Karl Kautsky: Partei und Gewerkschaft [Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 24.1905-1906, 2. Band (1905-1906), Heft 48 und 49 (22. und 29. August 1906), S. 716-725 und 749-754] 1. Gewerkschaft und Klassenkampf Vor wenigen Monaten noch schien es, als werde der Mannheimer Parteitag dem Bremenser ähneln, ein ruhiger Geschäftsparteitag werden, in dem uns vorwiegend die so wichtige und dringende Bildungsfrage beschäftigt. Seitdem aber ist rasch eine Frage in den Vordergrund getreten, die erheblichen Zündstoff in sich birgt, die sich auch schon in Jena bemerkbar gemacht und die unzweifelhaft den Parteitag sehr in Anspruch nehmen wird: das Verhältnis zwischen Partei und Gewerkschaft. Die Frage des Massenstreiks und der Maifeier sowie der Formen des Verkehrs von Parteileitern mit Parteiangestellten sind ja in enge Beziehungen zu dieser Hauptfrage gekommen. Dass das Verhältnis zwischen Partei und Gewerkschaften nicht so ungetrübt ist, wie wir alle es wünschen, dürfte jedem, der noch daran zweifelte, aus dem jüngst veröffentlichten Geheimprotokoll der Konferenz der Gewerkschaftsvorstände klar geworden sein. Wir hoffen aber, dass die Verhandlungen in Mannheim mehr zutage fördern werden als ein bloßes Echo dieser Konferenz. Das ergäbe ein zu dürftiges und unbefriedigendes Resultat. Wo Gegensätze in der Gesellschaft bestehen, werden sie stets von Personen getragen, treten sie stets zunächst als persönliche Gegensätze auf. Jeder kann seinen Standpunkt nur verteidigen, indem er den Gegner bekämpft, jeder empfindet aber naturgemäß jedes Wort aufs Schärfste, das gegen ihn gerichtet ist, indes er das Verletzende der eigenen Worte kaum merkt. Wer bei diesen Äußerlichkeiten stehen bleibt, produziert nichts als Arger über den Gegner, dessen „schlechten Ton", dessen „gemeine Gesinnung". Viel mehr als Arger über uns „Revolutionsromantiker" trat auch in der Konferenz der Gewerkschaftsvorstände nicht zutage, mitunter in sehr merkwürdiger Weise. Wir wollen nur ein Beispiel anführen, das uns besonders angeht. Genosse Blum erklärte: „Es wurde gestern Robert Schmidt vorgeworfen, dass er in Jena gesagt hat, es sei ein Glück, dass die Neue Zeit nicht so sehr gelesen wird. Ich habe einige Wochen vorher schon das gleiche in meinem Organ geschrieben, und zwar aus ganz bestimmten Gründen heraus." Welches sind diese schwerwiegenden Gründe, die Blum veranlassen, den bisher in der Partei nicht gewöhnlichen Schritt zu tun, dass er ein Parteiorgan in Verruf erklärt? Die schwerwiegenden Gründe schrumpfen sofort auf einen einzigen Grund zusammen, nämlich einen einzigen Satz in einem Artikel des Genossen Fleißner, der Bedenken über die Höhe der gewerkschaftlichen Beiträge äußert! Grund genug für Genossen Blum, nicht etwa gegen Fleißner zu polemisieren, sondern – das Parteiorgan zu boykotten, weil es diesem Genossen nicht den Maulkorb anlegte. Man muss schon sehr verärgert sein, wenn man nicht merkt, wohin es führen würde, wenn Partei- und Gewerkschaftsblätter wegen jedes Satzes, der dem einen oder anderen nicht gefällt, einander auf die schwarze Liste setzen wollten. Damit aber der Geschichte nicht der Humor fehlt, hat derselbe Genosse Blum, der schrieb, es sei ein Glück, dass die „Neue Zeit" nicht mehr gelesen werde, wenige Wochen später der „Neuen Zeit" einen Artikel geschickt, der von uns auch abgedruckt wurde, allerdings wegen Raummangels erst im Mai dieses Jahres. Sollte Genosse Blum zur Einsicht gekommen sein, dass die „Neue Zeit" besser ist als ihr gewerkschaftlicher Ruf? Wenn nicht, dann bleibt nur noch die Annahme übrig, dass unser Mitarbeiter seinen Artikeln die Wirkung zuschreibt, dem Blatte, in dem sie erscheinen, die Leser zu vertreiben. Über derartige verärgerte Äußerungen kamen viele Redner der Konferenz nicht hinaus; diese gelangte auch gar nicht zu einer prinzipiellen Feststellung des Verhältnisses zwischen Partei und Gewerkschaft, sondern klang einzig in dem Rütlischwur der Vorstände aus, sich von der Parteipresse nichts mehr gefallen zu lassen und gegen sie einmütig zusammenzustehen. Dieser Ton wurde von Rexhäuser angegeben, der da meinte: „Es wird jeder so behandelt, wie er es sich gefallen lässt. und deshalb müssen wir den Angriffen und Parteikreisen entgegentreten. Dann würden viele der Parteiblätter Respekt vor uns bekommen." Der Treffliche meinte damit offenbar den Respekt, den er heute schon durch diese Taktik der Masse der Genossen eingeflößt hat. Wir dürfen wohl erwarten, dass der Parteitag in Mannheim versuchen wird, tiefer zu graben und die Wurzeln der vorhandenen Verstimmungen und Gegensätze aufzudecken, die in den Dingen und nicht in einzelnen Personen liegen. Auf der Konferenz. selbst wurde auch das Bedürfnis danach empfunden, merkwürdigerweise fand es seinen Ausdruck in dem Wunsche nach der Erfindung einer neuem gewerkschaftlichen Theorie. Bringmann meinte: „Wer auf dem Boden der radikalen Gruppe der Partei steht, der kann keine gewerkschaftliche Theorie anerkennen (sehr richtig!), der kennt nur eine Theorie des politischen Klassenkampfes (sehr richtig!). Freilich bin ich dafür, dass endlich eine Theorie der Gewerkschaftsbewegung formuliert wird. … Die Gewerkschaften müssen aus sich selbst heraus die Theorie entwickeln." Geyer reagierte auf diese Anregung und erklärte, gegen sie polemisierend; „Bringmann meinte, wir sollten versuchen, eine Verständigung zu finden, glaubt aber, dass das schwer möglich sei schon auf Grund der Theorie der Partei, und er bezeichnete die Theorie des Klassenkampfes als ein trennendes Moment. Diese Theorie sei einseitig, sie schließe die gewerkschaftliche Tätigkeit nicht ein (sehr richtig!). Diese Auffassung teile ich nicht. (Bringmann: Aber Kautsky teilt sie), Kautsky ist nicht die Partei. (Zuruf: Aber doch der Vertreter der Partei!)" Endlich spann Päplow den Bringmannschen Faden weiter, indem er erklärte: „Bringmann hat gestern das richtige Wort gesagt. was noch öfter gesagt werden muss, dass wir noch keine gewerkschaftliche Theorie haben, dass die erst geschaffen werden muss. Wir werden sie schaffen, und wir werden mit unserer Theorie selbstverständlich die der Partei zu beeinflussen suchen." Merkwürdigerweise, das sei nebenbei bemerkt, fügte Päplow an dies Versprechen, die Gewerkschafter würden sich eine neue Theorie schaffen, ganz unmittelbar einen heftigen Ausfall gegen die Theoretiker, die neue Theorien erfinden, gegen die „kranken Hühner in der Partei (Heiterkeit) die glauben, dass sie die Weisheit erfunden, dass sie eine neue Theorie entdeckt haben und auf den Markt bringen müssen". Er sucht diese „kranken Hühner" in der „Leipziger Volkszeitung" und im „Vorwärts", wohl auch in der „Neuen Zeit", aber er irrt sich offenbar in der Örtlichkeit. Gerade uns Marxisten hat man ja so oft vorgeworfen, dass wir bei der alten, bewährten Theorie oder, wie man sagt, den „verknöcherten Dogmen" stehen bleiben, dass wir sie nicht durch „neue Theorien" und „neue Weisheit" revidieren. Ist das Erfinden neuer Theorien eine Hühnerkrankheit, dann sind also die krankmachenden Hühnerställe in anderen Redaktionen zu suchen als in den genannten. Doch dies nur nebenbei. Wir finden also in gewerkschaftlichen Kreisen das Bedürfnis nach einer neuen gewerkschaftlichen Theorie, die erst geschaffen werden soll, von der keiner auch nur die leiseste Ahnung hat, wie sie aussehen wird, von der aber die betreffenden Gewerkschafter schon ganz genau wissen, dass sie von der Theorie der Partei abweichen wird. Das bezeugt, dass manche Gewerkschafter sich durch die Partei und ihre Theorie beengt fühlen, aber noch nicht wissen, wo sie eigentlich der Schuh drückt. Bringmann fühlt freilich das Bedürfnis, damit dieser Gegensatz der erst zu schaffenden gewerkschaftlichen Theorie zu der bestehenden Parteitheorie nicht ganz aus der Luft gegriffen erscheint, sich dafür auf mich zu berufen. Ich soll die Auffassung vertreten, „die Theorie des Klassenkampfes schließe die gewerkschaftliche Tätigkeit nicht ein", oder: „die radikale Gruppe in der Partei kann keine gewerkschaftliche Theorie anerkennen“. Er wäre sehr freundlich, wenn er angeben wollte, wo und wann ich etwas Derartiges geschrieben. Weder ich noch auch einer meiner Freunde hat jemals solche Anschauungen verzapft. Die sind Bringmanns ureigenstes Fabrikat. Die Theorie, auf deren Boden ich mit der ganzen „radikalen Gruppe in der Partei" stehe, die marxistische Theorie des Klassenkampfes, ignoriert nicht nur nicht die gewerkschaftliche Tätigkeit sondern betrachtet sie als ein wichtiges, ja unentbehrliches Moment des proletarischen Klassenkampfs. Schon vor dem Kommunistischen Manifest haben Friedrich Engels in seiner „Lage der arbeitenden Klasse in England" und Marx in seinem „Elend der Philosophie" die Grundlagen zu einer Theorie der gewerkschaftlichen Tätigkeit gelegt, beide haben dann ihre Auffassung vertieft und vervollkommnet und in der Internationale ihren Grundsätzen entsprechend die moderne internationale gewerkschaftliche Bewegung begründet. Und nur durch die Theorie des Klassenkampfes wird die gewerkschaftliche Bewegung verständlich. Allerdings ist nicht jede gewerkschaftliche Bewegung von vornherein schon ein Klassenkampf. Sie einspringt mit Naturnotwendigkeit dem Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit, aber die aus diesem Gegensatz entspringenden Kämpfe werden erst zu wirklichen Klassenkämpfe, wenn das Klassenbewusstsein erwacht und sie lenkt; wenn die Kämpfenden das Bewusstsein erhalten, dass es nicht bloß zufällige oder willkürliche Faktoren sind, die sie bekämpfen, dass sie nicht bloß für sich kämpfen, sondern auch für ihre Klassengenossen, dass diese ihrerseits auch an dem Siege ihrer Kameraden interessiert sind, und dass ein endgültiger Sieg über den Gegner nur möglich ist als Sieg der gesamten Klasse. Zwischen den politischen und den gewerkschaftlichen Organisationen des Proletariats besteht nun der Unterschied, dass die ersteren von vornherein dem Klassenkampf dienen und daher notwendigerweise früher oder später eine Schule des Klassenbewusstseins werden, wenn sie ihm nicht direkt entspringen, indes das bei den Gewerkschaften nicht notwendigerweise der Fall ist. Im Staate stehen dem Proletariat nicht einzelne Kapitalisten oder Kapitalistengruppen gegenüber, sondern die Herrschergewalt ganzer großer Klassen; und die Macht des Staates erstreckt sich nicht bloß über ein einzelnes wirtschaftliches Gebiet, sondern über die mannigfachsten Gebiete gesellschaftlichen Wirkens, die oft direkt – wie zum Beispiel die Schule – sehr wenig mit der Wirtschaft zu tun haben, alle aber in das proletarische Interesse tief eingreifen. Wohl können die politischen Organisationen ebenso wenig, ja noch weniger als die gewerkschaftlichen, jemals die Gesamtheit des Proletariats umfassen. Aber die Minorität, aus denen sie besteht, kann im politischen Kampfe nicht bloß ihre eigenen, besonderen Interessen vertreten, sie muss stets für die Interessen der Gesamtheit der Klasse, ja infolge der eigentümlichen Lage des Proletariats als unterste aller Klassen, die Interessen aller Unterdrückten und Ausgebeuteten eintreten. So wird der politische Kampf zu dem Kampfe einer Minderheit im Interesse der Gesamtheit, zu einer Schule der Selbstlosigkeit und des Idealismus. Auf der anderen Seite erweitert er den politischen Horizont der Kämpfendem da er sie über das enge Problem hinaus: Wie verbessere ich am besten meine persönliche Lage? zu dem ungeheuren Problem erhebt: Wie gestalte ich den Staat um? Wie benutze ich den umgestalteten Staat zur Umgestaltung der Gesellschaft? Der gewerkschaftliche Kampf zeitigt nicht notwendigerweise die gleichen Folgen, obwohl er demselben Klassengegensatz entspringt wie der politische Kampf. Er ist zunächst nur ein Kampf der Organisierten um ihre eigenen, persönlichen Interessen, höheren Lohn, kurze Arbeitszeit, bessere Behandlung und dergleichen. Welche Haltung die gewerkschaftlich Organisierten gegenüber der gesamten Arbeiterklasse annehmen, welche Resultate daraus für diese erwachsen, das ist nicht von vornherein durch das Wesen des gewerkschaftlichen Kampfes bestimmt. Es sind wesentlich Einflüsse, die von außen auf die Gewerkschafter einwirken, namentlich politische Einflüsse, die bestimmen, welchen Charakter die Gewerkschaften annehmen, ob sie sich von der Masse des Proletariats abschließen, sich über diese und auf ihre Kosten erheben, zu einer engherzigen Aristokratie werden und damit schließlich nach einer mehr oder weniger kurzen Blütezeit erstarren und unfruchtbar, ja schließlich hemmend werden, oder ob sie sich zu einer Elite von Vorkämpfern gestalten, die die ganze Arbeiterklasse erhebt, auf diese Weise ihren Wirkungskreis stetig erweitert, immer neue und größere Kräfte auf diesem Boden schöpft, in und mit der gesamten Arbeiterklasse unaufhaltsam emporwächst. Eben jetzt veröffentlicht Genosse Hue in der „Metallarbeiterzeitung" Briefe aus England, die den Gegensatz zwischen den zünftigen, bornierten Gewerkschaften Englands und den dem Boden des Klassenkampfs entsprungenen Gewerkschaften Deutschlands in sehr interessanter Weise klarlegen und bestätigen, was andere sozialdemokratische Kritiker des englischen Gewerkschaftslebens schon längst gesagt. Mit Recht hebt er die heutige Überlegenheit der deutschen gegenüber den englischen Gewerkschaften hervor. Aber wem verdanken jene ihre Überlegenheit, wenn nicht der Sozialdemokratie, der sie entsprungen sind, die ihnen Klassenbewusstsein und weiteren Blick verlieh und sie vor der zünftigen Beschränktheit bewahrte? Die Kampf- und Entwicklungsfähigkeit der deutschen Gewerkschaften gehört mit zu jenen großen, praktischen Resultaten, auf die die deutsche Sozialdemokratie heute schon mit berechtigtem Stolze zurückblicken kann. Der Charakter der Gewerkschaften ist also nicht von vornherein gegeben. Sie können ein Mittel des Klassenkampfs, können aber auch ein Hemmnis für ihn werden. Welchen Charakter sie annehmen, das ist aber keineswegs gleichgültig für den proletarischen Klassenkampf und dessen klarsten und entschiedensten Vertreter, die Sozialdemokratie. Denn ohne Gewerkschaften ist ein sieghafter Klassenkampf unmöglich. Können auch die Gewerkschaften, ebenso wenig wie irgend eine andere Organisation, jemals dahin kommen, dass sie die Gesamtheit des Proletariats umfassen, wird dieses stets breite Schichten enthalten, die durch die kapitalistische Tretmühle unfähig gemacht werden, sich zu organisieren, so bilden die Gewerkschaften doch diejenige Form, die am ehesten imstande ist, alle organisierbaren Elemente des Proletariats zu gemeinsamem Wirken zusammenzufassen. In viel höherem Grade als die politischen Organisationen können sie zu Massenorganisationen werden, und ohne sie ist es unmöglich, dass der kämpfende Teil des Proletariats das Maximum an Kraft und Schlagfertigkeit erhält, dessen er fähig ist. Weit entfernt also, dass die Theorie des proletarischen Klassenkampfes die Gewerkschaften ausschließt, baut sie sich vielmehr auf ihnen als einem unentbehrlichen Faktor dieses Kampfes auf. Das ist keine neue Theorie, das ist eine Auffassung, so alt wie der Marxismus, zu der auch ich mich stets bekannt habe. Ich darf den Genossen Bringmann darauf verweisen, dass ich im Januar 1894, in einer Zeit wirtschaftlicher Dekadenz in Deutschland, als in den Augen mancher Parteigenossen die Aussichten für die Gewerkschaften sehr trübe waren, dass ich damals auf das Entschiedenste vor jeder Unterschätzung der Gewerkschaften warnte, ihr Wachstum prophezeite und ihre Unentbehrlichst für den Klassenkampf und unsere Partei hervorhob. (In der „Neuen Zeit", XII, 1, S. 577 ff. in dem Artikel: „Kapitalismus fin de siècie. IV. Die Zentralisation des Kapitals und die Gewerkschaften") Es ist also umgekehrt, wie es Bringmann darstellt: weder ich noch sonst einer der Marxisten hat jemals die gewerkschaftliche Bewegung an sich außerhalb des Klassenkampfs gestellt. Wir haben bloß von einer bestimmten Form der gewerkschaftlichen Bewegung ausgesagt, dass sie außerhalb des Klassenkampfes steht, ja ihn hemmt, und das ist jene zünftige Form, die sich selbst außerhalb des Klassenkampfs steht, von ihm nichts wissen will. Das ist aber gerade jene Form der gewerkschaftlichen Bewegung, die wir bekämpfen und bekämpfen müssen. Je tiefer man durchdrungen ist von der Bedeutung der Gewerkschaften, je mehr man erkennt, dass ohne sie ein erfolgreicher Klassenkampf nicht möglich ist, je klarer man endlich sieht, dass die Haltung der Gewerkschaften gegenüber dem Klassenkampf nicht notwendigerweise von vornherein gegeben ist und dass sie sehr viel von äußerem namentlich politischen Einflüssen abhängt, desto weniger kann man als Sozialdemokrat ruhig der Entwicklung der Gewerkschaften zusehen und sie sich selbst überlassen, desto energischer muss man in ihnen alle Tendenzen und Ansätze zu zünftiger Beschränktheit und exklusivem Aristokratentum bekämpfen. Dies die Anschauungen von Klassenkampf und Gewerkschaften, denen ich anhänge. Sie haben offenbar nicht das Mindeste gemein mit jenen, welche auf der Konferenz als die meinen ausgegeben wurden, um dadurch den Marxismus zu kompromittieren. 2. Einige Richtigstellungen Nicht besser steht es mit den anderen Anschauungen, die mir dort von Bringmann imputiert wurden. Ich habe sie nie gehegt, wie ich gleich beweisen will. Derartige Beweisführungen sind für den Leser freilich sehr langweilig, noch langweiliger als für den Autor. Aber da ohne diese Richtigstellungen der gewerkschaftliche Klatsch über „die radikale Gruppe" noch neue Nahrung erhielte, muss ich sie hier doch vorbringen. Diejenigen unserer Leser aber, die von vornherein wissen, was die Bringmannschen Behauptungen wert, können sich's ersparen, das folgende zu lesen. Bringmann erklärte: „Ich hätte gewünscht. dass wir uns weniger mit der Art jener Polemik beschäftigten, sondern ihrer Ursache auf den Grund gingen. Diese Ursache ist unpersönlicher Natur, sie ist sachlich. Die Auseinandersetzung zwischen Partei und Gewerkschaftsbewegung entsteht aus der Theorie unserer Partei, wie sie bisher gang und gäbe gewesen ist. Die maßgebendste Theorie für die deutsche Arbeiterbewegung ist geschrieben worden von Marx, Engels und Kautsky. Wenn ich mich nun mit Kautsky beschäftige, so nicht, um ihn als Person in die Debatte zu ziehen, sondern weil er der offizielle Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie ist. Nur in dieser Eigenschaft erwähne ich ihn. In seinem Buche ,Das Erfurter Programm in seinem grundsätzlichen Teil' behandelt er auch die Gewerkschaften. Ich will daraus nur zwei Sätze vorlesen. Es heißt da: ,Die direkten wirtschaftlichen Erfolge der Kämpfe der unqualifizierten Proletarier sind in der Regel gering. Ihre Geschichte ist eine lange Reihe von Niederlagen, unterbrochen von wenigen einzelnen Siegen. (Engels) Aber gleich dem Riesen Antäus der griechischen Sage schöpfen die Proletarier aus der Niederlage neue Kraft. Wie immer der Ausgang des Kampfes sein mag, er selbst ist es, der die Arbeiter moralisch hebt. der alle jene Eigenschaften in ihnen hervortreten und zur Geltung kommen lässt, die wir oben als die charakteristischen des Proletariats bezeichnet haben, der dessen moralische und gesellschaftliche Wiedergeburt fördert, auch wenn er zu seiner ökonomischen Förderung nichts beiträgt, vielleicht gar eine wirtschaftliche Schlechterstellung zur Folge hat.' Weiter heißt es: ,Das kämpfende Proletariat ist aber das weitaus wichtigste und ergiebigste Rekrutierungsgebiet der Sozialdemokratie. Sie ist im Wesentlichen nichts anderes, als der zielbewusste Teil des kämpfenden Proletariats, dieses hat die Tendenz, immer mehr gleichbedeutend zu werden mit der Sozialdemokratie, in Deutschland und Österreich sind beide tatsächlich eins geworden.' Nach dieser Theorie wird der Kampf an sich als das wesentlichste Moment der Gewerkschaftsbewegung aufgefasst. Bei uns ist der Kampf aber nur ein Mittel zu dem Zweck, die Lage der Arbeiter zu verbessern. (Sehr richtig!) Diese grundsätzlich verschiedenen Auffassungen der Gewerkschaftsbewegungen müssen schließlich zu Auseinandersetzungen führen. Die Gewerkschaftsbewegung geht aber auch nicht in dem Sinne in der Sozialdemokratie auf, wie Kautsky annimmt." Bringmann bringt diese Zitate also vor nicht etwa als persönliche Entgleisungen von mir, da wären sie ja belanglos, sondern als Proben jener Gewerkschaftstheorie, die in „unserer Partei bisher gang und gäbe gewesen ist.'' und die den Gegensatz zwischen Partei und Gewerkschaft verschuldet. In Wirklichkeit sucht er aber hier den Gegensatz an ganz verkehrter Stehe, denn die von mir zitierten Sätze haben gar nicht den Sinn, den er ihnen unterlegt, und dieser Sinn ist auch in der Partei nie eine „gang und gäbe" Anschauung gewesen. Man betrachte die hier aus meinem „Erfurter Programm" zitierten Sätze genauer, so wird man finden, dass in keinem von ihnen auch nur mit einem Worte von den Gewerkschaften die Rede ist. Ich spreche vielmehr ausdrücklich von unqualifizierten Arbeitern, das heißt von solchen, die in der Regel gewerkschaftlich nicht organisiert sind! Der Gedankengang, zu dem diese Sätze gehören, ist folgender: Das moderne Proletariat zerfällt in zwei Schichten, die qualifizierten und die nicht qualifizierten Arbeiter. Die ersteren können sich leichter gewerkschaftlich organisieren und durch ihre gewerkschaftlichen Organisationen erhebliche Vorteile erlangen. Den letzteren ist die gewerkschaftliche Organisation höchst erschwert und ihre Kämpfe enden meist mit Niederlagen. Trotzdem gehen sie aus solchen Kämpfen zum mindesten moralisch gekräftigt und erhoben hervor. Man sollte annehmen, dass selbst ein so scharfer Kritiker wie Bringmann gegen diesen Gedankengang nichts sollte einwenden können, der allbekannte Tatsachen konstatiert. Weder in den zitierten Sätzen noch in dem ganzen Kapitel über die Gewerkschaften findet sich auch nur eine Zeile, die man dahin deuten könnte, dass ich den Kampf der Gewerkschaften als Selbstzweck und nicht als Mittel zu dem Zweck, die Lage der Arbeiter zu verbessern, betrachte. Die „grundsätzlich verschiedenen Auffassungen der Gewerkschaftsbewegung", die „schließlich zu Auseinandersetzungen führen müssen", erweisen sich daher als reine Produkte derselben Phantasie, deren üppige Fruchtbarkeit zu bewundern wir schon vorher Gelegenheit hatten. Nach dieser Leistung fährt Bringmann fort: "Das (nämlich meine oben von Bringmann so getreu entwickelten Anschauungen) führt zu recht merkwürdigen … Konsequenzen. Ich will hier nur zwei Auslassungen Kautskys über die Gewerkschaftsbewegung zitieren, die tief blicken lassen. „Gelegentlich einer Auseinandersetzung mit Poersch (,Neue Zeit' vom 31. Dezember 1898) erklärte sich Kautsky mit Poerschs Auffassung einverstanden, der als wahres Ziel der gewerkschaftlichen Organisation die Wahrung und Verbesserung der beruflich-wirtschaftlichen Lage der Arbeiter innerhalb der heutigen gesellschaftlichen Ordnung bezeichnet. Kautsky macht nur die einengende Hinzufügung: ,Dass die Gewerkschaft ihr Ziel zu erreichen sucht durch eine demokratische Organisation und durch den Kampf gegen die Kapitalisten des Berufs, den sie vertritt.' Man könne nur in dem Sinne von ,sozialdemokratischen Gewerkschaften' reden, führte Kautsky aus, dass die Mitglieder der deutschen Gewerkschaften, ,soweit sie überhaupt einer bestimmten Partei angehören, Sozialdemokraten sind'. Das sei aber ,nicht ein beabsichtigter, sondern ein durch die Verhältnisse geschaffener' Zustand. Die ,Gewerkschaften sollten unpolitische Organisationen. sein. Die Gewerkschaft soll jedem Lohnarbeiter des betreffenden Berufs offen stehen, welches immer seine politische Gesinnung sein mag. Es ist eine arge Schädigung der deutschen Arbeiterbewegung, dass sie politisch gespalten ist in eine ultramontane, eine freisinnige, eine sozialdemokratische. … Soweit die deutsche Gewerkschaftsbewegung unter der Spaltung des Proletariats in verschiedene Parteien leidet, kann sie nur durch die Zurückdrängung der bürgerlichen Parteien in der Arbeiterschaft an Boden gewinnen. Diese Zurückdrängung ist sicher nicht die Aufgabe der Gewerkschaften. Wir stimmen ganz dem Genossen Poersch zu, wenn er meint. dass es für die Gewerkschaften um so besser sei, je weniger Politik sie treiben. Den Parteikampf kann nur die Sozialdemokratie führen. Diese ist es daher, die den Boden für die Gewerkschaftsbewegung vorzubereiten hat. Ehedem betrachtete man die Gewerkschaften als Rekrutenschulen der Sozialdemokratie. Heute ist das Umgekehrte der Fall'. So schrieb Kautsky 1898. In den hier gezeichneten Rahmen passen aber alle Gewerkschaften ,auch die weit rechtsstehendem wenn wir so sagen wollen'. „Nun schreibt er aber in der „Neuen Zeit" vom 1. Dezember 1905: ,Eine neue Art Revisionismus (sei entstanden), der gewerkschaftliche, der in einem Teile der gewerkschaftlichen Bürokratie seine Stütze fand. Dieser Revisionismus predigt unter der Flagge der Neutralität ein Abrücken von der Sozialdemokratie. Er betrachtet diese nicht als die Arbeiterpartei, sondern als eine Partei wie jede andere. Nicht als die Partei, die das Proletariat vereinigt, sondern als eine von den vielen Parteien, in die das Proletariat sich spaltet. Die Sozialdemokratie wurde als ein die organisatorische Vereinigung des Proletariats hemmender Faktor angesehen. Wollte man die ultramontanem konservativen and liberalen Arbeiter mit den sozialdemokratischen in einer Gewerkschaft vereinigen, so sollte das nicht dadurch geschehen, dass man jenen die Nützlichkeit und Notwendigkeit der Sozialdemokratie begreiflich machte, sondern dadurch, dass die Gewerkschaft auf allen sozialdemokratischen Geist verzichtete, aus dem sie geboren worden.' „In diesen beiden Zitaten liegt ein großer Widerspruch. (Sehr richtig!) Ich nehme das aber Kautsky nicht übel, will kein Scherbengericht über ihn abhalten, sondern nur erklären, woher der Widerspruch kommt. Die Sache ist sehr einfach. Im Jahre 1898 waren die Gewerkschaften noch schwach, es sah so aus, dass sie sich im Sinne der Kautskyschen Theorie entwickeln würden, seitdem sind sie erstarkt und haben bedeutende Erfolge zu verzeichnen. (Sehr richtig!) Das ist der Kern der Sache, der Ursprung der Animosität der Nurpolitiker gegen uns." Ich zitiere die Ausführungen Bringmanns vollinhaltlich, damit ja kein Missverständnis über seinen „Tiefblick" möglich wird. Mit dem vorher aus dem Erfurter Programm geschöpften Schlusse haben diese Auffassungen Bringmanns freilich nichts zu tun. Sie widersprechen ihnen. Eben hat er nachgewiesen, meine Anschauungen und ebenso die der Partei stünden mindestens seit dem Erfurter Programm im Gegensatz zu den Interessen der Gewerkschaften. Nun will er nachweisen, ich hätte 1898 noch in einem Sinne geschrieben, dem „auch die weit rechtsstehenden Gewerkschaften" zustimmen könnten! Aber seitdem freilich hätte ich meinen Standpunkt total verändert. Und der tiefblickende Bringmann weiß auch sofort, woher das rührt. 1898 waren die Gewerkschaften noch schwach, es sah aus, als ob sie sich im Sinne meiner Theorie entwickeln würden. Seitdem sind sie erstarkt. „Das ist der Kern der Sache, der Ursprung der Animosität der Nurpolitiker gegen uns." Hier wird wieder eine neue „Kautskysche Theorie" der Gewerkschaftsbewegung aufgebracht, von der weder ich noch sonst jemand etwas gehört hatte, und die offenbar dahin geht, dass die Gewerkschaften für immer verurteilt sind, schwach zu bleiben. Ich habe zwar, so oft ich darüber schrieb, so auch, wie schon erwähnt, in der Zeit größter gewerkschaftlicher Depression, das gerade Gegenteil mit Entschiedenheit verfochten, aber tut nichts, der tiefblickende Bringmann sieht mit unerbittlicher Deutlichkeit auch Dinge, die nicht da sind, verkündet sie mit größter Entschiedenheit seinen gewerkschaftlichen Kollegen, und diese rufen ihm begeistert zu: „Sehr richtig." Nach alledem ist es nun ein leichtes, den Kern meiner schwarzen Seele zu enthüllen und die Ursache meiner „Animosität" gegen die Gewerkschaft in dem Ärger über das programmwidrige Erstarken der Gewerkschaften zu entdecken. Wahrhaftig, welch kleinliche Seele! Natürlich ich. Wohl könnte ich geltend machen, dass, wenn ein Widerspruch zwischen den beiden Zitaten bestünde, er auch daraus erklärt werden könnte, dass ich inzwischen manches gelernt habe, dass die Gewerkschaften manche neue Tatsache zutage gefördert haben, die heute vieles klar erkennen lässt. was vor acht bis zehn Jahren noch im Dunkel lag. Ich könnte darauf hinweisen, dass niemand in gewerkschaftlichen Dingen mehr seine Anschauungen geändert hat, als die Mehrheit der deutschen Gewerkschafter, Bringmann eingeschlossen, dass diese also am allerwenigsten Ursache hätten, Meinungsänderungen anderer strenge zu beurteilen und den niedrigsten Motiven zuzuschreiben. Aber ich lege auf alles das keinen Wert, denn meine Animosität gegen die Gewerkschafter geht so weit, die Richtigkeit der Zitate zu bestreiten, die Bringmann von mir anführt, und zu behaupten, dass die Originale sich nicht im Mindesten widersprechen. Worin soll der Widerspruch zwischen den beiden Zitaten liegen? 1905 wende ich mich dagegen, dass man die ultramontanen, konservativen und liberalen Arbeiter nicht dadurch mit den sozialdemokratischen in einer Gewerkschaft zu vereinigen sucht, dass man ihnen die Notwendigkeit der Sozialdemokratie begreiflich macht, sondern dadurch, dass die Gewerkschaft auf allen sozialdemokratischen Geist verzichtet. 1898 soll ich das Gegenteil geschrieben haben. Man vergleiche aber das, was ich gesagt, mit dem, was Bringmann „zitiert". So heißt es bei ihm: „Man könne nur in dem Sinne von ,sozialdemokratischen Gewerkschaften' reden, führte Kautsky aus, dass die Mitglieder der Gewerkschaften, ,soweit sie überhaupt einer bestimmten Partei angehören, Sozialdemokraten sind'. Das sei aber ,nicht ein beabsichtigter, sondern ein durch die Verhältnisse geschaffener' Zustand. Die Gewerkschaften sollten ,unpolitische Organisationen' sein" usw. Was habe ich aber in Wirklichkeit gesagt? „Allerdings unterscheiden sich die deutschen Gewerkschaften von den Trade Unions dadurch, dass ihre Mitglieder, soweit sie überhaupt einer bestimmten Partei angehören, Sozialdemokraten sind, so dass man in diesem Sinne mit Recht von sozialdemokratischen Gewerkschaften sprechen kann, wenn sie auch unpolitische Organisationen sind. Dieser Unterschied ist jedoch nicht ein beabsichtigter, sondern ein durch die Verhältnisse geschaffener." Man sieht, dieser Passus hat im Original einen ganz anderen Charakter, als in der Bringmannschen Wiedergabe. Ich habe weder gesagt, die „freien" Gewerkschaften seien nur in dem Sinne sozialdemokratisch, dass ihre Mitglieder Sozialdemokraten, noch habe ich erklärt, sie sollten unpolitische Organisationen sein. Ich habe bloß konstatiert, dass sie, trotzdem sie unpolitische Organisationen sind, was sie 1898 noch mit Rücksicht auf das Vereinsrecht sein mussten, in gewissem Sinne sozialdemokratisch genannt werden dürfen. Bringmann legt aber so viel Wert darauf, mich 1898 erklären zu lassen, dass die Gewerkschaften unpolitisch sein sollten, dass er später den Satz: „dass es um so besser für die Gewerkschaften sei, je weniger Parteipolitik sie trieben", in den Satz verwandelt: „je weniger Politik sie trieben". Aber schlimmer noch als diese Art des Zitierens ist die Art, den Charakter der Zitate zu verdrehen durch das, was Bringmann weglässt. Jeder, der sein Zitat liest, muss glauben, ich stimmte 1898 mit Poersch in der Forderung der Neutralität der Gewerkschaften überein. In Wirklichkeit war mein Artikel eine Polemik gegen Poersch und dessen Forderung der gewerkschaftlichen Neutralität. Ich gab ihm zu, dass diese Forderung wohlgemeint sei, dass sie auch unter Umständen wie in England den Gewerkschaften vorteilhaft sein könne, dass es auf jeden Fall wünschenswert wäre, wenn man alle Arbeiter des gleichen Berufs, welches immer ihre politische Gesinnung, in einer Gewerkschaft vereinigen könnte. Aber, erklärte ich – und von diesem Aber findet sich nicht die leiseste Andeutung bei Bringmann, obwohl es dem Artikel seinen Charakter gibt –, wie die Dinge in Deutschland liegen, kann die gewerkschaftliche Neutralität ihren Zweck nicht erreichen. Arbeiter, die noch dem Zentrum oder dem Freisinn anhängen, würden nie einer proletarischen Kampforganisation beitreten, sie würden den freien Gewerkschaften fern bleiben, solange diese Organe des Klassenkampfs sind. Sie müssen erst für die Sozialdemokratie gewonnen sein, ehe sie für die freien Gewerkschaften reif werden. Nicht Neutralität, sondern sozialdemokratische Propaganda ist die Vorbedingung der Kräftigung der Gewerkschaften. Ich sagte damals: „Die deutschen Gewerkschaften wurden nach dem Muster der englischen gebildet. Wenn trotzdem die ersteren eine parteipolitische Färbung erhielten, welche die letzteren nicht haben, so liegt das nicht an der deutschen Sozialdemokratie, sondern an ihren Gegnern. In England kann ein Arbeiter gleichzeitig ein eingefleischter Konservativer oder Liberaler und ein wackerer Gewerkschafter sein, in Deutschland ist das unmöglich. Ein ,königstreuer', ,patriotischer', ,christlicher' oder ,freisinniger' Arbeiter wird gegen niemand mehr gehetzt als gegen seine von den bürgerlichen Parteien unabhängigen Kollegen und deren Gewerkschaften. Will man diesen Arbeiter für die Gewerkschaft gewinnen, so muss man ihn vor allem der Partei abwendig machen, der er angehört. „Nicht die Parteipolitik der sozialdemokratischen Gewerkschaften, sondern die Gewerkschaftspolitik der nichtsozialdemokratischen Parteien bewirkt es, dass die Gewerkschaften nur einen Teil der Arbeiterschaft umfassen, die der gewerkschaftlichen Organisation zugänglich wäre." Hieran schlossen sich dann die schon von Bringmann zitierten Sätze: „Soweit die deutsche Gewerkschaftsbewegung unter der Spaltung in verschiedene Parteien leidet, kann sie nur durch die Zurückdrängung der bürgerlichen Parteien in der Arbeiterschaft an Boden gewinnen usw." Diese Sätze sind bei ihm ganz sinnlos, sie erhalten erst einen Sinn als Schluss eines Gedankenganges, den ich heute noch unterschreibe, der nicht den geringsten Widerspruch zu meinen heutigen gewerkschaftlichen Anschauungen bildet, der vielmehr genau dasselbe sagt wie das zweite von Bringmann ans dem Jahre 1905 vorgebrachte Zitat. Derartige missverstandene ober gar zurechtgelegte Zitate bilden aber das ganze „theoretische" Rüstzeug, mit dem auf der Konferenz der angebliche Gegensatz zwischen der gewerkschaftlichen Theorie unserer Partei und den Interessen der Gewerkschaften „bewiesen" wurde. 3. Die Einheitlichkeit des politischen und des gewerkschaftlichen Kampfes So verfehlt die Versuche auf der Konferenz waren, einen Gegensatz zwischen der Theorie der Partei und einer angeblichen gewerkschaftlichen Theorie zu konstruieren, so ist damit nicht gesagt, dass nicht ein gewisser Gegensatz zwischen Gewerkschaftern und sozialdemokratischen Politikern besteht. Ein solcher ist sicher vorhanden, nicht persönlicher, sondern sachlicher Natur, in den Dingen tief begründet, er entspringt aber nicht aus Verschiedenheiten der Theorie. Er liegt vielmehr darin begründet, dass Partei und Gewerkschaft immer mehr aufs Engste aufeinander angewiesen sind, ohne einander nicht existieren können, dabei aber verschiedene Funktionen haben und mitunter verschiedene Richtungen zu deren bester Ausübung einschlagen. Man hat öfter das innige Zusammenwirken, auf das Partei und Gewerkschaft angewiesen sind, dadurch zu illustrieren versucht, dass man sie mit zwei Beinen oder Armen des proletarischen Körpers verglich, der beide gleich notwendig brauche und mit einem allein kaum zum Ziele kommen könne. Das Bild ist in diesem Sinne ganz richtig, aber man vergisst dabei leicht, dass ein gedeihliches Zusammenwirken der beiden Glieder des einen Körpers nur ermöglicht wird dadurch, dass beide durch den gleichen Kopf geleitet werden. Wäre jeder Arm mit einem eigenen Kopfe in Verbindung, würde kaum ein ersprießliches Zusammenwirken dabei herauskommen. Jedes Bild hinkt natürlich, und so auch das mit den beiden Armen. Der Mangel eines gemeinsamen Kopfes wird bei Partei und Gewerkschaft bis zu einem hohen Grade dadurch ausgeglichen, dass beide wenigstens zum Teil die gleichen Mitglieder zählen, also insofern von dem gleichen Wollen und Streben beseelt sein können – aber leider nicht immer sein müssen. Am wenigsten leicht werden Differenzen zwischen den beiden Organisationen dort vorkommen, wo sie in einem Körper vereinigt sind, unter einer Leitung stehen, wie das in manchen Staaten der Fall, zum Beispiel in Belgien oder England, wo die Gewerkschaften direkt Mitglieder der Arbeiterpartei geworden sind. Aber nicht überall machen die historisch gegebenen Verhältnisse eine solche Vereinigung möglich oder auch nur wünschenswert, und wo das nicht der Fall, dort hängt es von einer Reihe sehr wechselnder Bedingungen ab, wie eng sich das Verhältnis zwischen Partei und Gewerkschaft gestaltet, und mit welchen Reibungen und Schwierigkeiten die Herstellung der notwendigen Übereinstimmung zwischen ihnen verbunden ist. Welche Formen diese Verhältnisse aber auch annehmen mögen, stets erweist sich dabei die Partei als das richtunggebende Element, wenn sie nur einigermaßen Kraft und politische Bedeutung erlangt hat, und sind es die Gewerkschaften, die ihre Taktik nach der der Partei einzurichten haben, und nicht umgekehrt. Es ist nicht schwer einzusehen, warum dem so sein muss. Das rührt nicht von einer besonderen Anmaßung der Politiker oder „Nurpolitiker" her, als ob diese sich erhaben blinkten über die Gewerkschafter, sondern von der Rolle, die Partei und Gewerkschaft im Klassenkampf spielen. Wir haben gesehen, wie die Gewerkschaft zunächst nur die Interessen ihrer Mitglieder vertritt. die Partei die des gesamten Proletariats; wie die Gewerkschaft zunächst nur bestimmte ökonomische Augenblicksinteressen ihrer Mitglieder vertritt, indes die Partei außer diesen Interessen auch noch alle anderen gesellschaftlichen Interessen des gesamten Proletariats zu wahren hat; endlich aber ist die gewerkschaftliche Bewegung an sich eine Bewegung ohne ein Endziel, mit dem sie als abgeschlossen gelten könnte. Sie setzt sich nicht das Ziel der Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, sondern nur die Wahrung der Interessen ihrer Mitglieder innerhalb dieser Produktionsweise beim Abschluss und der Erfüllung des Arbeitsvertrags. Das Kapital ist aber stetig bestrebt, jede Errungenschaft einer Arbeiterschicht wieder zunichte zu machen, sei es durch technische Einrichtungen, Heranziehung tiefer stehender Arbeitskräfte, sei es in Zeiten der Krise durch direkte Aufhebung der in den Zeiten der Prosperität gemachten Konzessionen. So sind die Errungenschaften der Gewerkschaften nie gesichert, können immer wieder durchbrochen, können nur in stetem Kampfe behauptet werden. Die Partei strebt dagegen auf ein Endziel los, das der kapitalistischen Ausbeutung ein für allemal ein Ende macht. Diesem Endziel gegenüber darf man die gewerkschaftliche Arbeit, so unentbehrlich und heilsam sie ist, sehr wohl als Sisyphusarbeit bezeichnen, nicht in dem Sinne einer nutzlosen Arbeit, wohl aber einer Arbeit, die nie endet und immer wieder von neuem begonnen werden muss. Aus alledem ergibt sich, dass überall dort, wo eine starke und angesehene sozialdemokratische Partei existiert, diese weit eher als die Gewerkschaften in der Lage ist, die im Klassenkampf gebotene Richtung zu erkennen und damit auch die Richtung zu weisen, in der sich die einzelnen proletarischen Organisationen des Klassenkampfes, die nicht direkt der Partei zugehören, zu bewegen haben, soll die unentbehrliche Einheitlichkeit des Klassenkampfes bewahrt bleiben. Die Mitglieder der Gewerkschaften brauchen sich dadurch, wenn sie gleichzeitig Parteigenossen sind, in ihrer Selbständigkeit nicht bedroht zu fühlen. Sie sind es, die hier wie dort in der gleichen Richtung wirken. Dagegen können sich die Leiter der Gewerkschaften, die Gewerkschaftsbeamten, unter Umständen durch die Partei wohl beengt fühlen. Am ehesten natürlich dort, wo sie nicht Sozialisten, sondern reine Gewerkschafter sind, deren Gesichtskreis über die gewerkschaftlichen Interessen nicht hinausreicht. So empfanden die englischen Gewerkschaftsbeamten in der Internationale die Marxsche Leitung immer mehr als einen unerträglichen „Autoritarismus", und sie verbanden sich unbedenklich zu deren Bekämpfung immer mehr mit den „Revolutionsromantikern" der Bakuninschen Richtung, je stärker die Marxschen Tendenzen auf Gründung einer selbständigen politischen Arbeiterpartei in England zutage traten. Sie fühlten instinktiv, dass damit eine Macht geschaffen werden sollte, die ihrer Selbstherrlichkeit ein Ende machte. Ebenso gibt es in Amerika keine giftigeren Feinde der sozialdemokratischen Partei, als die Masse der Gewerkschaftsbeamten um Gompers herum. Indessen auch dort, wo die Gewerkschaftsbeamten in der Mehrheit gute und überzeugte Parteigenossen sind, wie in Deutschland, kann es dahin kommen, dass sie sich durch die Partei beengt fühlen, wenn die Dinge sich so gestalten, dass die Angenblicksinteressen der Gewerkschaften zu einer anderen Taktik drängen, als diejenige ist, welche für die Partei durch die Situation der gesamten Arbeiterklasse ermöglicht oder geboten wird. Und das findet heute in Deutschland statt. Die Gewerkschaften sind zu großen und starken Organisationen angewachsen, die imstande sind, durch ihre reichen Mittel ihren Mitgliedern sehr erhebliche Vorteile zu verschaffen, die aber in demselben Maße, in dem sie wachsen, auch im Kampf mehr zu verlieren haben. Gleichzeitig aber haben sich noch weit stärker in zahlreichen Industriezweigen die Unternehmer zu furchtbaren Verbänden vereinigt. die niederzuringen mit den gewöhnlichen Mitteln gewerkschaftlicher Taktik nur unter außergewöhnlich günstigen Verhältnissen möglich, unter normalen Bedingungen aussichtslos ist. Unter diesen Verhältnissen werden die Gewerkschaften nicht kampfunfähig, aber ihre Kampflust schwindet, sie werden mehr und mehr in die Defensive gedrängt und müssen bei dem Beginn eines jeden Kampfes immer vorsichtiger alle Chancen abwägen, denn zu viel steht für sie auf dem Spiele und zu mächtig ist der Gegner, als dass man ihn leichtfertig herausfordern dürfte. So entwickelt sich das vielberufene „Ruhebedürfnis" der Gewerkschaften, nicht als Laune einiger Gewerkschafter, sondern als das Resultat sehr realer, von dem Willen der einzelnen völlig unabhängiger Verhältnisse. Ganz anders aber gestaltet sich die Situation, wenn wir nicht die Entwicklung der Gewerkschaften und ihrer Gegner allein, sondern die des gesamten Klassenkampfs verfolgen. Wir sehen dann, dass die Klassengegensätze sich immer schroffer zuspitzen, besonders in Preußen, wo der mächtigsten Sozialdemokratie die stärkste Regierung, die gierigsten und brutalsten Ausbeuter, Junker und Scharfmacher gegenüberstehen. Da begegnet jede Regung der Arbeiterklasse besonders hartnäckigem Widerstand, verschärfen sich die Konflikte, werden die politischen Kämpfe immer erbitterter, werden die Möglichkeiten friedlicher, ruhiger Entwicklung immer mehr unterbunden, reifen immer mehr die Bedingungen einer katastrophalen Entwicklung. Der Stillstand der Sozialreform, die völlige Unfruchtbarkeit des heutigen Parlamentarismus, die so manchem als Beweise der Ohnmacht der deutschen Sozialdemokratie erscheinen, entspringen vielmehr ihrer Stärke. In anderen Ländern kann es die Bourgeoisie noch wagen, mit der Sozialdemokratie zu experimentieren, wie ehedem Bismarck mit Lassalle und Schweitzer zu experimentieren suchte; in Deutschland sind wir über dies Stadium langst hinaus, und es gäbe keine andere Politik der Sozialdemokratie, die es wieder beleben könnte, als die der Abrüstung und Abdankung. Die Stagnation allen Fortschritts beweist nicht, dass die Sozialdemokratie ohnmächtig geworden ist, sondern vielmehr, dass wir in jene Periode eingetreten sind, in der alle Illusionen allmählicher Aushöhlung des Kapitalismus fallen müssen, in der sich die Gegensätze immer mehr zuspitzen, sich alle Sicherheitsventile verstopfen und die soziale Spannung immer bedrohlicher anwächst, bis irgend ein Ereignis den Kessel zum Bersten bringt. Und die große russische Revolution ist schwanger genug mit Ereignissen, die dazu führen können. So wächst in demselben Maße, in dem das Ruhebedürfnis der Gewerkschaften und namentlich das ihrer für ihr Gedeihen verantwortlichen Führer, nicht für ihre Personen, sondern für ihre Organisationen, zunimmt, die revolutionäre Spannung im kämpfenden Proletariat. eine Stimmung, die naturgemäß in der Partei am ehesten und leichtesten ihren Ausdruck findet. Gewerkschafter, die die gewerkschaftliche Welt als eine Welt für sich, nicht als ein Stück des großen proletarischen Klassenkampfs betrachten, können da leicht dazu kommen, in der Partei ein die gewerkschaftlichen Interessen störendes Element zu sehen, um so mehr, da in demselben Maße, in dem die eben beschriebene Entwicklung vor sich geht, auch die Abhängigkeit von Partei und Gewerkschaft eine immer engere wird, jeder der beiden Teile bei jeder größeren Aktion immer mehr auf den anderen angewiesen ist. Da kommt es schließlich dahin, dass manchem Gewerkschaftsführer die Partei als der Ruhestörer erscheint, der die der Ruhe so bedürftigen Gewerkschaften immer wieder in neue Kämpfe hineinzieht und sie Katastrophen entgegentreibt, die sie völlig ruinieren können. In den Diskussionen über die Maifeier und über den Massenstreik sowie in der Haltung gegenüber der russischen Revolution sind die daraus erwachsenden Differenzen deutlich und mit erschreckender Schärfe zutage getreten. Entwickeln sie sich in der bisherigen Weise weiter, dann wird der Konflikt zwischen Partei und Gewerkschaften unvermeidlich, ein Konflikt, der für beide Teile, für die ganze Arbeiterklasse Deutschlands unabsehbaren Schaden herbeiführen, die deutsche Arbeiterbewegung für Jahre hinaus kampfunfähig machen würde, in einer Zeit, in der sie mehr als je auf den innigsten Zusammenschluss aller Kräfte angewiesen ist, um den großen Ausgaben gewachsen zu sein, die ihrer harren. Vertuschen oder Beschwichtigen, die Mahnung, sich doch zu vertragen, da wir hüben und drüben doch nur das Beste wollen und uns leicht einigen könnten, wenn nicht die „radikalen Stänker und Krakeeler" da wären – das nutzt nichts, da es den Kern der Sache nicht trifft. Partei und Gewerkschaft können nur gedeihen, wenn sie einheitlich und geschlossen in der gleichen Richtung tätig sind – wenn auch natürlich jede in einer anderen, ihr besonders entsprechenden Weise. Gibt es keinen gemeinsamen Kopf, der sie beide dirigiert – und bei den gegebenen Verhältnissen scheint das vorläufig ausgeschlossen – dann bleibt nur eins: entweder greifen die Gewerkschaften oder doch die Gewerkschafter in die Partei oder die Partei, beziehungsweise die Parteigenossen in die Gewerkschaften richtunggebend ein. Auf den ersteren Weg wies auch Elm in der Konsequenz hin: „Wenn die Gewerkschaftsmitglieder sich mehr um die Partei kümmern würden, dann würde diese Richtung (die radikale) auf einem einzigen Parteitag einfach weggefegt werden." Das erscheint allerdings als ein probates Mittel, die Einheit zwischen Gewerkschaften und Partei herzustellen. Aber ist es auch durchführbar? „Diese Richtung" ist offenbar nicht die Minderheit in der Partei. Elm bestreitet freilich „entschieden", „dass diese Richtung innerhalb der Sozialdemokratie noch eine große Bedeutung hat", aber im folgenden Satze schon erklärt er: „Sie herrscht momentan, sie gibt momentan den Ton an." Wie man das kann, wenn man keine Bedeutung hat, ist Elms Geheimnis. Wie immer dieses Rätsel zu lösen, auf jeden Fall möchte Elm die „momentan herrschende Richtung" durch eine andere ersetzen. Um das zu können, müssten aber die Gewerkschafter erst selbst eine andere bestimmte Richtung für die Partei repräsentieren. Das ist aber nicht der Fall, wie es gerade auf der Konferenz deutlich zutage trat. Die Mehrheit war sich nur einig darüber, dass sie sich durch die in der Partei „momentan herrschende Richtung" in ihrer Selbständigkeit als Gewerkschafter beengt und auf Wege gedrängt fühlte, die den Gewerkschaften Schaden bringen könnten. Es wurde aber auch nicht der leiseste Versuch gemacht, über diesen Ausdruck des Missvergnügens hinauszugehen und ein besonderes politisches Programm zu entwerfen. Der Stoßseufzer nach einer von der Partei unabhängigen Theorie, die die Gewerkschafter erst zu schaffen hätten, verriet deutlich die Abwesenheit eines von dem jetzigen der Partei abweichenden politischen Programms. Man kann aber eine einmal herrschende Richtung nicht überwinden, wenn man ihr nicht eine andere bestimmte entgegensetzt und für diese Propaganda macht. Mit Majestätsbeleidigungsprozessen gegen die Kritiker einzelner Gewerkschaftsvorstände ist nichts getan. Der Versuch, „diese Richtung einfach hinwegzufegen", könnte, wenn er nicht von vornherein elend scheiterte, nur den Erfolg haben, der Partei jede bestimmte Richtung, ja jeden festen Zusammenhalt zu nehmen und sie schließlich zu zersplittern und aufzulösen. Gelänge es aber den Gewerkschaftern, die „momentan herrschende Richtung" in der Partei aus dem Wege zu räumen, so beseitigten sie damit auch jenen Faktor, der sie am kraftvollsten darin verhinderte, zünftige und aristokratische Tendenzen aufkommen zu lasten, und der sie dahin drängte, die Vorkämpfer der ganzen Arbeiterklasse zu sein. Alle die Vorzüge, die die deutschen Gewerkschaften und ihre Beamten bisher so hoch über die englischen erhoben, sie vor deren Stagnation bewahrt haben, drohten dann nach und nach verloren zu gehen. Diese Methode, die Einheit zwischen Partei und Gewerkschaft herzustellen, könnte zu nichts anderem führen als zur Degradierung der Partei wie der Gewerkschaften. Es ist nie von Vorteil, wenn jener Faktor, der die Gesamtheit und das Endziel repräsentiert, sich jenem Faktor zu unterwerfen hat, der nur einen Teil und nur die nächsten Interessen dieses Teiles vertritt. Das Umgekehrte ist in der deutschen proletarischen Bewegung bisher der Fall gewesen, und es war für beide Teile, Partei und Gewerkschaften, von Vorteil. Die deutsche Sozialdemokratie ist dabei die erste der Welt geworden, und die deutschen Gewerkschaften überflügeln die ehedem vorbildlichen englischen Gewerkschaften an Intelligenz und Tatkraft. ja sogar an Umfang. Bei dieser Beeinflussung der Gewerkschafter durch die Partei haben sich aber jene bisher keineswegs beengt oder gelähmt gefühlt. Die Partei wirkte vielmehr erhebend und kräftigend auf sie. Nun plötzlich soll das anders werden. Es ist bezeichnend, dass Bömelburg erklären konnte: "Er (Geyer) sagte, der Beschluss von Köln sei überholt durch den von Jena, und infolgedessen sei der Jenaer Beschluss maßgebend. (Hört! hört!) Also wir haben uns in der Gewerkschaftsbewegung einfach unterzuordnen, andere bestimmen und wir haben zu gehorchen." Andere bestimmen! Also die Partei, das ist für die Gewerkschafter, auch wenn sie Parteigenossen sind, in diesem Zusammenhang etwas Fremdes. Der Jenaer Beschluss ist nicht ein Beschluss, an dem Bömelburg mitgewirkt hat, sondern ein Beschluss „anderer". Die Minorität des Parteitags braucht dessen Beschlüsse nicht zu respektieren, wenn diese Minorität aus Gewerkschaftern besteht! Wir heben das hervor, nicht um uns darüber zu entrüsten, sondern weil es kennzeichnet, auf welchem Wege sich manche unserer Gewerkschafter befinden. Sie sind gute Parteigenossen, aber die Partei verliert für sie ihre Geltung innerhalb des Rahmens der Gewerkschaft. Jedoch die Pflichten des Parteigenossen sind innerhalb der Gewerkschaft keine anderen als außerhalb derselben, er hat überall in der gleichen Weise für die Partei und ihre Beschlüsse zu wirken, die stets bezwecken, die Kraft und das Gedeihen der gesamten Arbeiterklasse, damit aber auch das der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter zu fördern und zu sichern. Das hat in unserer Partei seit jeher gegolten, und sie kann in ihrem Interesse wie in dem der Gewerkschaften nichts Besseres tun, als bei dieser Auffassung zu beharren. Soll diese aber in den Gewerkschaften Geltung behalten, dann ist es dringend notwendig, dass unsere vorwiegend politisch tätigen Genossen den Gewerkschaften größere Aufmerksamkeit schenken. Das Wachstum der gewerkschaftlichen wie der politischen Organisationen führt immer mehr zur Arbeitsteilung. Die einen der Genossen kümmern sich mehr um das eine, die anderen mehr um das andere Tätigkeitsgebiet. So begreiflich das ist, es ist von Übel. Jeder Parteigenosse, der dazu imstande ist, sollte es nicht bloß für seine Pflicht halten, seiner Gewerkschaft anzugehören, sondern auch für seine Pflicht, in ihr aufs Eifrigste tätig zu sein. Einerseits um ihre Bedürfnisse zu studieren, um imstande zu sein, stets die dauernden, großen Interessen seiner Kollegen in der Gewerkschaft begreifen und aufs Zweckmäßigste vertreten zu können, dann aber auch, um unter den indifferenten oder gar dem Sozialismus feindseligen Kollegen erfolgreich für unsere große Sache zu propagieren, ihnen Klassenbewusstsein beizubringen, ihren Gesichtskreis über den der augenblicklichen gewerkschaftlichen Sonderinteressen hinaus zu dem der allgemeinen Klasseninteressen zu erheben, die mit den höchsten und allgemeinsten Menschheitsinteressen zusammenfallen. Unermüdlich und planmäßig müssen unsere Genossen in den Gewerkschaften dahin wirken, dass deren so weitverbreitete Presse ihre Leser über den Sozialismus und die Partei in richtiger Weise aufklärt und sie nicht mit Bringmannschen Märchen gegen die Partei aufhetzt, müssen sie dahin wirken, dass bei den Wahlen von Gewerkschaftsfunktionären stets Genossen erlesen werden, die nicht bloß treffliche Gewerkschafter, sondern auch überzeugte und disziplinierte Genossen sind. Nicht Kampf zwischen Partei und Gewerkschaft! Das wäre politischer Selbstmord. Aber Kampf für die Partei in der Gewerkschaft, das muss die Parole jedes Genossen sein, der imstande ist, gewerkschaftlich tätig zu sein. Wohl ist die Aufgabe schwer, wohl sind die politisch tätigen Genossen heute bereits alle überbürdet, aber es gibt im Moment keine wichtigere Aufgabe für sie. Die vollkommene Einheit zwischen Partei und Gewerkschaft ist mehr wert für den proletarischen Klassenkampf als ein paar Dutzend neue Mandate: und diese werden um so eher gewonnen, je größer jene Einheit, je stärker das Parteiempfinden in den Gewerkschaften pulsiert. Parteitagsbeschlüsse helfen in solchen Dingen nicht viel. Wohl aber dürfen wir erwarten, dass die Verhandlungen des Parteitags das ihre dazu beitragen werden, das Interesse für die Gewerkschaften in den Kreisen der Parteigenossen zu steigern und sie zu energischem gewerkschaftlichen Wirken anzufeuern. Je mehr ihnen das gelingt, je eifriger unsere Genossen in den Gewerkschaften im Sinne des proletarischen Klassenkampfs tätig sind, um so besser für Partei und Gewerkschaften, um so zuversichtlicher dürfen wir erwarten, dass das deutsche Proletariat siegreich alle Kämpfe bestehen wird denen es entgegengeht. |
Karl Kautsky > 1906 >