als Jude ein geborener Internationaler, aber deshalb ohne alles Verständnis für rein patriotische Gesichtspunkte war" (S. 53).

Und vom 25. Mai erzählt Bleibtreu:

Auf der Barrikade des Faubourg St. Antoine verspritzte Prinzessin Dimitrieff ihr rosenrotes Blut, man sah, dass es nicht adelig blau war. Männlich den Schmerz verbeißend, geleitete sie stützend und mütterlich den leichtverwundeten schwächlichen Juden Fränkel auf den Verbandsplatz" (S. 203).

Wir können uns nicht entsinnen, etwas von dieser „mütterlichen" Rolle der „männlichen" Prinzessin Dimitrieff mit dem „rosenroten" Blute gehört zu haben. Dass Frankel schwächlich war, ist richtig. Wenn er trotzdem bis zur letzten Minute im Kampfe aushielt, verdiente das in anderer Weise Erwähnung, als es bei Bleibtreu geschieht. Dass er schließlich, als der Kampf vorüber war, sich verbarg und entkam, ist richtig. Wer wollte darob aber geringer von ihm denken? Wer der Überlebenden versuchte das nicht? Bleibtreu aber hat dafür die hämische Glosse:

"Auf Fränkels Judennase und knochiges Gesicht musste man schmerzlich verzichten, der nachher in Ungarn auftauchte" (S. 251).

Die Szene zwischen der Prinzessin Dimitrieff und Frankel ist wahrscheinlich von Bleibtreu selbst erfunden. Man darf das um so eher annehmen, als unser Historiker unbedenklich erfindet, was ihm passt, nicht bloß Zwiegespräche und Selbstgespräche, die niemand belauscht haben kann, sondern sogar Ereignisse. Schon Bebel hat in seiner Besprechung des Buches im „Vorwärts" darauf hingewiesen, dass Bleibtreu Vaillant sterben lässt. Bleibtreu suchte sich damit auszureden, dass er einen anderen Vaillant gemeint habe. Aber Vaillant ist nicht der einzige, den er aus Versehen umbringt. Schon aus S. 12 lässt er Cipriani „sterbend unter den Bajonetten zusammenbrechen". Der heute noch sehr kraftvolle Cipriani wird mit Vergnügen davon Notiz nehmen. Was aber den „anderen" Vaillant anbelangt, so ist in dem Buche selbst nirgends angedeutet, dass zwei Vaillants tätig gewesen seien, und jener, von dem gesprochen wird, ist unverkennbar unser heute noch so erfolgreich tätiger Freund. So heißt es von ihm aus S. 29: „Vaillant, gelehrter Philosoph, der auf deutschen Universitäten studierte."

Die Darstellung des Todes Vaillants ist charakteristisch für den Stil des ganzen Buches. Sie sei daher vollständig wiedergegeben:

,Ich schieße schlecht', besah sich verlegen der junge Schriftsteller Vaillant ein Chassepot. das ihm ein junger Pöbelmensch in die Hand drückte. ,Meine Erziehung war leider nicht kriegerisch.' Doch der zerlumpte Gamin herrschte ihn frech an: ,Willst du deinen Tabak gutwillig nehmen, Bürger, oder soll ich ihn für dich rauchen? Treffen brauchst nicht, nicht mal schießen, aber wehe dir, wenn du auskneifst! Bei allen Teufeln und Pfaffen! Wenigstens sterben sollt ihr feinen Herren mit uns, die ihr die Suppe eingebrockt! Wir wollen sie nicht alleine aufessen.' Vaillant war's zufrieden, schoss und fehlte von Barrikade zu Barrikade, schlief auf der Erde, arbeitete mit dem Spaten im feuchten Kot, maschinenmäßig, ohne Empfindung. Es kam so wenig darauf an, wie lange man noch lebte.

Droben der schwefelige Himmel verhüllte sich in Rauch, drunten krochen die feindlichen Schatten schwarz und rot immer näher, die ganze Welt eine rote Wolke, das eigene Ich ein leerer Schatten, ein unpersönliches Nichts. …

,Schon gut!' spottete Vaillant, als Letzter eine Barrikade räumend, ergriffen und an die Mauer gedrückt. Nur hoffe ich, ich hab' keinen von euch getötet. Euer widriges Handwerk lernte ich nie. O heilige Literatur, wie viel Dummheit begeht man in deinem Namen!'

,Hund von einem Kommunisten, halt's Maul!'

,Sehr gern. Bruder Jacques, ich stehe zu Diensten!' Die überfüllte Leichenbahre brach ein, als der neue Tote darüber gewälzt.

So blieb Vaillant am Wege liegen, ein Aas für Hunde. Und die Purpur-Wolke dampfte weiter über der Totenstadt" (S. 217, 218).

In der Tat, wie viel Dummheit begeht man in deinem Namen, o heilige Literatur!

Aber nicht bloß mit geistreichen und pöbelhaften Worten von Schriftstellern und Pöbelmenschen, Purpurwolken, roten Wolken, leeren Schatten hantiert Bleibtreu. Ihm stehen noch andere Effekte der Stimmungsmalerei übrig. Auf S. 176 berichtet er, wie Paris in Flammen aufging.

,Das wird Bergeret Mut machen! Ein Signal, wie kein anderes!' lachte Eudes, indem er sein schaurig wieherndes Pferd nach dem Stadthaus zurück lenkte."

Herr Bleibtreu scheint nicht zu ahnen, wie leicht dieses schaurige Wiehern ein wiehern ganz anderer Art zu entfesseln vermag.

Zu allen diesen Sonderbarkeiten gesellen sich noch geschraubte Stilblüten und originalitätshaschende Mätzchen aller Art, zum Beispiel die Manier, die Eigennamen französischer Lokalitäten in deutscher Übersetzung wiederzugeben, etwa den Montmartre in einen Marterberg zu verwandeln. Warum nicht auch den Monte Pincio in Rom in einen Pintscherberg? Und warum diese schöne Methode auf Ortsnamen beschränken? Wir hoffen, dass nächstens Herr Bleibtreu nicht mehr von Gladstone sprechen wird, sondern von Freudenstein. Das gäbe ihm noch Gelegenheit zu einigen antisemitischen Witzchen.

Die Leser des Herrn Bleibtreu, die nicht französisch verstehen, werden durch seine Verdeutschungen am meisten belästigt. Denn auf keiner Karte sind seine deutschen Namen zu finden. Um ihre französischen Originale herzustellen, muss man aber nicht bloß ebenso viel Französisch verstehen wie Bleibtreu, sondern noch etwas mehr. Denn dieser irrt sich mitunter in seinen Übersetzungen. So spricht er wiederholt vom Kieselberg in Paris. Vergebens zerbrach ich mir den Kopf, welche Gegend wohl damit bezeichnet sein möge, bis ich darauf kam, dass die Butte aux Cailles gemeint sei. Herr Bleibtreu verwechselt Caille, Wachtel, mit Caillou, Kiesel, und gibt uns Steine an Stelle nicht von Brot, sondern von Wachteln.

Mit alledem noch nicht zufrieden, treibt Bleibtreu seine Sucht nach Originalität so weit, uns die 287 Seiten seiner Geschichtserzählung ohne den geringsten Ruhepunkt, ohne irgendwelche Kapiteleinteilung zu geben. So wird die innere Konfusion durch die äußere auf die Spitze getrieben, wir bekommen eine Darstellung nicht bloß voll falscher, ja erfundener Tatsachen, voll schiefer Urteile, voll Verständnislosigkeit und Unwissenheit in politischen und sozialen Dingen, sondern auch so unübersichtlich und verwirrt, dass niemand, der nicht die Geschichte der Kommune schon kennt, aus dem Bleibtreuschen Buche jemals darüber Klarheit gewinnen wird, was sie eigentlich bedeutete.

Aber freilich, dieses wüste Chaos entspricht nur der Anschauung, die Bleibtreu selbst von der Kommune gewonnen hin. Schon auf S. 54 spricht er von der „Götzendämmerung des revolutionären Karneval", und er führt dies Bild aus S. 153 weiter aus in einem Passus, mit dessen Anführung wir schließen wollen, da er gewissermaßen die Quintessenz der formellen und fachlichen Eigenart des Buches bildet.

Ja, die Maskerade ging zu Ende. Die Göttin der Freiheit trug zu lange die rote Fahne, müde sank ihr Arm. Ein Fleischerwagen, Zirkusreiter und Bajazzi in bunten Clownsjacken als Vorreiter, tanzende Straßendirnen als Ehrenjungfrauen um blutbespritzte Räder, diente ihr zu lange als Thron, er kippte um. Ihr zur Kneipe entweihter Tempel barst und ihre selbsternannten Priester, vor denen Schildwachen in roten Röcken und mit Pfauenfedern am Hute wie Messeknaben zelebrierten, flohen von beschmutzten Altären. Doch ein blutiges Hochamt fortzufeiern mit Brandrauch als Weihrauchwolken schien noch vielen die beste Haltung, um pompös auf ihrem Posten zu sterben."

Zum Glücke ist das nur ein ethisch-ästhetisches Urteil über die Pariser Kommune. Das ökonomisch-historische lautet etwas anders.

*Karl Bleibtreu, Die Kommune. Illustriert von Chr. Speier. Stuttgart, C. Krabbes Verlag.287 Seiten. 3 Mark

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