Karl Marx‎ > ‎1842‎ > ‎

Karl Marx 18420320 Brief an Arnold Ruge

Karl Marx: Brief an Arnold Ruge

in Dresden

[Nach Marx Engels Werke, Band 27, Berlin 1963, S. 399-401]

Trier, den 20ten März [1842]

Lieber Freund!

Die Novizen sind die Frömmsten, wie Sachsen ad oculos1 beweist.

Bauer hatte einmal in Berlin eine ähnliche Szene mit Eichhorn wie Sie mit dem Minister des Innern. Die oratorischen Figuren dieser Herren sehen sich so ähnlich, wie ein Ei dem andern. Dagegen ist es eine Ausnahme, dass die Philosophie verständlich mit der Staatsweisheit dieser hoch beteurenden Schurken spricht, und selbst etwas Fanatismus schadet nichts. Nichts ist diesen weltlichen Vorsehungen schwerer glaublich zu machen als der Glauben an die Wahrheit und die geistige Gesinnung. Es sind so skeptische Staatsdandies, so routinierte Stutzer, dass sie nicht mehr an wahre interesselose Liebe glauben. Wie soll man nun diesen Roués beikommen als mit dem, was droben Fanatismus heißt? Ein Gardeleutnant hält einen Liebhaber, der ehrliche Absichten hat, für einen Fanatiker. Sollte man darum nicht mehr heiraten? Es ist merkwürdig, wie der Glaube an die Vertierung der Menschen Regierungsglauben und Regierungsprinzip geworden ist. Doch das widerspricht der Religiosität nicht, denn die Tierreligion ist wohl die konsequenteste Existenz der Religion, und vielleicht wird es bald nötig sein, statt von der religiösen Anthropologie von der religiösen Zoologie zu sprechen.

Soviel wusste ich schon, als ich noch jung und gut war, dass die Eier, die man in Berlin legt, keine Leda-Eier, sondern Gänse-Eier sind. Etwas später kam die Einsicht, dass es Krokodileier sind, so z.B. das neueste Ei, wodurch angeblich auf Antrag der rheinischen Stände die ungesetzlichen Beschränkungen der französischen Gesetzgebung betreffs Hochverrats etc. Beamtenvergehen aufgehoben sind.2 Diesmal aber, weil es sich von objektiven gesetzlichen Bestimmungen handelt, ist der Hokuspokus so dumm, dass die dümmsten rheinischen Juristen ihn sofort durchschaut haben. Zugleich hat Preußen das gewiss naive Bewusstsein ausgesprochen, dass die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen das Ansehen und den Kredit der preußischen Beamten aufs Spiel setzen würde. Das ist doch einmal ein rundes Bekenntnis. Unsere rheinischen Schreibereien über Öffentlichkeit und Mündlichkeit laborieren alle an einem Grundübel. Die ehrlichen Leute beweisen fort und fort, dass dies keine politischen, sondern bloß rechtliche Institutionen, dass sie Recht und nicht Unrecht seien. Als wenn es sich darum handelte! Als wenn das Schlimme an diesen Einrichtungen nicht eben darin bestände, dass sie Recht sind! Ich hätte große Lust, das Gegenteil zu beweisen, nämlich dass Preußen Öffentlichkeit und Mündlichkeit nicht einführen darf, weil freie Gerichte und ein unfreier Staat sich nicht entsprechen. Ebenso müsste man Preußen eine große Eloge von wegen seiner Frömmigkeit halten, denn ein transzendenter Staat und eine positive Religion gehören zusammen wie ein Taschengott zu einem russischen Spitzbuben.

Der Bülow-Cummerow lässt, wie Sie aus den chinesischen Zeitungen3 ersehen haben werden, seine Feder mit seinem Pfluge kokettieren4. O über diese ländliche Kokette, die gemachte Blumen trägt! Ich glaube, Schriftsteller von dieser irdischen Stellung, die Stellung auf dem Acker ist doch wohl irdisch, wären erwünscht, noch erwünschter, wenn künftig der Pflug für die Feder dächte und schriebe, die Feder dagegen Frondienste als Revanche verrichtete. Vielleicht kommt es dahin bei der jetzigen Uniformität der deutschen Regierungen, doch je uniformer die Regierungen, je vielformiger sind heutzutage die Philosophen, und hoffentlich besiegt das vielformige Heer das uniforme.

Ad rem5, denn die Politika gehören bei uns biedern moralischen Deutschen zu den Formalia, woher Voltaire schon herleitet, dass wir die gründlichsten Lehrbücher über öffentliches Recht besitzen.

Also was die Sache betrifft, so habe ich gefunden, dass der Aufsatz „über christliche Kunst", der jetzt umgewandelt ist in „über Religion und Kunst mit besonderer Beziehung auf christliche Kunst", total zu reformieren ist, indem der Posaunenton, worin ich redlich erfüllt hatte: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte, und ein Licht auf meinem Wege. Du machst mich mit Deinem Gebot weiser, denn meine Feinde sind, denn Deine Zeugnisse sind meine Rede, und Er, der Herr wird aus Zion brüllen"6, dieser Posaunenton samt der lästigen Gefangenschaft in Hegels Darstellung jetzt mit einer freieren, daher gründlicheren Darstellung zu verwechseln ist. In einigen Tagen muss ich nun auch nach Köln reisen, wo ich mein neues Domizil aufschlage7, da die Nähe der Bonner Professoren mir unerträglich ist. Wer will immer mit geistigen Stinktieren konversieren, mit Leuten, die nur lernen, um neue Bretter an allen Ecken der Welt zu finden!

Also aus diesen Umständen könnte ich die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie wohl für die nächsten „Anekdota" nicht mitschicken (da sie auch für die „Posaune" geschrieben war), die Abhandlung über religiöse Kunst verspreche ich bis Mitte April, wenn Sie so lange warten wollen. Es wäre mir um so lieber, da ich von neuem point de vue8 die Sache betrachte, auch als Anhangskapitel einen Epilog de Romanticis9 gebe. Ich werde einstweilen tätigst, um goethisch zu sprechen, an der Sache fort arbeiten und Ihre Bestimmung abwarten. Wollen Sie mir gefälligst hierüber nach Köln schreiben, wo ich anfangs nächsten Monats sein werde. Da ich daselbst noch kein bestimmtes Domizil habe, bitte ich, mir den Brief unter der Adresse von Jung einzusenden.

In der Abhandlung selbst müsste ich notwendig über das allgemeine Wesen der Religion sprechen, wo ich einigermaßen mit Feuerbach in Kollision gerate, eine Kollision, die nicht das Prinzip, sondern seine Fassung betrifft. Jedenfalls gewinnt die Religion nicht dabei.

Von Köppen habe ich lange nichts gehört. Haben Sie sich noch nie an Christiansen10 in Kiel gewandt? Ich kenne ihn nur aus seiner römischen Rechtsgeschichte, die indes auch manches über Religion und Philosophie überhaupt enthält. Er scheint ein sehr vorzüglicher Kopf, obgleich er damals, wenn er an eigentliches Philosophieren kommt, ganz erschrecklich unverständlich und formell schreibt. Vielleicht schreibt er jetzt auch Deutsch. Sonst scheint er à la hauteur des principes11.

Ich freue mich sehr, Sie hier am Rhein zu sehen.

Ihr

Marx

Bauer schreibt mir soeben, dass er wieder nach dem Norden will, in der törichten Meinung, seinen Prozess contra preußische Regierung daselbst besser führen zu können. Berlin liegt zu nahe bei Spandau. Jedenfalls ist es gut, dass Bauer die Sache nicht so hingehen lässt. Wie ich hier von meinem künftigen Schwager12, einem Aristokraten comme il faut13-, erfahre, ärgert man sich in Berlin am meisten über Bauers bonne foi14.

1 augenfällig

2 Gemeint ist die „Verordnung wegen Abänderung der Vorschriften der Kabinettsorders vom 6.März 1821 und 2. August 1834 über die Untersuchung und Bestrafung der Verbrechen und Vergehen gegen den Staat und der Beamten, im Bezirk des Appellationshofes zu Köln" vom 18. Februar 1842 (siehe „Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußisehen Staaten. 1842", Berlin S.86-88). Diese Verordnung wurde unter dem Druck der Bourgeoisie der Rheinprovinz erlassen und stellte eine Revision der genannten Kabinettsorders dar, die verkündet worden waren, um das in der Rheinprovinz vorher gültige französische Strafgesetzbuch (Code penal) und die bestehenden Geschworenengerichte durch das preußische Recht und durch geheime Gerichtsverfahren zu ersetzen. Jedoch blieben in der Verordnung vom 18. Februar 1842 eine Reihe Vorbehalte und Einschränkungen bestehen, die die faktische Beibehaltung der preußischen Strafprozessordnung in verschiedenen Fragen (betr. Staatsverrat, Beamtenvergehen usw.) bedeuteten.

3 Marx meint damit die offiziellen Zeitungen.

4 Hier ist die Rede von dem 1842 in Berlin erschienenen Buch „Preußen, seine Verfassung, seine Verwaltung, sein Verhältniß zu Deutschland" von Ernst Gottfried Georg von Bülow-Cumrnerow.

5 Zur Sache

6 Nach dem 119. Psalm, Vers 105 und 98, sowie dem Buch des Propheten Arnos, Kapitel I, Vers 2.

7 Marx gab seinen Plan, nach Köln zu ziehen, auf (siehe vorl. Band, S.405). Im April 1842 kehrte er nach Bonn zurück, wo er sich mit Unterbrechungen bis Mitte Oktober desselben Jahres aufhielt.

8Gesichtspunkt

9über die Romantiker

10Christiansen, Johannes (1809-1853) Jurist, Historiker des römischen Rechts, Professor an der Kieler Universität.

11 auf der Höhe der Prinzipien

12 Ferdinand von Westphalen

13 wie er sein muss

14 Vertrauensseligkeit

Kommentare