Karl Kautsky: Grundsätze oder Pläne? [Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 24.1905-1906, 2. Band (1905-1906), Heft 50 (5. September 1906), S. 781-788] Die Vorwürfe, die Genosse Stampfer gegen den Parteiverstand schleudert. bringen mir die Angriffe ins Gedächtnis, die eben vor einem Jahre der Verfechter der ethisch-ästhetischen Richtung, Eisner, wegen meiner Stellung zum Massenstreik gegen mich richtete. Ich hatte die Auffassung vertreten, der Massenstreik sei, namentlich bei den deutschen Verhältnissen, ein so folgenschweres Beginnen, dass seiner Anwendung das eingehendste Studium seiner Bedingungen vorausgehen müsse, dass er nur dort am Platze sei, wo der Kampfpreis ein genügend hoher und die Situation eine aussichtsreiche. Ich sah weder diesen Kampfpreis noch diese Situation in dem damaligen Hamburger Wahlrechtskampf gegeben. Da kam ich aber schön an. „Heißt das die Arbeiter politisch und theoretisch aufklären", donnerte Genosse Eisner mir im „Vorwärts" entgegen, „wenn man die hanseatische Wahlrechtsfrage lediglich unter dem Gesichtspunkt eines opportunistischen Krämers betrachtet…? Wie darf ein wissenschaftlicher Führer der Sozialdemokratie die politischen Rechte als eine kaufmännische Kalkulation behandeln, statt dem Proletariat mit Löwenstimme den ersten Grundsatz seiner geschichtlichen Aufgabe immer wieder aufs Neue ins Gewissen zu rufen: es gibt keine größere Verletzung der Würde der Proletarier, als politische Rechte sich rauben, als politische Entrechtung sich gefallen zu lassen. … Wir verstehen unter dem Studium des politischen Streiks, dass eine Dreimillionenpartei im Kampfe um politische Rechte nicht buchmäßig rechnen und in die Ferne spekulieren dürfe, sondern dass sie, wenn es gilt, auch Niederlagen wagen müsse" („Neue Zeit", XXIII,2, S. 784). Diese Anklagen, die noch vor Jahresfrist mir allein galten, werden jetzt gegen den Parteivorstand, ja gegen die ganze Partei erhoben. Ich darf mit diesem Fortschritt wohl zufrieden sein. Ein Fortschritt ist es aber auch, wenn nun wenigstens der Versuch gemacht wird, unserer bisherigen Taktik eine neue entgegenzusetzen. Da kann man ja einigermaßen ermessen, wohin die Reise ginge, wenn Stampfer und seine Freunde in Parteidingen ihren Willen hätten. Stampfer ist sich klar darüber, dass eine Wahlrechtsbewegung in Preußen und Sachsen mehr bedeutet als etwa in Bayern oder Österreich. Dass sie nicht ein bloßes Streben nach Verbesserung einiger Schönheitsfehler darstellt, die auch andere Parteien belästigen. sondern dass sie ein Drängen nach dem politischen Sturze der herrschenden Klasse in sich schließt. dass sie auszufechten ist als eine Machtfrage im Kampfe mit der brutalsten und stärksten herrschenden Klasse der Well – vor allem mit dem Junkertum. Wie stellt er sich nun die Anfechtung eines derartigen Riesenkampfes vor, der in seiner Art ebenso eine Weltwende bedeutet wie die russische Revolution? Er vermisst bei der ganzen bisherigen Aktion den „Mangel eines planmäßigen Vorgehens". Er meint also, der Parteivorstand hätte einen geheimen Kriegsplan entwerfen zum Sturze des Junkertums, jeder Waffe ihren Platz und die Zeit ihres Eingreifens bestimmen, endlich dieses systematisch vorbereiten und in Szene setzen müssen. Stampfer und seine Freunde glaubten, der Parteivorstand sei schon nach Jena gegangen mit der Absicht. durch die Massenstreikresolution diese Aktion einzuleiten. Als dann kurz danach die Wahlrechtsbewegung stärker einsetzte, sahen sie darin den ersten Schritt auf jener Bahn, die planmäßig immer weiter gehen, die Erregung immer mehr steigern, mit immer stärkeren Mitteln arbeiten sollte, Massenspaziergänge, Halbtagesstreiks, Dreitagestreiks, Straßendemonstrationen, schließlich der wohlvorbereitete Massenstreik! Dieser Plan sollte durchgeführt werden mit allen Mitteln, um jeden Preis, wie immer auch die Situation sich gestalten mochte: „Nichts wäre verfehlter, als auf den Eintritt einer revolutionären Situation zu warten etwa darauf, dass der Thron der Romanows zusammenbricht.. Durch das Abwarten revolutionärer Situationen bricht kein Zarenthron und auch kein Junkerregiment zusammen. Und wenn die russischen Genossen unter Einsetzung ihrer ganzen Persönlichkeit mit Schweiß und Blut die revolutionäre Situation schaffen müssen, in der der Thron der Despotie zusammenbrechen soll, so ist es von den deutschen Genossen nicht zu viel verlangt, dass auch sie in Preußen eine ,revolutionäre Situation' schaffen sollen, die dem Dreiklassenwahlrecht ein Ende bereitet. Hier heißt es: ,Der Krieg muss den Krieg ernähren', aus sich selbst muss die preußische Wahlrechtsbewegung die Kräfte ziehen, die sie in Stand setzen, siegreich zu enden. Und bräche in Russland nicht der Zarenthron, sondern die Revolution zusammen, und würde Frankreich eine Monarchie statt einer demokratischen Republik, und lieferte England die Schule den Pfaffen aus … hier in Preußen ist unser Rhodus, hier wird getanzt: wir wollen das Wahlrecht haben!" Jetzt noch, verlangt Stampfer, sollte das Versäumte nachgeholt werden, und das ist die Frage, die ihn beim Massenstreik interessiert: es soll genau bestimmt werden, was die Partei zur Herbeiführung der ersehnten Situation „unternehmen, welche Vorbereitungen" sie für den Massenstreik treffen, welchen „politisch wichtigen Zeitpunkt" sie für seine Anwendung festsetzen will. Auf diese Weise, denken sich Stampfer und seine Freunde, soll eine politische Umwälzung von so kolossaler Bedeutung, wie der Sturz des Junkertums, herbeigeführt werden, des Junkertums, das seit Jahrhunderten Preußen, seine Kriege, seine Armeen, seine Verwaltung, seine Bourgeoisie sich dienstbar gemacht hat. Auf den Willen, nicht auf die Situation, kommt bei Stampfer alles an. Einen Artikel zu Lassalles Todestag schließt er mit den Worten: „Die Millionen brauchen nur zu wollen, so stark, so kühn, so ganz auf Eines und nur auf das Eine gerichtet. wie Lassalle wollte, und sie sind frei!" Kindlicher kann man sich eine so gewaltige politische Aktion kaum vorstellen. Wenn das einem Genossen passiert, der kürzlich erst von den Nationalsozialen zu uns kam, ist das nicht verwunderlich. Die lebten nur von derartigen kindlichen Illusionen, gingen freilich daran auch zugrunde. Aber von Genossen die seit einem Dutzend von Jahren und länger bei der Partei sind und sich seit jeher als berufene Vertreter der materialistischen Geschichtsauffassung fühlen, sollte man mehr Verständnis für diese und die darauf beruhende Taktik unserer Partei erwarten. Leider muss man bei solchen Auseinandersetzungen immer wieder mit dem Abc beginnen. Die Politik der Sozialdemokratie beruht auf der Erkenntnis, dass, um mit Marx zu sprechen, nicht der bloße Wille das Triebrad der geschichtlichen Entwicklung ist, sondern die wirklichen Verhältnisse. Die Grundtatsache, von der der marxistische Politiker auszugehen hat, ist der Klassenkampf. Die erste Aufgabe des Politikers besteht darin, sich über die Ursachen dieses Klassenkampfes, seine Tendenzen, das Ende, auf das er hinausläuft, klar zu werden. Daraus schöpft er die grundsätzliche Auffassung des Endziels, auf das er in seiner Politik hinzuarbeiten hat, und der Mittel und Wege, also der Taktik, durch die auf das Endziel hingewirkt werden soll. Die heutige Höhe der ökonomischen und historischen Erkenntnis ermöglicht ihm dabei einen hohen Grad der Sicherheit zu erlangen. Nicht mit gleicher Sicherheit lässt sich aber die Anwendung dieser Grundsätze in jedem gegebenen Moment festsetzen. Die Gesetze der Gesellschaftswissenschaften werden durch Massenbeobachtungen gewonnen und gelten auch nur für Massenerscheinungen. Je kleiner der Kreis oder die Zeitspanne, worin man wirkt, desto mehr machen sich störende Momente geltend, die das Wirken der großen Gesetze durchkreuzen, mitunter, wenn auch nur vorübergehend, es geradezu aufheben können. Auch diese störenden Momente treten mit Notwendigkeit auf, könnten genau vorausgesehen werden, wenn man alle Faktoren genau wüsste, von denen sie erzeugt werden. Aber die Zahl solcher Faktoren ist eine so ungeheure, dass es unmöglich ist. sie alle zu erfassen und zu bestimmen. So spielt bei jeder menschlichen Aktion, auch bei der Politik, das Unberechenbare eine große Rolle. Der Fortschritt der Wissenschaft mag das Bereich dieses Unberechenbaren immer mehr einschränken, es völlig aufzuheben vermag er nicht. Bis zu einem gewissen Grade unberechenbar, sind diese Momente in der kapitalistischen Gesellschaft überdies aber rasch wechselnd, da sie ja in beständiger Umwälzung begriffen ist, immer wieder neue, noch unerkannte, unerprobte Elemente erzeugt. Ein Politiker, der mit Stampfer die gegebenen Verhältnisse als einen „feststehenden Faktor seiner Berechnungen" ansieht und daraufhin weit ausschauende Aktionspläne entwirft. hat auf Sand gebaut. Natürlich muss jeder weiter blickende Politiker versuchen, ein Bild der kommenden Entwicklung auf dem Studium der gegebenen Tatsachen abzuleiten, um die Grundlage einer einheitlichen, zielbewussten Politik zu gewinnen. Wer aber dabei mehr anstrebt als die Festsetzung bestimmter Grundsätze des Handelns, wer einen Aktionsplan für weit hinaus entwirft, wird leicht von den Tatsachen ad absurdum geführt werden. Wer sich aber gar darauf versteift, wie es Stampfer und seine Freunde vom Parteivorstand fordern, den einmal gefassten Plan, den sie ihm unterschieben, als „einmal eingegangene Verpflichtungen" um jeden Preis durchzuführen, ohne Rücksicht auf „die Verhältnisse, die eben keine „force majeure" sind, ohne Rücksicht darauf, was in Europa geschieht: wer solche Politik treibt, ist imstande, die stärkste Partei rasch zugrunde zu richten. Freilich gibt es Situationen, wo man auch Niederlagen wagen muss, wo nichts schlimmer, nichts demoralisierender ist als kampfloser Rückzug. Aber kein Held, sondern ein Narr, und zwar ein gemeingefährlicher Narr ist, wer bewusst Situationen provoziert, die zu einer Niederlage führen müssen. Die heroische Niederlage der Pariser Kommune hat den internationalen Sozialismus mächtig befruchtet. Aber sie hätte anders gewirkt. wenn die Erhebung von Paris gegen ganz Frankreich den Parisern nicht durch Thiers aufgezwungen, sondern von der „Internationale" planmäßig herbeigeführt worden wäre. Wohl muss ein Politiker für bestimmte Situationen, die er voraussieht, auch seine Pläne entwerfen, aber feste Pläne kann man nur fassen für beschränkte, genau voraus zu bestimmende Aktionen, deren Bedingungen von vornherein feststehen, wie zum Beispiel Wahlkämpfe. Aber auch da kann der Feldzugsplan nur einen Leitfaden bilden, der ein einheitliches Zusammenwirken ermöglicht, nie aber ein bindende „Verpflichtung", die unter allen Umstanden zu erfüllen ist, wie auch die Verhältnisse sich gestalten mögen. Die erste Bedingung des Erfolgs für einen politischen Massenlenker ebenso wie für einen Schlachtenlenker ist die, sich nie in einen bestimmten Plan festzubeißen, stets bereit sein, seine Pläne zu ändern, wenn unvorhergesehene Umstände es erheischen. Das Unvorhergesehene bei seinem Eintreten stets sofort erkennen und richtig abschätzen, ist eine der größten Tugenden für jeden Leiter einer Kampagne. Für große, historische Aktionen, wie den Kampf ums preußische Wahlrecht. den die Verhältnisse identisch machen mit einem Kampfe zur Niederringung der in Preußen herrschenden Klassen, können aber Pläne von vornherein nicht entworfen werden. Für solche große Aktionen, die jahrzehntelang dauern können, gibt es nur einen sicheren Leitfaden: unsere Grundsätze. Nie haben Marx und Engels sich damit beschäftigt, detaillierte Aktionspläne zur Herbeiführung oder „Schaffung" „revolutionärer Situationen" zu entwerfen. Sie verwandten ihre ganze Geisteskraft darauf, die tatsächlichen Verhältnisse zu studieren, aus ihnen das Endziel und die Mittel zu seiner Gewinnung immer klarer abzuleiten, das Proletariat darüber aufzuklären und zu organisieren, damit es die nötige Einsicht und Kraft besitze, jeder eintretenden Situation gewachsen zu sein, diese zu verstehen und rasch und energisch auszunutzen. Darin und nicht im Schaffen „revolutionärer" Situationen durch besondere Aktionspläne sahen sie die Aufgabe des sozialistischen Politikers. Und so sehr sie die Revolution herbeisehnten, wie sehr ihr ganzes Wirren dahin ging, sie zu beschleunigen, sie haben stets ihr Handeln den wechselnden wirklichen Verhältnissen angepasst und sich nie verpflichtet gefühlt, ohne Rücksicht darauf revolutionäre Situationen schaffen zu wollen. Nach der Niederschlagung der Revolution von 1848 waren Marx und Engels unter den Revolutionären die ersten, die aus dem Studium der ökonomischen Entwicklung zu der Einsicht gelangten, dass die eingetretene Ära der Prosperität der Revolution zunächst ein Ende mache. Die ethisch-ästhetischen Revolutionäre, die Louis Blanc, Mazzini, Ruge, Kinkel, Willich usw. wendeten sich mit massenhafter Entrüstung gegen diese „krämerhafte buchmäßige Kalkulation" und fuhren fort, mit Löwenstimme dem Volke seine Schmach vorzuhalten und alles aufzubieten, um revolutionäre Situationen zu schaffen. Aber bekanntlich hatten die erhabensten Ausbrüche sittlicher Entrüstung dieser „Ritter vom edelmütigen Bewusstsein", wie Marx. einen von ihnen nannte, nicht den mindesten Erfolg. Die krämerhaften Kalkulatoren behielten recht. Durch den Einfluss von Marx und Engels wurde in der deutschen Sozialdemokratie der Gefühlssozialismus sehr zurückgedrängt. Aber ganz verschwand er nie, und er machte sich wieder stark bemerkbar unmittelbar nach Erlass des Sozialistengesetzes. Ja, das war noch ein ganz anderes Attentat auf die Würde des Proletariats, als der Hamburger Wahlrechtsraub. Wenn je, war damals die Veranlassung gegeben, eine revolutionäre Situation zu schaffen, selbst um den Preis einer Niederlage. So dachten damals auch Johann Most und Hasselmann, zwei höchst begabte Journalisten, die zu unseren besten Federn gehörten. Aber die marxistisch geschulte Partei kalkulierte krämerhaft genug, ihnen nicht zu folgen und das Sozialistengesetz in der der Situation angepassten Weise zu bekämpfen bis zu dem Tage, da die Situation ihr erlaubte, es zu zerbrechen. Auch jetzt hat der Parteivorstand dieser Auffassung entsprechend gehandelt. Seine Massenstreikresolution in Jena entsprang nicht einem geheimen Kriegsplan, der Absicht, jetzt eine besondere Aktion zum Sturze des Junkertums zu eröffnen, sondern sie war diktiert durch die Erkenntnis der gegebenen Situation, die die Gegensätze in Deutschland immer mehr zuspitzt, es immer leichter möglich macht, dass irgend ein gewaltiges Ereignis uns vor Aufgaben stellt, denen wir mit den bisherigen Mitteln nicht genügen, so dass wir uns rüsten müssen, diese durch den Massenstreik zu ergänzen. Als dann ein gewaltiges Ereignis eintraf, die glorreichen Oktobertage in Russland, da fühlte sich die Arbeiterklasse ganz Europas elektrisiert, da war eine Situation geschaffen, die ausgenutzt werden musste zu jenem Kampfe, der uns jetzt am meisten am Herzen, zum Kampfe um ein besseres Wahlrecht zu den Landtagen. Hätte damals der Parteivorstand diese Agitation zu hintertreiben gesucht, so wäre das eine schwere Versündigung gegen unsere Sache gewesen. Und die Bewegung des Januar ist nicht fruchtlos gewesen, hat auf weite Schichten des Proletariats gewirkt. Bald aber hatte die Bewegung ein Stadium erreicht. wo sie, sollte sie weiter fortgehen, mit den bisherigen Methoden nicht mehr auskam. Wollte man sie fortfahren, musste man sich zur Anwendung stärkerer Pressionsmittel entschließen. Solche Mittel sind in Preußen stets aus den entschlossenen Widerstand der Regierung gestoßen. Diesmal war noch ein energischerer Widerstand zu erwarten, denn dieselbe Ursache, die russische Revolution. die das deutsche Proletariat aufwühlte, peitschte die herrschenden Klassen Deutschlands in sinnlose Angst und Wut hinein. Unter diesen Umständen hätte ein Weitertreiben der Bewegung über die erreichten Grenzen hinaus nur dann Erfolg versprochen, wenn mit dem wachsenden Drange nach gewaltsamer Niederwerfung jeder stärkeren proletarischen Regung auf der einen Seite gleichzeitig auf der anderen Seite eine in gleichem Maße wachsende, unwiderstehliche Aufregung und Empörung der Volksmassen eingetreten wäre. Das war nicht der Fall. Im Gegenteil, das Fehlschlagen der Moskauer Erhebung und dessen Folgen „glätteten die revolutionsromantischen Wogen", allerdings nicht so „erheblich", wie Genosse Paul Müller in der bekannten Konferenz befriedigt von der Niederlage der russischen Revolution konstatierte, hinderte aber doch eine weitere Erhitzung der Massen über die bereits erlangte Temperatur hinaus. In dieser Situation dem Wahlrechtskampf eine Wendung zu geben, die nur mit dem Massenstreik enden konnte, wäre vollendeter Wahnsinn gewesen. Die Partei stand vor der Wahl, die begonnene Aktion in einer Weise enden zu lassen, die einigen Kritikern Gelegenheit gab, sich als überlegene Geister zu zeigen, sonst aber keinen Schaden anrichtete und die Partei intakt ließ, oder aber diese einer vernichtenden Niederlage entgegen zu führen, die sie gerade am Vorabend großer Kämpfe für Jahre hinaus völlig kampfunfähig gemacht hätte. Der Parteivorstand und die ganze Partei entschied sich für die erstere Alternative, und sie haben damit vollkommen der Situation entsprechend gehandelt und ihre Pflicht getan. Gleichzeitig vollzog sich in Frankreich eine ähnliche Bewegung, aber unter viel geringerer Gefährdung der kämpfenden Organisationen. Wenn wir das gleiche Wahlrecht zu den Landtagen zur nächsten Kampfparole gemacht haben, so die französischen Arbeiter den Achtstundentag. Die Gewerkschafter Frankreichs entwarfen, in ähnlicher Weise wie Stampfer und seine Freunde es bei uns verlangen, einen Aktionsplan für lange hinaus, setzten einen bestimmten Termin für den Beginn der großen Aktion fest, ohne Rücksicht auf die wirkliche Situation. Die zum Siege nötige Situation sollte in genau vorausbestimmter Weise vom 1. Mai an geschaffen werden. Es ging also alles ganz so „planmäßig" vor sich, wie es Stampfer von unserer Partei verlangt. Die französischen Syndikalisten erklärten auch, ganz wie Stampfer und seine Freunde, der bestehende Zustand sei eine Schmach, sie wollten nun endlich einmal einen Fortschritt sehen, es müsse um jeden Preis eine Situation geschaffen werden, die über sich selbst hinaustreibe, der Krieg müsse den Krieg ernähren, es gelte, auch eine Niederlage zu wagen, und so zogen sie aus, den Achtstundentag durch die direkte Aktion zu erobern. Mit welchem Erfolg, das haben wir gesehen. Sie hatten keine so starke und rücksichtslose Regierung sich gegenüber wie wir, die Kapitalisten fühlten sich kräftig genug, in rein ökonomischem Kampfe der Arbeiter Herr zu werden, die Verkürzung der Arbeitszeit bedroht auch nicht so sehr den Lebensnerv des herrschenden Regimes, wie bei uns die Eroberung des preußischen Landtags durch die Sozialdemokratie. So ward der Kampf in Frankreich nicht zu einer Entscheidungsschlacht. die mit der gewaltsamen Niederwerfung des Gegners endete. Und doch sind die Folgen der misslungenen Aktion für die französischen Gewerkschaften höchst unerfreuliche. Stampfer beruft sich auf unsere russischen Genossen, die mit „Schweiß und Blut die revolutionäre Situation schaffen müssen". Aber die russischen Sozialdemokraten, die Axelrod und Plechanow, die Luxemburg und Parvus, haben diese Auffassung von den Aufgaben der russischen Revolutionäre stets zurückgewiesen, wie mancher Strauß im „Vorwärts" bezeugt hat. Unsere russischen Genossen wissen sehr wohl, dass nicht eine planmäßig vorbereitete Aktion die revolutionäre Situation Russlands geschaffen hat und noch weiter schafft. sondern dass das durch gesellschaftliche Verhältnisse bewirkt wird, die absichtlich herbeizuführen oder zu verhindern kein Mensch, keine Organisation vermag. Die heutige revolutionäre Situation wurde geschaffen durch die industrielle Entwicklung, die ein Proletariat hervorrief, welches der politischen Freiheit dringend bedarf. Sie wurde geschaffen durch die landwirtschaftliche Entwicklung, die die bäuerliche Landwirtschaft ruinierte und die Bauernschaft zur Verzweiflung brachte. Sie wurde geschaffen durch den Niedergang der Staatsfinanzen, die dem Bankrott immer rascher entgegeneilen. Sie wurde geschaffen endlich durch den Krieg, der die Korruption, die Unfähigkeit. die immense Schädlichkeit des Absolutismus für die breitesten Volksmassen zutage brachte und diese aufs Äußerste empörte. Welche dieser Ursachen der heutigen revolutionären Situation wäre von einer Partei planmäßig geschaffen worden? Unsere Genossen hatten und haben vollauf zu tun diese Situation auszunutzen, die revolutionären Klassen in stetem Kampfe gegen das herrschende Regime über ihre Aufgaben und die wirksamsten Mittel zu ihrer Erfüllung aufzuklären und zu organisieren, um sie geschlossen in die Schlacht zu führen, wenn die günstige Situation dazu gekommen. Ihre Zuversicht aber beruht darauf, dass die Dinge selbst sich in einer Weise entwickeln, die mit Naturnotwendigkeit revolutionäre Situationen schafft. in denen revolutionäre Erhebungen aussichtslos würden. Hinge der Fortgang der Revolution von einem für lange hinaus entworfenen und nun Schritt auf Schritt zu verwirklichenden Kriegsplan ab, dann könnte man wohl befürchten, es werde dem Zarentum gelingen, die Revolution in „Schweiß und Blut" derer zu ersticken, die diesen Plan entworfen haben und zur Ausführung bringen wollen. Aber die ökonomisch-historische Einsicht der Sozialdemokratie zeigt ihr, dass die Quellen der jetzigen Revolution unversiegbar sind. Eine Revolution, die aus so tiefen ökonomischen Quellen entspringt, die so sehr die gesamte Masse der Nation erfasst hat, kann ihr Ende nicht finden, solange nicht entweder alle Klassen aufs Äußerste erschöpft oder die Grundlagen einer erneuten Prosperität gegeben sind. Die französische Revolution konnte erst enden, nachdem die glücklichen Kriege reiche Beute gebracht und eine Kapitalistenklasse geschaffen hatten, die dem ganzen Produktionsprozess einen gewaltigen Anstoß gab. Andererseits war die Revolution von 1848-49 erst dann völlig zu Ende, als die Ära der Prosperität kam. Gelänge es dem Zarismus, eine solche Ära des wirtschaftlichen Aufschwunges zu schaffen, wie sie dem Staatsstreich Napoleons III. folgte, dann allerdings wären die Aussichten der Revolution höchst zweifelhaft – dann würden aber erst recht alle Bemühungen umsonst sein, die sterbende Revolution durch „Schweiß und Blut" künstlich zu galvanisieren. Von einer solchen Prosperität ist jedoch Russland weiter entfernt als je. Die ökonomische Depression wächst unaufhaltsam und muss in diesem Winter eine furchtbare Höhe erreichen. Die Erzeugung der beiden Hauptausfuhrprodukte Russlands, Petroleum und Getreide, ist in diesem Jahre erheblich zurückgegangen. Die Missernte ist eine so gewaltige, dass das ungarische Ackerbauministerium annimmt. das russische Reich werde Roggen nicht nur nicht ausführen können, sondern sogar in hohem Maße einführen müssen. Bisher hat Russland schon für 4 Millionen Meterzentner Getreide zur Einfuhr gekauft, und weitere Einkäufe stehen bevor. Mit der Ausfuhr von Lebensmitteln und Petroleum bezahlt aber Russland seine Schuldenzinsen ans Ausland, die jetzt eine Milliarde Mark jährlich betragen: man sieht, der Bankrott naht mit Riesenschritten. Der Bankrott des Staates, aber auch des ganzen wirtschaftlichen Lebens der Nation. Durch die Bekämpfung der Revolution ruiniert das noch fort vegetierende Regime die letzten Reste von Wohlstand, ja von Existenzmöglichkeit, die es bisher verschont – und das ist die einzige Regierungstätigkeit, zu der es noch fähig ist. Die Regierung ist nur noch eine Horde plündernder Banditen. Sie schützt das Eigentum durch Mordbrennerei, stellt die Ordnung wieder her durch Aufhetzung des vertiertesten Lumpenproletariats. Sie stellt die gesamten produzierenden Klassen des Reiches immer mehr vor die Wahl, entweder direkt unterzugehen oder sich gegen die Regierung zu empören. Möglich, dass sie noch einige Zeit lang nicht die Kraft finden, die Regierung niederzuwerfen, aber auf keinen Fall wird es der absolutistischen Regierung mehr gelingen, das Land zur Ruhe zu bringen. Jeder Augenblickssieg des Zarismus bedeutet nur eine Verlängerung der Revolution, bedeutet aber auch eine Vergrößerung des ungeheuren schließlichen Bankrotts, der ihn begraben muss. Dieser Zusammenbruch wird aber auf kein Land in größerem Maße zurückwirken als auf Deutschland, das der russischen Revolution nicht nur geographisch am nächsten steht und durch die polnischen Landesteile mit ihr verwoben ist. sondern wo auch die Klassengegensätze heute viel schroffer zugespitzt sind als in irgend einem Lande Europas. Vielleicht fällt der russische Zusammenbruch zusammen mit der allgemeinen ökonomischen Krise, die jetzt bald fällig wird und die um so verheerender wirken muss, je länger die vorhergehende Periode der Prosperität gewesen vielleicht wird der russische Bankrott sogar der Ausgangspunkt dieser Krise. Auf keinen Fall wird es in den nächsten Jahren an Zündstoff fehlen, sicher muss man auf große und schwere Kämpfe gefasst und gerüstet sein. Deshalb, weil die Verhältnisse revolutionäre Situationen schaffen, nicht weil wir planmäßig revolutionäre Situationen schaffen wollen, ist es dringend notwendig, den Massenstreik zu diskutieren. Wir müssen darauf gefasst sein, dass urplötzlich, über Nacht. eine Situation hereinbricht, die ihn unerlässlich macht. Da heißt es, den Massen vorher schon Klarheit über diese neue Waffe beizubringen. Man glaube ja nicht, dass nun alles wieder vorbei sei und wir uns ruhig schlafen legen müssten. Nein, die Revolution in Russland hat erst angefangen, es wird noch weit besser kommen, und dann gerät auch Deutschland wieder in stärkere Bewegung. Alle jene Genossen, die jetzt, im Juli und August, plötzlich vom unterdrückten Tatendrang des Januar befallen wurden, werden noch Gelegenheit finden, ihm Luft zu machen. Aber allerdings, wenn sie fruchtbringend wirken wollen, müssen sie vor allem ihre Auffassung aufgeben, als könne man historische Situationen durch planmäßig vorbereitete, für einen bestimmten Termin angesagte Aktionen nach Belieben schaffen. Diese Auffassung ist nichts als eine Wiederaufwärmung des alten Putschismus, bloß aus der Sprache des bewaffneten Aufstandes in die des Massenstreiks übersetzt. Nein, die wirklichen Verhältnisse sind das Triebrad der geschichtlichen Entwicklung. Sie zu begreifen, um ihnen entsprechend zu handeln, nicht Situationen vorbereiten und schaffen, sondern uns selbst vorbereiten durch Aufklärung und Organisation, um allen Situationen gewachsen zu sein, die von Faktoren geschaffen werden, welche mächtiger sind als jedes Individuum, jede Organisation von Individuen, das ist unsere Ausgabe. Je besser wir sie verstehen und sie lösen, um so besser werden wir jede historische Situation aufs Rascheste und Energischste im Interesse unserer großen Sache ausnutzen können und gewappnet sein für alle, auch die überraschendsten Wendungen. Das heißt nicht, tatlos auf den Messias warten, der uns ohne unser Zutun erlösen wird. Diese unsere Aufgaben können gar nicht gelöst werden ohne Kampf, ohne unermüdlichen, energischen Kampf. Nur im Kampfe können wir das Proletariat aufklären und schulen. Nicht das kommt in Frage, ob wir kämpfen sollen oder nicht, sondern welche Waffen wir im Kampfe anwenden sollen. Es wurde oben schon darauf hingewiesen dass der Klassenkampf die Grundtatsache ist, von der das ganze Wirken der Sozialdemokratie ausgeht. Was wechselt, ist nicht die Tatsache des Kampfes, sondern die Methoden und Waffen, die dabei in Anwendung kommen. Diese müssen sich nach den jeweiligen Situationen richten und ihnen angepasst werden. Die Erfahrung ist dabei die beste Lehrmeisterin, aber durch Studieren und Nachdenken kann man sich manche bittere Erfahrung ersparen. Das gilt vor allem für neue, noch wenig erprobte Waffen wie den Massenstreit. Wer dieses Studium hochmütig abweist, wer glaubt, beim Massenstreik und sonstigen Kampfesmethoden komme es nur auf das Wollen, nicht auf das „Kalkulieren" an, man müsse ohne vieles „Spekulieren" dabei auch Niederlagen wagen, der gehört als Politiker auf die gleiche Stufe mit jenen militärischen Taktikern, die aus rein ethisch-ästhetischem Empfinden heraus heute noch für große Kavallerieattacken schwärmen. Unsere Politiker wollen wir aber nicht danach bemessen, ob sie stets weitreichende Kriegspläne für die Anwendung bestimmter Waffen haben, die sie unter allen Umständen durchzuführen suchen, sondern danach, ob sie in jeder gegebenen Situation am zweckmäßigsten handeln, die zweckmäßigste Waffe in Anwendung bringen. Dass dieses Handeln aber auch ein einheitliches, kein widerspruchsvolles ist, dass in den mannigfachen und wechselnden Situationen unser Handeln auch trotz aller Anpassung an die Verhältnisse immer in der gleichen Richtung geht, das wird nicht durch Ausarbeitung fester Pläne bewirkt. sondern durch feste, eifrigem Studium der Wirklichkeit entspringende Grundsätze des Zieles und der Taktik. Ohne solche Grundsätze verfallen wir haltlosem Opportunismus. Suchen wir aber an Stelle der mühevollen Arbeit der Gewinnung von Grundsätzen durch theoretische Studien die amüsantere Beschäftigung der Entwerfung großer Pläne zu setzen, die dann unter allen Umständen durchzuführen sind, so kommen wir aus dem Regen in die Traufe, aus dem haltlosen Opportunismus in eigensinniges Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-rennen-wollen. Der Marxismus weiß beides zu vermeiden, deshalb kommt er aber auch immer wieder mit beidem in Konflikt … und merkwürdigerweise geht beides so leicht in einander über. In der Tat sind es die Freunde Stampfers, die uns vor die Alternative stellen, entweder mit dem Kopfe durch die Wand rennen bei der Anwendung des Massenstreiks oder versuchen, einen ultramontan-freisinnig-sozialdemokratischen Wahlreformbrei als eherne Karnpfesphalanx zusammen zu kochen. Die Sozialdemokratie aber wird auf die eine Alternative ebenso wenig verfallen wie auf die andere, die nervöse Ungeduld ihr setzt, und zwischen beiden unbeirrt ihren bisherigen Weg weiter verfolgen, für die gewaltigsten Situationen gewappnet, nach Kampf dürstend, jede Gelegenheit benutzend, dem Gegner einen Schlag zu versetzen, aber es ablehnend, bestimmte Situationen künstlich herbei zwingen oder herbei listen zu wollen. |
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