Karl Kautsky: Leben, Wissenschaft und Ethik [Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 24.1905-1906, 2. Band (1905-1906), Heft 42 (11. Juli 1906), S. 516-529] Der Artikel des Genossen Bauer über Ethik ist sehr wohldurchdacht und konsequent und enthält eine Reihe sehr beachtenswerter und höchst sympathischer Gedanken. Er tritt auch nicht als Ablehnung sondern als Ergänzung meiner Auffassung auf. Trotzdem und trotz der großen Übereinstimmung, die zwischen und in den wichtigsten konkreten Fragen besteht, sehe ich mich gezwungen, seinen Standpunkt zu bekämpfen. Genosse Bauer beanstandet nicht die wissenschaftliche Seite meines Schriftchens über die Ethik, sondern seine praktische Seite. Wohl steht er auch manchen Tatsachen, die ich vorbringe, skeptisch gegenüber. Er meint, meine „Vorliebe für die Rückführung ethischer Erscheinungen auf solche des tierischen Lebens" sei „nicht ungefährlich", da der Mensch die Tiere gerne nach seinem Ebenbild formt. Sicher liegt darin eine Gefahr, sobald man tierische und menschliche Äußerungen miteinander vergleicht. Aber diese Vergleichung ist einmal unentbehrlich, will man die Entwicklung des Menschen begreifen, sie entspringt nicht einer launenhaften „Vorliebe", und wenn mit dieser Methode „Gefahren" verbunden sich so beweist das nicht, dass man ihnen aus dem Wege gehen soll, indem man von derartigen Vergleichungen Abstand nimmt und die Forschung auf diesem Gebiet unterlässt, sondern dass man die Gefahren voreiliger Schlüsse durch peinliche Prüfung und Kritik der Tatsachen zu überwinden hat. Übrigens glaube ich mich vor der Gefahr ungebührlicher Anthropomorphismen einigermaßen schon durch die Marxsche Schule geschützt, durch die ich gegangen. Marx und Engels haben stets den größten Wert darauf gelegt, bei der Vergleichung zweier Erscheinungen nicht nur das ihnen Gemeinsame, sondern auch das sie Unterscheidende, das jede von ihnen besonders Kennzeichnende herauszufinden. Und so war auch ich in meiner Schrift bemüht, nicht nur jene Seiten hervorzukehren, die Mensch und Tier miteinander gemeinsam haben, sondern auch jene, die sie unterscheiden. Ich habe für die einen nicht mehr „Vorliebe" wie für die anderen. Wohl aber sind es die Ethiker aller Art, die seit Jahrtausenden eine „Vorliebe" dafür entwickeln, den Menschen als ein in ethischer Beziehung übernatürliches Wesen erscheinen zu lassen, so dass sie, von dieser „Vorliebe" verführt, jede Gemeinschaft ethischen Empfindens zwischen Mensch und Tier leugnen und zum Beweis dafür einseitig alle jene Tatsachen hervorheben, die den Menschen von den niederen Tieren unterscheiden. Daher kommt es, dass es heute noch viel schwieriger, aber auch viel notwendiger ist, jene ethischen Erscheinungen herauszufinden, die dem Menschen mit den niederen Tieren gemeinsam sind, als jene, die ihn von diesen trennen; und dass die „Gefahr" viel näher liegt, bei einer Vergleichung von Tier und Mensch nach der ethischen Seite die Kluft zwischen ihnen größer anzusehen als sie in Wirklichkeit ist, denn umgekehrt. Doch dies nur nebenbei. Der Haupteinwand, den Bauer gegen mich erhebt, hat mit Naturwissenschaft und Wissenschaft überhaupt nichts zu tun. Er ist praktischer Natur. Bauer führt uns einen arbeitslosen armen Teufel vor, dem das Angebot gemacht wird, zum Streikbrecher zu werden. Der Mann kommt zu Bauer und fragt ihn verzweifelt, was er tun soll? Soll er Weib und Kind verhungern lassen oder seinen Kameraden in den Rücken fallen? Otto Bauer weiß nichts Besseres zu tun als ihn mit einer ganzen Reihe von Zitaten aus meiner Schrift über die Ethik zu regulieren, kein Wunder, dass der Arbeitslose, der praktischen Rat, nicht graue Theorie verlangt, unwillig davonläuft. Bauer aber kommt dadurch zu der Erkenntnis, dass die Wissenschaft nicht in der Lage ist, eine „sittliche Frage des Lebens zu beantworten". Das ist sehr schön ausgeführt, aber zum Unglück für mich hat der Arbeitslose zu früh vor Bauers Vorlesungen Reißaus genommen. Bauer glaubt nämlich, das, was meine Ethik nicht zustande bringe, das vermöge die Kantsche Ethik. Er wähnt, wenn er dem armen Teufel statt einiger Zitate aus meiner Ethik einige aus der „Kritik der praktischen Vernunft" vorgelesen hätte, dann wäre dem unschlüssigen Arbeitslosen die Antwort zuteil geworden, nach der er so leidenschaftlich verlangte, und er hätte gewusst, was zu tun. Ich hoffe, bei dem nächsten Besuch, den sein Freund X. ihm abstattet, wird Genosse Bauer gleich mit der Vorlesung aus Kant beginnen und sich auf dessen Imperativ nicht erst besinnen, nachdem der Hilfesuchende weggelaufen. Wir werden dann sehen, was der dazu sagt. Da aber vorläufig praktische Erfahrungen über die Wirkung einer derartigen Vorlesung nicht vorliegen, müssen wir uns mit theoretischen Mutmaßungen darüber begnügen. Das Kantsche „Grundgesetz der reinen, praktischen Vernunft" lautet: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Nehmen wir nun an, dieser Satz mache so tiefen Eindruck auf den Arbeitslosen, dass er sich sofort entschließt, ihm entsprechend zu handeln. Ist damit auch schon entschieden, wie er handeln soll? Kann es das Prinzip einer „allgemeinen Gesetzgebung" sein, Weib und Kind verhungern zu lassen? Andererseits, ist es unter allen Umständen sittliche Pflicht, die Kameraden nicht im Stiche zu lassen? Handeln jene russischen Soldaten unsittlich, die sich bei einem Volksaufstand von ihren Kameraden trennen und auf das Militär schießen? Handelt ein Fabrikant unsittlich, der bei einem Streik aus dem Fabrikantenring austritt und im Gegensatz zu diesem seinen Arbeitern ihre Forderungen gewährt? Oder ein Arzt, der es bei einem Ärztestreik nicht über sich bringen kann. erkrankten Arbeitern seine Hilfe zu versagen? Der Kantsche kategorische Imperativ, der eine unbedingte, allgemeine Regel unseres Handelns sein soll, erweist sich, bei Lichte betrachtet, in einer ganzen Reihe von Fällen innerhalb der heutigen Gesellschaft als undurchführbar und unmöglich, weil er nicht, wie auch Bauer wieder annimmt, einen bloß formalen Charakter hat, sondern weil er eine bestimmte Gesellschaftsordnung voraussetzt, eine solche, in der eine allgemeine Gesetzgebung möglich ist und diese durch den bloßen guten Willen der einzelnen Individuen durchgeführt werden kann. Kants „Grundgesetz der reinen, praktischen Vernunft" hat nur dann einen Sinn, wenn in der Gesellschaft, in der wir leben, eine „allgemeine Gesetzgebung", das heißt, ein widerspruchsloses System von Forderungen an den einzelnen möglich und der Wille des Einzelnen frei ist, es bloß vom Wollen des Individuums abhängt, diese Forderungen durchzuführen oder nicht. Kant führte die Gegensätze in der Gesellschaft bloß auf einen Gegensatz innerhalb des einzelnen Menschen zurück, auf den Gegensatz zwischen seiner Geselligkeit und seiner Ungeselligkeit, auf die „ungesellige Geselligkeit des Menschen", wie er sich in seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte" ausdrückt. Kant hatte keine Ahnung davon, dass die gesellschaftlichen Gegensätze aus Faktoren entspringen, die unabhängig von dem Wollen und dem Bewusstsein des Einzelnen entstehen und wirken, dass die Gegensätze der Gesellschaft nicht bloß Gegensätze einzelner Individuen sind, sondern auch Gegensätze von Klassen, dass sie nicht nur stete Kollisionen zwischen Eigeninteresse und Gesamtinteresse, sondern auch stete Kollisionen der Pflichten gegenüber den verschiedenen Gemeinschaften hervorrufen, denen das Individuum angehört. Dass bei Kollisionen zwischen Eigeninteresse und Gesamtinteresse stets das letztere das höhere ist, das erstere weichen muss, ist allerdings das Grundgesetz aller Ethik, der kategorische Imperativ, der allen moralischen Maximen und Empfindungen von den untersten Stufen der Tierwelt bis zu den höchsten Spitzen der Menschheit zugrunde liegt. will man das Kantsche Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft in gleichem Sinne auffassen, dann wären wir freilich mit Kant wenigstens im Resultat einig, wobei aber immer noch die ungeheure Differenz der Methode bliebe. Denn wir ziehen unser ethisches Grundgesetz aus der Beobachtung der Wirklichkeit, aus der Erfahrung, aus dem Wesen jeglicher Gesellschaft, und zwar ohne Unterscheidung zwischen Mensch und Tier. Kant dagegen und ebenso alle Kantianer, mögen sie nun das sein, was Bauer Vulgärkantianer nennt oder höchst verfeinerte Überkantianer, sie alle suchen ein ethisches Grundgesetz, dessen zwingende Gewalt daher rühren soll, dass es außer aller Erfahrung, über aller Erfahrung steht, das ewige Geltung beanspruchen, für alle vernünftigen Wesen gelten soll, bei Kant auch für Heilige und Engel und den lieben Gott selbst, nicht aber für die unvernünftigen Tiere. Dieses Sittengesetz wird rein aus der Luft geholt, aus der Zergliederung der reinen praktischen Vernunft, die vor jeder Erfahrung da ist, und gerade in dieser Reinheit, in dieser Unbeflecktheit von aller irdischen Erfahrung sehen Kant und seine Anhänger die Gewähr für seine Ewigkeit und seine zwingende Kraft. Also selbst wenn wir annehmen, dass der Inhalt des ethischen Grundgesetzes hier wie dort derselbe ist, unterscheiden sich schon durch diesen Gegensatz der Methoden unsere und die Kantsche Ethik wie Feuer und Wasser. Aber ihre Unvereinbarkeit zeigt sich weiter noch dann, wenn man in dem Grundgesetz mehr sucht als einen bloßen Gemeinplatz und den Begriff der Gesellschaft zergliedert, der jeder der beiden Auffassungen tatsächlich, wenn auch bei Kant bloß unbewusst und inkonsequent, zugrunde liegt. Kant kennt eigentlich nur das Individuum und die Menschheit. Die einzelnen Gesellschaften sind ihm nur Haufen von Individuen, die sich gegenseitig schädigen oder fördern können, von denen aber im Wesentlichen jedes auf sich selbst angewiesen ist. Sehr bezeichnenderweise vergleicht Kant einmal in seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte usw." die menschliche Gesellschaft mit einem Walde, „dessen Bäume eben dadurch, dass ein jeder dem anderen Luft und Sonne zu benehmen sucht, einander nötigen, beides über sich zu suchen und dadurch einen schönem geraden Wuchs zu bekommen". In einem Walde erfüllen alle Individuen die gleichen Funktionen; sie stehen in enger Wechselwirkung, können einander Licht und Boden nehmen, aber auch einander stützen und vor dem Wüten des Sturmes bewahren. Aber da alle Individuen in gleicher Weise wirken, da es keine Arbeitsteilung unter ihnen gibt, ist die Zahl der Bäume unbegrenzt, die einen Wald bilden. Diese Zahl hängt bloß von äußeren Umständen ab, es können Hunderte oder Millionen sein, die ein Hektar oder einen ganzen Kontinent erfüllen. Die Unterscheidung der menschlichen Gesellschaft vom Walde sieht Kant bloß darin, dass die Menschen einen freien Willen haben, dass ihre Wechselwirkung von ihren Absichten, ihrem guten oder bösen Willen abhängt. Kant hatte keine Idee davon, dass die Gesellschaft mehr ist als ein Haufen zusammenlebender Individuen, dass sie ein Organismus ist, dessen Zellen, die Individuen, nicht bloß eine gegenseitige Wechselwirkung aufeinander ausüben, sondern die durch die Arbeitsteilung untereinander auch auf bestimmte Formen des Zusammenwirkens angewiesen sind, die nicht von ihrem guten oder bösen Willen abhängen, sondern von der Art der Produktivkräfte. Je nach der Art der Arbeitsteilung unterscheiden sich die verschiedenen Gesellschaften voneinander, ist die Größe jedes einzelnen gesellschaftlichen Organismus an bestimmte Grenzen gebunden; diese Arbeitsteilung schafft aber auch mannigfache Organe des gesellschaftlichen Organismus, kleinere Organisationen von Individuen innerhalb der Gesellschaft, namentlich Organisationen lokaler und beruflicher Art. Diese Organe wirken in strengster Abhängigkeit voneinander, sind stets auf ihr Zusammenwirken angewiesen, stehen aber in der bürgerlichen Gesellschaft in den größten Interessengegensätzen zueinander. Durch alles das wird das Wollen und Handeln der Individuen bestimmt. Jedes Individuum in einer höher entwickelten menschlichen Gesellschaft gehört aber nicht bloß einem einzigen ihrer Organe an, sondern mehreren derselben. Auch dann, wie in so vielem anderen, unterscheidet sich der Organismus der Gesellschaft vom tierischen oder pflanzlichen Organismus. Je mehr sich die bürgerliche Gesellschaft entwickelt, desto mehr werden die Pflichten des Einzelnen gegen die Gesamtheit verdunkelt und kompliziert durch die Pflichten des Einzelnen gegen einzelne Organe der Gesamtheit, desto mehr gesellt sich zu der Möglichkeit von Kollisionen zwischen Einzelinteresse und Gesamtinteresse auch die von Kollisionen zwischen den Interessen der einzelnen Organisationen, die die gesellschaftlichen Organe bilden. Kollisionen der letzteren Art sind es dann, die Gewissensfragen erzeugen, welche für den Einzelnen die quälendsten werden und auf die er so oft keine Antwort weiß, aus die ihm aber am allerwenigsten der Kantsche kategorische Imperativ eine Antwort gibt, da Kant die in den ökonomischen Verhältnissen notwendig bedingten sozialen Gegensätze aller Art bei seiner Ethik völlig außer Acht ließ und nach seiner Methode außer Acht lassen musste. Wo nur der Gegensatz zwischen Einzelinteresse und Gesamtinteresse in Frage kommt, da ist die Antwort in der Regel eine sehr einfache. So sagt denn auch Kant in seiner „Kritik der praktischen Vernunft": „Welche Form in der Maxime sich zur allgemeinen Gesetzgebung schicke, welche nicht, das kann der gemeinste Verstand ohne Unterweisung unterscheiden." Bei dem Beispiel, das er dafür gibt, ist unser Philosoph freilich nicht sehr glücklich. Er fährt fort: „Ich habe zum Beispiel es mir zur Maxime gemacht. mein Vermögen durch alle sichere Mittel zu vergrößern. Jetzt ist ein Depositum in meinen Händen, dessen Eigentümer verstorben ist und keine Handschrift darüber zurückgelassen hat. Natürlicherweise ist dies der Fall meiner Maxime. Jetzt will ich nur wissen, ob jene Maxime auch als allgemeines praktisches Gesetz gelten könne. Ich wende jene also auf gegenwärtigen Fall an und frage, ob sie wohl die Form eines Gesetzes annehmen, mithin ich wohl durch meine Maxime zugleich ein solches Gesetz geben könnte: dass jedermann ein Depositum ableugnen dürfe, dessen Niederlegung ihm niemand beweisen kann. Ich werde sofort gewahr, dass ein solches Prinzip, als Gesetz, sich selbst vernichten würde, weil es machen würde, dass es gar kein Depositum gäbe" („Kritik der praktischen Vernunft", Kirchmannsche Ausgabe, 1869, S. 36, 37) Dies ist das einzige Beispiel, das Kant für die Einfachheit und Untrüglichkeit seines Sittengesetzes gibt, und dieses einzige Beispiel, das einen ungewöhnlich einfachen Fall voraussetzt, ist falsch. Die praktische Vernunft des Weisen von Königsberg war so wenig praktisch, nicht zu erkennen, dass die Erhebung jener Maxime zum allgemeinen Gesetz nicht bewirkt, dass „es gar kein Depositum gäbe", sondern nur, dass jeder mit praktischer Vernunft einigermaßen Begabte kein Depositum ohne schriftliche Bescheinigung aus der Hand gibt. In der Regel handelt jeder, der ein Depositum bei einem anderen niederlegt, so, als wenn jene Maxime allgemeines Gesetz wäre. Durch das Kantsche Sittengesetz der reinen praktischen Vernunft wird daher das Unterschlagen von Depositen, die in vertrauensseliger Weise ohne Empfangsbestätigung abgegeben werden, noch lange nicht zu einer unsittlichen Handlung gestempelt. Wenn trotzdem jedermann sie sofort als solche betrachtet und beurteilt, so rührt dies daher, dass eine solche Unterschlagung eine Verletzung von Treue und Glauben ist, eine Verletzung sozialer Tugenden, ohne die keine Gesellschaft bestehen kann. Die Keime solcher Tugenden finden wir daher schon in der tierischen Gesellschaft, sie sind in uns zu einem kräftigen Instinkt geworden, so dass wir ihre Beachtung in einem gegebenen Falle, zum Beispiel des Depositums, ohne Weiteres auf das Entschiedenste von uns und unseren Genossen fordern, auch wenn wir gar keine Aussicht haben, jemals selbst in einen solchen Fall zu geraten, zum Beispiel ein Depositum abzugeben oder zu erhalten und es uns ganz gleichgültig lässt, ob es Depositen überhaupt gibt und geben kann oder nicht. Aber sowenig wir die Kantsche Begründung der Unsittlichkeit einer Unterschlagung akzeptieren können, so stimmen wir ihm doch vollkommen darin zu, dass in einem Falle, wie er ihn vorbringt, das sittliche Urteil ohne jede Schwierigkeit und lange Überlegung von jedermann in gleicher Weise gefällt werden wird. Ganz anders aber steht es mit dem Falle, den Bauer vorführt. Wohl meint dieser, dass es sich auch hier um den Gegensatz von persönlichem und allgemeinem Interesse handle, aber er ist dabei in einem merkwürdigen Irrtum befangen. Was seinen Fall zu einem so schwierigen macht, das ist der Umstand, dass jegliches persönliche Interesse dabei ausgeschlossen ist. Sein Freund X. verzweifelt, weil er vor der scheußlichen Alternative steht, entweder die Pflichten gegen Weib und Kind oder die gegen die Kameraden verletzen zu müssen. Bauer rechnet die ersteren Pflichten merkwürdigerweise zu Ausflüssen des Egoismus, des Eigeninteresses. Was nutzt uns aber die Kantsche „allgemeine Gesetzgebung" bei einem derartigen Konflikt der sittlichen Pflichten? Freilich, auch meine Ethik liefert keine Schablone, einen derartigen Konflikt ohne Weiteres in Wohlgefallen aufzulösen, aber wer marxistisch geschult ist, wird am ehesten den Weg finden, ihn zu überwinden. Hätte Genosse Bauer seinen verzweifelnden Freund zu mir geschickt, statt ihm Zitate, die mit seinem Falle nichts zu tun haben, aus meinem Buche vorzulesen, so hätte ich als Marxist, dem nichts absolut, alles relativ erscheint, statt nach einer absoluten Formel der Verpflichtung auszuschauen, vor allem versucht, herauszufinden, wie der Fall eigentlich liegt, welchen besonderen Zusammenhängen er entspringt. Da Freund X. ein so stark entwickeltes Klassengefühl hat, ist wohl anzunehmen, dass er einer gewerkschaftlichen Organisation angehört. Woher dann seine Notlage? Sie kann durch außerordentliche Unglücksfälle verursacht sein. Aber in solcher Situation, wenn er nur den Ausweg hat zwischen dem Streikbruch und dem Ruin seiner Familie, hat er das Recht, seinerseits an die Solidarität zu appellieren; den gesellschaftlichen Pflichten entsprechen gesellschaftliche Rechte. Besser als Streikbrecher zu werden ist es jedenfalls, von der Organisation der bessergestellten Kollegen eine Unterstützung zu verlangen, die über die Not hinweghilft. Sollten aber die Kollegen des X. etwa alle in gleicher Notlage sein wie X., sollte der Streik alle ihre Kräfte erschöpft haben. ihre Frauen und Kinder selbst hungern – ja dann entsteht die Frage, ob die Fortsetzung des Streiks noch einen Zweck hat, ob X. nicht trachten soll, dessen Aufhebung herbeizuführen. Diese Frage ist aber wieder nicht zu lösen durch einen kategorischen, rein formalen Imperativ, sondern durch ein Abwägen der Bedeutung des Kampfobjektes und der Opfer des Kampfes. Niemand wird fordern, dass die Arbeiter ihre Familien zugrunde gehen lassen, etwa bloß um einen groben Werkmeister los zu werden oder eine Frühstückspause um zehn Minuten auszudehnen. Aber sicher gibt es auch Fälle, in denen das Kampfobjekt so groß ist, dass es gilt, alles zu wagen, nicht bloß das eigene Leben, sondern auch das von Weib und Kind, zum Beispiel bei einem politischen Streik, wo es sich darum handelt, ein Mordsystem zu stürzen, das das ganze Land verwüstet und dessen Bewohner hinmetzelt. Aber in einem solchen Falle wird die nötige Begeisterung und Entschlossenheit sicher nie durch irgend eine Analyse der reinen praktischen Vernunft gewonnen werden, sondern nur durch den Kampf selbst und durch die Erkenntnis der Wichtigkeit seiner Ziele, der Unerlässlichkeit seiner Mittel. Da kann die ethische Klarheit und Entschiedenheit nur aus der Wissenschaft und vor allem dem Leben stammen, nie aus dem Bereich einer Ethik, die außer und über der Wissenschaft und dem Leben stehen soll. Sollte es aber in unserer widerspruchsvollen Gesellschaft Konflikte der Pflichten geben, so verwickelt, dass die aus dem Leben strömenden ethischen Kräfte, die aus der Wissenschaft strömenden Erkenntnisse nicht hinreichen, den Konflikt zu lösen, dann wird sich erst recht ohnmächtig der Kantsche kahle Formalismus erweisen, der selbst bei dem so einfachen, von ihm selbst gewählten Falle des Depositums versagte. II. Neben dem stark ethisch empfindenden Freunde X., der in ein Wirrsal von Konflikten der Pflichten gerät, aus dem ihn angeblich der kategorische Imperativ heraus leitet, während die marxistische Ethik versagen soll, führt und Genosse Bauer einen ethischen Skeptiker vor, der in dem Relativismus der marxistischen Ethik die Begründung seines Skeptizismus sieht, indes der Kantsche Imperativ diesen Skeptizismus unmöglich macht: „Wenn der ethische Skeptizismus an uns herantritt. der aus der Erkenntnis, dass die Materie des sittlichen Wollens wandelbar ist. dass kein inhaltlich bestimmtes Gebot überall und immer gilt, keine bestimmte Ethik die absolute ist, voreilig schließt. es gehe also überhaupt nicht an, die Maximen zu vergleichen, die Gebote der einen als Imperative gelten zu lassen, die der anderen als bloße Maximen zu enthüllen: dann zeigt uns Kants Kritik, worin sich der konkrete ethische Imperativ von der bloßen Maxime unterscheidet: in der Fähigkeit zur allgemeinen Gesetzgebung." Wenn ein Skeptiker einen richtigen Gedanken voreilig in Unsinn verwandelt, so ist das noch lange kein Beweis dafür, dass dieser Gedanke falsch ist. Wenn der Skeptiker, statt voreilig gleich zu Kant zu laufen, sich über die marxistische Ethik richtig informieren wollte, so träfe er dort nicht bloß die Erkenntnis, dass keine bestimmte Ethik die absolute, dass die ethischen Gebote wandelbar, sondern auch die Erkenntnis, dass für bestimmte Zeiten, Gesellschaften, Klassen bestimmte ethische Gebote notwendig sind; dass die Ethik nichts Konventionelles, nicht etwas ist, was sich der Einzelne nach Belieben aussuchen kann, sondern dass sie durch Mächte bestimmt wird, die stärker sind als das Individuum, die über ihm stehen. Wie kann aus der Erkenntnis der Notwendigkeit Skeptizismus entspringen? Bauer bringt es indes fertig, diesen aus jener abzuleiten. Er fährt fort. „Den herrschenden und besitzenden Klassen fließt aus ihrer Klassenlage ebenso eine Maxime zu wie dem Proletariat; dem Individuum ruft seine drängende Not geradeso eine Vorschrift zum Handeln zu, wie seine Zugehörigkeit zu einer Klasse: die materialistische Geschichtsauffassung befähigt uns, alle diese widerstreitenden Maximen in ihrer Notwendigkeit zu verstehen. Aber sie würde notwendig in ethischem Skeptizismus enden, notwendig die Ethik der Bourgeoisie (wohlverstanden: der Bourgeoisie auf der höchsten Stufe kapitalistischer Entwicklung, nicht der von 1789!) für geradeso wertvoll, für ebenso berechtigt halten müssen wie die Ethik des Proletariats; sie würde die Maxime des Streikbrechers der des russischen Proletariers gleich setzen, der sein Lehen dem Kampfe seiner Klasse weiht. die Maxime des Intellektuellen, der seine Überzeugung gegen einen Judaslohn den Herrschenden verkauft. ebenso beurteilen wie die des Mannes, der seine ganze Persönlichkeit zu einem Kampfmittel der aufwärts ringenden Arbeiterklasse macht, wollte sie sich nicht selbst in dem Gedanken begrenzen, dass die Wissenschaft uns zwar das Handeln all dieser in seiner Notwendigkeit begreifen lässt, dass aber das Kriterium der Fähigkeit zur allgemeinen Gesetzgebung es uns möglich macht. die gleich notwendigen Handlungen verschieden zu werten, die lockende Maxime der einen zu verwerfen, dem kategorischen Imperativ der anderen zu folgen." Hier wirft unser sonst so scharfsinniger Freund Bauer in sonderbarer Weise zwei Erscheinungen durcheinander, die voneinander sehr verschieden sind: das Handeln einzelner Individuen und die Anschauungen ganzer Klassen. Was das erstere anbelangt, so lässt uns die materialistische Geschichtsauffassung wohl nicht immer die Notwendigkeit jeder einzelnen individuellen Handlung erkennen, wenn sie auch diese Notwendigkeit anerkennt. Aber sie lässt uns die Notwendigkeit der sittlichen Urteile erkennen und anerkennen, die über jede einzelne Handlung gefällt werden. Sie lässt sie uns erkennen aus dem Wesen der Gesellschaft heraus, das die sozialen Triebe und sozialen Tugenden erzeugt, das den Verrat an der Gesamtheit um des eigenen Vorteils willen stets als unsittlich brandmarkt, die Aufopferung um der Gesamtheit willen stets als erhabenes Tun preist. Die materialistische Geschichtsauffassung lässt uns aber auch die Notwendigkeit der Modifikationen erkennen, welche die wechselnden gesellschaftlichen Verhältnisse, namentlich die Klassengegensätze, in den allgemeinen sittlichen Anschauungen hervorrufen und die jeweiligen besonderen sittlichen Vorschriften erzeugen. Kann es eine festere Grundlegung des sittlichen Urteils geben als die Begründung seiner Notwendigkeit? Was gibt uns dagegen der magere Imperativ Kants? Das „Kriterium der Fähigkeit zur allgemeinen Gesetzgebung", das dem Skeptiker Otto Bauers Gelegenheit geben könnte, bei jeder Tat ins Endlose darüber zu spintisieren, ob sie diesem Kriterium entspreche oder nicht, was um so leichter, je mehr die wirkliche Gesellschaft jede allgemeine Gesetzgebung ausschließt. Dem Bauerschen Skeptiker fiele es nicht schwer, herauszufinden, dass Streik und Klassenkampf unvereinbar mit einer allgemeinen Gesetzgebung, also unsittlich sind. Ganz verschieden von dem sittlichen Urteil über einzelne Handlungen ist die sittliche Beurteilung sittlicher Urteile, das heißt, die sittliche Bewertung der Ethik einer bestimmten Gesellschaftsform oder Klasse. Es handelt sich dabei nicht um die Beurteilung von Handlungen einzelner Mitglieder verschiedener Klassen oder Gesellschaftsformen, sondern um die Anschauungen von den Rechten und Pflichten, von dem sittlich Guten und Bösen, welche diesen Klassen und Gesellschaften eigen sind. Ist eine derartige sittliche Bewertung überhaupt möglich? Sicher kann man feststellen, ob die primitiven sozialen Triebe und Tugenden, die jeder Gesellschaft zugrunde liegen, innerhalb einer Klasse oder Gesellschaft stärker entwickelt sind als in einer anderen. Insofern kann die eine sittlicher sein als die andere. Kann man aber darüber hinaus auch einen Maßstab finden, um zu bemessen, ob bestimmte sittliche Anschauungen einer besonderen Zeit, eines besonderen Landes, einer besonderen Klasse mehr oder weniger sittlich seien als andere bestimmte sittliche Anschauungen anderer Zeiten, Länder, Klassen? Darum aber handelt es sich, wenn man mit Bauer es für notwendig findet, Zweifler am Sozialismus dadurch zu bekehren, dass man ihnen an der Hand Kants die höhere Berechtigung der proletarischen Ethik gegenüber der bürgerlichen Ethik demonstriert. Notabene, nicht eine relative, und den besonderen Zeitumständen fließende Berechtigung kommt hier in Frage, sondern eine absolute, unbedingte, von Zeit und Ort unabhängige Berechtigung und Überlegenheit. Die Ethik ist die Lehre von den gesellschaftlichen Pflichten des einzelnen. Wie ist es nun möglich, eine bestimmte Gesellschaftsform und ihre bestimmte Ethik mit dem gleichen Maße zu messen, mit dem die Handlungen des Einzelnen von der Gesellschaft gemessen werden? Um das zu erreichen, müssen wir annehmen, dass über den verschiedenen Gesellschaftsformen ebenso eine höhere Macht steht, der diese verpflichtet sind, wie die Gesellschaft über dem Einzelnen steht. In der Tat hängt auch bei Kant der kategorische Imperativ mit der Idee Gottes notwendig zusammen. Die Sache wird nicht besser bei den Neukantianern, die an Stelle des christlichen Gottes die Göttin der ewigen reinen Vernunft gesetzt haben, einer Vernunft, die nicht aus Natur und Gesellschaft entspringt, sondern über der Natur und der Gesellschaft steht. Die Idee einer solchen überirdischen, über aller Erfahrung stehenden Macht ist unerlässlich, will man zu einer über der Gesellschaft stehenden absoluten Sittlichkeit gelangen. Aber die Wege Gottes sind unerforschlich, und so scheinen es auch die der reinen Vernunft zu sein. Denn auf die Frage, welche Ethik wertvoller, die der Bourgeoisie oder die des Proletariats, erhalten wir keineswegs eine einhellige Antwort aus dem Kreise der Kantianer: wir finden unter diesen die verschiedensten Anschauungen darüber, aber die Konservativen und Liberalen sind bei ihnen jedenfalls weit stärker vertreten als die Sozialisten. Der kategorische Imperativ braucht also unsern Skeptiker keineswegs notwendigerweise zum Sozialismus zu führen. Ob man die Ethik der Bourgeoisie oder die des Proletariats höher bewertet. das hängt – wenn man auf dem Standpunkt des kategorischen Imperativs steht – davon ab, in welcher Art man sich die „allgemeine Gesetzgebung" durchführbar denkt. Der eine hält die von der bürgerlichen Gesellschaft gegebenen Formen für die einzigem in denen eine „allgemeine Gesetzgebung" möglich ist; dann wird er aber auch als Kantianer in der bürgerlichen Ethik gegenüber der proletarischen die höhere Sittlichkeit verkörpert finden. Er wird dann zum Beispiel zur Anschauung kommen, dass die „allgemeine Gesetzgebung" der vollsten Freiheit des Individuums bedürfe und unverträglich sei mit proletarischem „Terrorismus". Wer dagegen zu der Überzeugung kommt, die sozialistische Produktionsweise werde immer mehr möglich und notwendig, der wird auch leicht herausfinden, dass das Kriterium der Fähigkeit zur allgemeinen Gesetzgebung sehr gut aus sie anwendbar ist, er wird dann der proletarischen Ethik die Palme zuerkennen. Je nach den Anschauungen, die der Kantianer von dem Mechanismus der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Rolle der Bourgeoisie und des Proletariats hegt, wird er sich auch für die Ethik jener oder dieses entscheiden. Auch für den Kantianer ist es die ökonomische Auffassung und Einsicht, nicht der kategorische Imperativ, wodurch er im Zweifelsfall entscheidet, auf welche Seite er sich schlagen soll. Der kategorische Imperativ spricht unbestimmt und vieldeutig, die ökonomische Einsicht dagegen entschieden und klar. Daher bestehen bei den Kantianern, trotz ihres kategorischen Imperativs, über bürgerliche und proletarische Ethik so verschiedenartige Ansichten, dass jeder ethische Skeptiker sich darüber amüsieren wird. Dagegen stehen die Marxisten, weil sie eine bestimmte ökonomische Anschauung vertreten, trotz ihres ethischen Relativismus alle geschlossen hinter dem Proletariat und seiner Ethik – und jene Kantianer, die Sozialisten sind, verdanken ihre sozialistische Überzeugung, soweit sie aus Büchern entspringt und nicht aus dem Leben, sicher dem, was sie von Marx und nicht dem, was sie von Kant gelernt haben. III. Wie die anderen Kantianer sucht auch Bauer nach einem absoluten Maßstab aller Sittlichkeit, nach dem Dauernden in der Erscheinungen Flucht, einem Maßstab, der nicht dem wechselvollen Leben noch auch seiner wissenschaftlichen Erkenntnis entspringen soll, sondern einem dritten Gebiet, das über dem Leben und der Wissenschaft steht. Dieses Gebiet, das reine Nichts, soll mehr leisten, als Leben und Wissenschaft leisten können, soll die kraftvollste und unverrückbarste Richtschnur alles unseres Sollens und Wollens liefern. Mögen unsere Neukantianer noch so viel vom „Vulgärkantianismus" aufgeben, der aus diesem dritten Gebiet eine jenseitige Welt in der Art des christlichen Himmels machte; eine Tendenz, ein Drang zum Mystizismus wohnt stets der Annahme eines derartigen Gebiets inne, selbst wenn man es auf einen besonderen Gesichtspunkt reduziert, von dem aus die Dinge betrachtet werden. Der Führer der „nichtvulgären" Neukantianer, Cohen, schreibt denn auch in seinem neuesten Werke, der „Ethik des reinen Willens"*, zum Beispiel folgendes: „Die Menschen sind nicht Naturkörper" (S. 15). „Es ist Unwissenheit und Unbildung, wenn man die Religion mit ihren sittlichen Schätzen und Quellen verdächtigt und entbehrlich zu machen glaubt, wie will man sie denn ersetzen, zumal wenn man auch die Philosophie als Metaphysik ablehnt?" (S. 53). „Der wahre Gott ist der Grund der Sittlichkeit: die er fordert und deren Forderung schlechterdings sein Wesen ausmacht" (S. 83) „Die Religion als Gesamtheit und als Gemeinde kann niemals gänzlich des Staates entraten, in dem doch nun einmal die Probe auf die Gesundheit und Wahrhaftigkeit der religiösen Sittlichkeit gemacht werden muss" (S. 360). Und noch etwas über die Freiheit: „Die Seele ist Selbstbewegung, das bedeutet uns: die Bewegung hat ihren Ursprung in sich selbst, das heißt, sie ist rein wie das reine Denken. Aber das reine Denken erschöpft den Begriff der Seele, den Begriff des Bewusstseins nicht. Wohlan, die Seele ist auch Wille. Und der Wille ist auch Bewegung. Auch diese seelische Bewegung ist Selbstbewegung, muss ihren Ursprung in sich selbst haben" (S. 126). „Der Fehler, welcher in dem Begriff der Autonomie bei Kant stecken geblieben ist, besteht darin dass das Selbst dabei als gegeben, als schon vorhanden, als seiend angenommen und vorausgesetzt wird, dass es sich in den sittlichen Handlungen als seinen Manifestationen nur darzulegen und darzutun habe. Das ist der methodische Fehler. Das Selbst ist keineswegs und in keiner noch so idealen Gestalt vorher vorhanden, bevor es sich darlegt. und es hat sich keineswegs nur darzulegen, sondern es hat sich erst zu erzeugen. Und es kann sich nur erzeugen in der Gesetzgebung. In dieser und kraft dieser entspringt die Handlung. Sie bildet den Fortschritt, den wir jetzt entwickeln. Die Handlung ist nicht mehr lediglich die Entfaltung des Selbst, sondern sie ist bedingt durch die Gesetzgebung, welche die Gesetzgebung des Selbst ist, so dass auch das Selbst bedingt ist durch die Gesetzgebung. Also die Selbstgesetzgebung ist nicht etwa die Gesetzgebung auf dem Selbst, sondern zum Selbst" (S. 321) Die Mystik des „vulgären" Kantianismus hat vor der des Cohenschen wenigstens den Vorzug größerer Einfachheit voraus. Aber trotz aller logischen Kühnheiten gelingt es nicht, das Sittengesetz ganz aus dem Reiche der Erfahrung herauszuheben, es zu einem rein formalen zu machen. Kant und die Kantianer mögen sich drehen und wenden wie sie wollen, sie kommen nicht darum herum, dass es sich bei dem Sittengesetz nicht um eine allgemeine Formel, sondern um eine Formel für eine durch Erfahrung abgegrenzte Teilerscheinung der Welt handelt, nämlich die Gesellschaft, und dass diese Formel nicht zustande kommen kann ohne eine auf Erfahrung beruhende Erkenntnis. Selbst wenn wir den Menschen als vernünftiges Wesen aus der Natur herausheben und einer besonderen Welt einverleiben wollen, so kann daraus noch kein besonderes Sittengesetz abgeleitet werden. Um dazu zu gelangen, muss man annehmen, dass die vernünftigen Wesen in bestimmten Zusammenhängen zueinander stehen, bestimmte, erfahrungsgemäße Bedürfnisse haben, ihre Vernunft dazu aufwenden, diese Bedürfnisse zu befriedigen, dabei einander fördern oder hindern können. Ohne alle diese, keineswegs rein geistigen Voraussetzungen wird das Sittengesetz gegenstandslos, sinnlos. Der kategorische Imperativ setzt endlich das ganz besondere Bedürfnis voraus, dass die Menschen einander nur nützen, nicht schädigen sollen, und setzt eine besondere Gesellschaftsformation voraus, in der es von dem guten Willen der Individuen abhängt, ob sie einander nützen oder schaden wollen, eine Gesellschaft, in der es keine wirtschaftlichen Gegensätze gibt, die mit Notwendigkeit Kämpfe erzeugen, in denen die Einzelnen und die Klassen trachten müssen, einander zu schaden. Die aus allen diesen Voraussetzungen entsprungene Kantsche Ethik beschränkt sich im Grunde auf einen einzigen Satz, den kategorischen Imperativ. Sie muss sich so beschränken, weil sonst die „Unreinheit" ihres formalen Charakters, ihre Vermengung mit bestimmten Erfahrungstatsachen zu deutlich hervorträte. Und dieser eine Satz ist höchst unbestimmt und vieldeutig. In alledem unterscheidet sie sich sehr von der Mathematik, mit der man sie verglichen hat. Nur in einem Punkte darf die Kantsche Methode der Ethik mit der der Mathematik verglichen werden: sie schärft den Geist ungemein; aber das ist eine Eigentümlichkeit, die jedes schwierige Problem mitbringt, mag es lösbar sein oder nicht. Auch das Suchen nach dem Stein der Weisen schärfte den Geist und brachte manche wertvolle Entdeckung und Forschungsmethode. Trotzdem war dies Suchen ein Abweg. Das Kantsche Sittengesetz ist aber nichts anderes als der Stein der Weisen, die Zauberformel des absolut Heilsamen, aus dem Chemischen ins Ethische übersetzt. Damit soll jedoch es nicht für müßig erklärt werden, nach dem Zweck aller Zwecke zu fragen, dem Endzweck, dem allgemeinen Zweck, dem alle besonderen Zwecke dienen, die wir uns setzen, der unser Sollen und wollen bestimmt. Nur die Methode soll abgewiesen werden, die, von dem Bedürfnis getrieben, diesen Zweck als einen ewigen und absoluten festzustellen, ihm absehend von der Erfahrung, aus dem Wesen der reinen Vernunft heraus analysieren will. Um den Zweck aller Zwecke, den Grund alles Wollens und Sollens herauszufinden, bedarf es nur jener Methode, die für alle Wissenschaft gilt, des Aussuchens des Allgemeinen im Besonderen. Es ist nicht der mindeste Grund vorhanden, unseren Willen als etwas anderes aufzufassen wie als eine Naturerscheinung. Wollen wir aber auf diese Weise den Endzweck unseres Tuns, alles Wollens und Sollens, herausfinden, dann dürfen wir unsere Untersuchung nicht auf den Menschen beschränken, dann müssen wir vor allem jene Absonderung des Menschen als wollenden und Zwecke setzenden Wesens von der Natur aufgeben, die das Merkmal jeglichen Kantianismus, auch des wenigst vulgären, ist. Wir dürfen dann nicht den Menschen allein betrachten, sondern mit ihm auch alle Wollenden und sich Zwecke setzendem also alle mit Eigenbewegung und Bewusstsein begabten Wesen, die wir kennen. Dann aber finden wir als Zweck alles Lebens dieser Wesen, dem jeder andere Zweck zu dienen hat, das Leben selbst. Das und nicht die allgemeine Gesetzgebung ist der oberste aller Zwecke. Dieser Zweck geht aus dem Leben selbst hervor, ist untrennbar mit ihm verbunden, bedarf keiner reinen Vernunft, die ihn erzeugt. Das Leben der mit Eigenbewegung begabten Wesen, also der Tiere, bedarf zu seiner Erhaltung immer wieder bestimmter Bewegungen, Handlungen, die dem Zwecke dieser Erhaltung dienen, die ein Wollen zu leben voraussetzen. Ein lebendes, sich bewegendes Wesen, das dieses Wollen nicht besitzt, diese Zwecke sich nicht setzt, kann einfach nicht leben. Mit dem Leben und der Eigenbewegung entsteht also auch der Wille, zu leben, der Zweck, zu leben; dieser Wille und dieser Zweck sind ein Teil des Lebens. Der Wille ist kein freier, ursachloser Wille, der sich selbst setzt, er ist ein Produkt derselben Faktoren, die das Leben geschaffen haben, nicht geheimnisvoller als das Leben, der „Naturmechanismus" selbst. Der Zweck erfordert Mittel zu seiner Erreichung; je höher entwickelt aber das lebende Wesen, desto mannigfaltiger die Mittel, deren es zur Erfüllung seines höchsten Zweckes, des Lebens, bedarf, desto mehr bedürfen diese Mittel zu ihrer Erreichung und Anwendung anderer Mittel, so dass jene den letzteren gegenüber zu Zwecken werden. So löst sich der allgemeine Endzweck immer mehr auf in besondere Zwecke, die immer weiter entfernt sind von jenem, mit ihm durch immer mehr Mittelglieder verbunden, so dass der Zusammenhang mit ihm immer schwerer erkennbar. Aber nicht nur das. Die Dialektik der Entwicklung führt dahin, dass aus dem Endzweck der Erhaltung des Lebens des Individuums schließlich Zwecke erstehen, die zur Beengung, ja zur Preisgabe seines Lebens führen können. Die Mutterliebe zum Beispiel kann in der Mutter den Willen erzeugen, ihr Leben aufzuopfern, um die Jungen zu retten. Die Gesellschaft erzeugt Zwecke des Individuums als Pflichten, die sein Wollen bestimmen und die auch bis zur Hingabe des Lebens für die Kameraden und Genossen führen können. Aber in allen diesen Fällen wird man auch hier den Endzweck der Erhaltung des Lebens des Individuums wiederfinden, sobald man die Dinge in einem größeren Zusammenhang betrachtet. Dieselbe Mutterliebe, die dem lebenden Wesen als Mutter den Tod bringt, erhält demselben Individuum das Leben, solange es sich im Zustand der Kindheit befindet. Dieselbe Gesellschaft, welche mir heute Pflichten auferlegt, die bis zur Aufopferung des Lebens führen können, verschafft mir durch dieselben Pflichten, die sie anderen auferlegt, erst die Möglichkeit des Lebens. Was hier als Pflicht auftritt, äußert sich dort als Recht, was hier als gewollte Hingabe, dort als gewollte Rettung des Lebens. Aber die Entwicklung der lebenden, mit Eigenbewegung begabten Wesen führt nicht bloß dahin, dass die Zwecke und Mittel immer mannigfaltiger, ja unter Umständen widerspruchsvoller werden, die dem Individuum erstehen, sondern auch dahin, dass die Fälle sich mehren, in denen ihm verschiedene Zwecke und Mittel gleichzeitig erstehen, oft der widersprechendsten Art, so dass sein Wollen und Handeln gar nicht imstande ist, ihnen allen zu entsprechen. Wo die Organismen höchst einfache sind und auch die Umgebung, in der sie leben, eine stetig sich gleichbleibende ist, bleiben auch die Zwecke und die Mittel, die dem Individuum erstehen, sehr einförmig und ist es jeweilig nur ein bestimmter Zweck, der dem Individuum vom Leben gesetzt wird, und nur ein bestimmtes Mittel, das ihm zu dessen Erreichung zu Gebote steht. In solchen Fällen kann die Bewegung des Individuums zur Erreichung des Zweckes erfolgen ohne Dazwischentreten des Bewusstseins. Auch bei den höchstentwickelten Tieren, den Menschen, vollzieht sich noch ein sehr großer Teil ihrer Bewegungen auf diese Weise. Je höher entwickelt aber der Organismus, je mannigfaltiger seine Organe und daher auch die Möglichkeiten der Umwelt, auf ihn einzuwirken, je wechselnder andererseits die Umwelt, desto öfter wird der Fall eintreten, dass das Leben mannigfache und widersprechende Zwecke oder Mittel setzt, zwischen denen eine Auswahl getroffen werden muss, was nur möglich ist durch das Denken. Dieses entscheidet in solchen Fällen, welcher der vorliegenden Zwecke oder welches der vorliegenden Mittel mein Wollen und Handeln bestimmen soll. Dieses Handeln ist ein freies, wenn man es vergleicht mit jenen Handlungen, bei denen das Individuum keine Wahl hat, weil ihm nur ein Zweck und nur ein Mittel zur Erreichung dieses Zweckes aus dem Leben ersteht. Aber es ist kein freies in dem Sinne, dass es ein grundloses wäre. Die Vernunft holt die Zwecke des Menschen nicht aus sich selbst heraus, um sie nach einer eigenen inneren Gesetzmäßigkeit zu setzen, sondern diese Zwecke werden von den gegebenen Verhältnissen der Umwelt und dem Organismus des Individuums – mit Notwendigkeit produziert. Ebenso notwendig aber ist die Auswahl unter ihnen, die allerdings von dem Bewusstsein des Menschen abhängt; aber dieses wird nicht allein bestimmt durch die Art des Erkenntnisvermögens, sondern auch durch die Gesamtheit der Erfahrungen, die wieder nicht bloß persönliche zu sein brauchen, sondern daneben noch von anderen erworbene, gesammelte, geordnete und dem Individuum übermittelte sein können: die Wissenschaft. Je mehr ich die Zusammenhänge des Lebens, der Welt begreife, desto zweckmäßiger werde ich mir die Mittel wählen, die mir zur Erreichung meiner Zwecke zu Gebote stehen, desto besser in Einklang mit dem Endzweck werden die besonderen Zwecke sein, die ich aus den sich mir aufdrängenden auswähle, um durch sie mein Handeln zu bestimmen, desto verständiger mein Wollen, desto klarer erkannt, desto bestimmter und entschiedener mein Sollen. Freilich, wie alle Erkenntnis, wird auch die meines Sollens stets nur eine bedingte und relative sein. Aber ein Schelm gibt mehr als er hat. Unser Sollen ist nichts Übernatürliches, unsere Pflichten bilden nur einen Teil dieser Welt, in der es etwas Absolutes, Unbedingtes nicht gibt. Jeder Versuch, ein absolutes Sittengesetz zu entdecken, ein Universalheilmittel für alle ethischen Konflikte und Krankheiten der Seele aus der reinen Vernunft herauszudestillieren, liefert bloß unbestimmte, vage Gemeinplätze und führt ab von dem einzigen Wege, unser Wollen und Sollen so sicher zu begründen, als es bei dem heutigen Stande unseres Wissens eben möglich ist, dem Wege der Vermehrung und Klärung unserer wissenschaftlichen Erfahrung. Nur die ganze ungeheure Fülle der Wissenschaft vermag uns einigermaßen einen sicheren Wegweiser zu geben in dem verschlungenen Dickicht der ungeheuren Fülle von Zwecken und Mitteln, die das Leben vor dem modernen Kulturmenschen ausbreitet. Eine einzige kleine Formel ist dazu völlig außerstande. Das gilt auch für den Sozialismus. Wen nicht die Praxis des Klassenkampfes zusammen mit der wissenschaftlichen Erkenntnis der Bewegungs- und Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft zum Sozialisten zu machen vermag – wer da noch zaudert und schwankt und Skeptiker bleibt, dem wird auch das Kriterium der Eignung zur allgemeinen Gesetzgebung nicht Entschiedenheit und Klarheit einflößen. Und auf den können wir wohl verzichten. Otto Bauer hat praktische Rücksichten aufgerufen, die für den Kantschen kategorischen Imperativ sprechen sollen. Praktische Rücksichten haben unsere Erkenntnis nicht zu bestimmen, aber auch diese praktischen Rücksichten selbst reduzieren sich im Laufe seines Artikels immer mehr. Er selbst gibt zu, dass die Entwicklung der Klassengegensätze immer mehr die Kulturmenschheit in zwei große Heerlager scheidet und dass hüben wie drüben das Wollen und Sollen immer klarer und entschiedener durch die ökonomischen Gegensätze bestimmt wird. Bloß für ein paar „ethische Skeptiker", die weder Marxisten, noch Kantianer, noch sonst etwas sind, brauchen wir noch den Kantschen kategorischen Imperativ. Dieser, der die ganze Welt meistern soll, erhält nun die zweifelhafte und recht dürftige Aufgabe, ein paar literarischen Jünglingen Pflichtgefühl und Klarheit beizubringen, die für ihre Energielosigkeit und Konfusion oder für ihren Dünkel und ihre Impotenz einige mehr oder weniger passende Ausreden bei Nietzsche suchen. In der Tat, durch die praktischen Aufgaben des kategorischen Imperativs wird seine Notwendigkeit noch weniger zwingend erwiesen, als durch seine theoretische Grundlegung. Aus die Praxis des Klassenkampfes und die wissenschaftliche Erforschung des Kapitalismus – auf die Arbeiter und die Wissenschaft – hat die Sozialdemokratie bisher sieghaft ihr Wollen und Sollen aufgebaut. Sie wird auch weiterhin auf allen Sukkurs der reinen Geister verzichten können, der ihr aus dem besseren Jenseits der reinen Vernunft zugeführt werden soll. * Zweiter Teil, Berlin 1904, Bruno Cassirer. XVII, 641 Seiten. |
Karl Kautsky > 1906 >