Karl
Kautsky: Dr.
J. Goldstein, Dozent an der Universität Zürich, Herr
Regierungsrat Dr. U. Locher als Erziehungsdirektor und die
Lehrfreiheit an der Universität Zürich Verlag der Grütlibuchhandlung [Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 24.1905-1906, 2. Band (1905-1906), Heft 33 (9. Mai 1906), S. 236] Dr. J. Goldstein, Dozent an der Universität Zürich, Herr Regierungsrat Dr. U. Locher als Erziehungsdirektor und die Lehrfreiheit an der Universität Zürich, Verlag der Grütlibuchhandlung. Diese Broschüre ist eben erst erschienen, aber die Affäre, die sie behandelt. spielte schon vor zwei Jahren. Keine der dabei beteiligten Parteien hat Ursache, auf ihre Haltung besonders stolz zu sein. Der Dozent Goldstein besuchte mit mehreren Studenten im Juni 1904 das Etablissement der Gebrüder Sulzer in Winterthur. Einer seiner Hörer berichtete in einem Privatbrief, Goldstein habe bei dieser Gelegenheit sich erkühnt, Arbeiter auszufragen und später einige abfällige Bemerkungen über die Fabrikanten zu machen. Das kam dem Herrn Nationalrat Sulzer, dem Besitzer der Fabrik, zu Ohren, der sich sofort bei dem Regierungsrat Locher über Goldstein beschwerte, und Locher hatte nichts Eiligeres zu tun als Goldstein wegen seines Verbrechens zur Verantwortung zu ziehen, weil es sich „nicht einmal mit der Ehre des gewöhnlichen Mannes vertragen würde". Herr Dr. Goldstein aber suchte sich zur Wehr zu setzen vor allem dadurch, dass er sich von dem Verdacht reinigte, als sei er ein Gegner der Fabrikanten, ein Sozialist. Er ließ sich von einem freisinnigen Hörer bestätigen, dass er selbst diesem „viel zu vorsichtig" in seinen Äußerungen (S. 36), von einem russischen Hörer, dass er in der russischen Kolonie „nicht im mindesten populär" (S. 22), endlich von einem Sozialisten, dass er kein Sozialist sei und am nächsten stehe „Professor Brentano und vielleicht noch Eduard Bernstein" (S. 28). Er hatte auch den Erfolg, dass ihm seine völlige Schuldlosigkeit offiziell bescheinigt wurde, und seine ganzen Schmerzen rühren daher, dass seine Ankläger sich zu keiner Entschuldigung verstehen mochten. Als Verfechter der Lehrfreiheit für alle wissenschaftlichen Anschauungen, auch solche, die über Herrn Professor Brentano hinausgehen, trat Dr. Goldstein nicht auf. Sein Fall beweist bloß, dass das Protzentum und Philistertum in Zürich borniert genug ist, gegen Leute Misstrauen zu hegen, die in Breslau und München, ja selbst in Berlin als sichere Stützen des Staates betrachtet würden. K. Kautsky. |
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