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Karl Marx 18421130 Brief an Arnold Ruge

Karl Marx: Brief an Arnold Ruge

in Dresden1

[Nach Marx Engels Werke, Band 27, Berlin 1963, S. 411-413]

Köln, 30. Nov. [1842]

Lieber Freund!

Mein heutiger Brief soll sich auf „Wirren" mit den „Freien" beschränken.

Sie wissen schon, dass die Zensur uns täglich schonungslos, so dass oft kaum die Zeitung erscheinen kann, zerfetzt. Dadurch fielen eine Masse Artikel der „Freien". Ebenso viel, wie der Zensor, erlaubte ich mir selbst zu annullieren, indem Meyen und Konsorten weltumwälzungsschwangere und gedankenleere Sudeleien in saloppem Stil, mit etwas Atheismus und Kommunismus (den die Herren nie studiert haben) versetzt, haufenweise uns zusandten, bei Rutenbergs gänzlichem Mangel an Kritik, Selbständigkeit und Fähigkeit sich gewöhnt hatten, die „Rh[einische] Z[eitung]" als ihr willenloses Organ zu betrachten, ich aber nicht weiter dies Wasserabschlagen in alter Weise gestatten zu dürfen glaubte. Dies Wegfallen einiger unschätzbaren Produktionen der „Freiheit", einer Freiheit, die vorzugsweise bestrebt ist, „von allen Gedanken frei zu sein", war also der erste Grund einer Verfinsterung des Berliner Himmels.

Rutenberg, dem schon der deutsche Artikel (an dem seine Tätigkeit hauptsächlich im Interpunktieren bestand) gekündigt, dem nur auf mein Verwenden der französische provisorisch übertragen worden, Rutenberg hatte bei der ungeheuren Dummheit unserer Staatsvorsehung das Glück, für gefährlich zu gelten, obgleich er niemandem gefährlich war, als der .„Rheinischen Z." und sich selbst. Rut[enberg]s Entfernung wurde gewaltsam verlangt. Die preußische Vorsehung, dieser despotisme prussien, le plus hypocrite, le plus fourbe2, ersparte dem Geranten einen unangenehmen Auftritt, und der neue Märtyrer, der schon in Physiognomie, Haltung und Sprache das Märtyrerbewusstsein mit einiger Virtuosität darzustellen weiß, Rutenberg beutet diese Gelegenheit aus, schreibt in alle Welt, schreibt nach Berlin, er sei das exilierte Prinzip der „Rh. Z.", die eine andere Stellung zur Regierung entriert. Es versteht sich von selbst, auch hierauf kamen Demonstrationen von den Freiheitsheroen an der Spree, „dem schmutzigen Wasser, das Seelen wäscht und Tee verdünnt"3.

Kam endlich hinzu Ihr und H[erwegh]s Verhältnis zu den „Freien", um das Maß der zürnenden Olympier vollzumachen.4

Vor einigen Tagen erhielt ich einen Brief von dem kleinen Meyen, dessen Lieblingskategorie mit großem Recht das Sollen ist, worin man mich über mein Verhältnis 1. zu Ihnen und H[erwegh], 2. zu den „Freien", 3. über das neue Redaktionsprinzip und die Stellung zur Regierung in Rede stellt. Ich antwortete gleich und sprach offen meine Ansicht aus von den Mängeln ihrer Arbeiten, die mehr in einer lizentiösen, sanskülottischen und dabei bequemen Form, als in freiem, d.h. selbständigem und tiefem Gehalt, die Freiheit finden. Ich forderte auf, weniger vages Räsonnement, großklingende Phrasen, selbstgefällige Bespiegelungen und mehr Bestimmtheit, mehr Eingehen in die konkreten Zustände, mehr Sachkenntnis an den Tag zu fördern. Ich erklärte, dass ich das Einschmuggeln kommunistischer und sozialistischer Dogmen, also einer neuen Weltanschauung, in beiläufigen Theaterkritiken etc. für unpassend, ja für unsittlich halte und eine ganz andere und gründlichere Besprechung des Kommunismus, wenn er einmal besprochen werden solle, verlange. Ich begehrte dann, die Religion mehr in der Kritik der politischen Zustände, als die politischen Zustände in der Religion zu kritisieren, da diese Wendung mehr dem Wesen einer Zeitung und der Bildung des Publikums entspricht, da die Religion, an sich inhaltslos, nicht vom Himmel, sondern von der Erde lebt, und mit der Auflösung der verkehrten Realität, deren Theorie sie ist, von selbst stürzt. Endlich wollte ich, dass, wenn einmal von Philosophie gesprochen, weniger mit der Firma: „Atheismus" getändelt (was den Kindern ähnlich sieht, die jedem, der's hören will, versichern, sie fürchteten sich nicht vor dem Bautzenmann), als vielmehr ihr Inhalt unter's Volk gebracht würde. Voilà tout5.

Gestern bekomme ich einen insolenten Brief von Meyen, der dies Schreiben noch nicht empfangen hatte und nun mich nach allen möglichen Dingen fragt: 1. ich solle mich erklären, wie ich's bei ihrem Zwist mit Bauer, wovon ich kein Wort weiß, halte; 2. warum ich das und das nicht durchgelassen; wird mir mit Konservatismus gedroht; 3. die Zeitung dürfe nicht temperieren, sondern müsse das Äußerste tun, d.h. ruhig der Polizei und Zensur weichen, statt in einem dem Publico unsichtbaren, aber nichtsdestoweniger hartnäckigen und pflichtmäßigen Kampf ihren Posten behaupten. Endlich wird schmählich über Herweghs Verlobung etc. etc. berichtet.

Aus allem dem leuchtet eine schreckliche Dosis Eitelkeit heraus, die nicht begreift, wie man, um ein politisches Organ zu retten, einige Berliner Windbeuteleien preisgeben kann, die an überhaupt nichts denkt als an ihre Cliquengeschichten. Dabei spreizte sich das Männchen wie ein Pfau, schlug sich beteuernd an die Brust, an den Degen, ließ was von „seiner" Partei fallen, drohte mit Ungnade, deklamierte à la Marquis Posa, bloß etwas schlechter u. dgl.

Da wir nun von morgens bis abends die schrecklichsten Zensurquälereien, Ministerialschreibereien, Oberpräsidialbeschwerden6, Landtagsklagen, Schreien der Aktionäre etc. etc. zu tragen haben und ich bloß auf dem Posten bleibe, weil ich es für Pflicht halte, der Gewalt die Verwirklichung ihrer Absichten, soviel an mir, zu vereiteln, so können Sie denken, dass ich etwas gereizt bin und dem M[eyen] ziemlich derb geantwortet habe. Es ist also wahrscheinlich, dass die „Freien" sich auf einen Augenblick zurückziehen. Ich ersuche daher Sie dringend, sowohl selbst uns zu unterstützen mit Beiträgen, als auch Ihre Freunde dazu aufzufordern.

Ihr

Marx

1 Marx übersiedelte in der ersten Hälfte Oktober 1842 nach Köln und übernahm am 15.Oktober die Redaktion der „Rheinischen Zeitung". Unter seiner Leitung nahm die Zeitung eine immer entschiedenere revolutionär-demokratische Haltung an.

2 preußische Despotismus, der heuchlerischste, der betrügerischste

3 „Und der heiligen Sprea geduldiges Wasser / Die Seelen wäscht und den Tee verdünnt“ (Heinrich Heine, Die Nordsee)

4 In der „Rheinischen Zeitung" Nr. 333 vom 29. November 1842 wurde eine Notiz veröffentlicht, in der es u.a. hieß: „Herwegh und Ruge fanden, dass die ,Freien' durch ihre politische Romantik, Geniesucht und Renommage die Sache und die Partei der Freiheit kompromittieren..."

5 Das ist alles

6 Mitte November 1842 entstand ein scharfer Konflikt zwischen der preußischen Regierung und der Redaktion der „Rheinischen Zeitung". Marx als Redakteur der Zeitung bemühte sich sehr, das drohende Verbot der Zeitung abzuwenden. Am 12.November wurden dem verantwortlichen Redakteur der Zeitung Joseph Engelbert Renard im Namen der preußischen Behörden eine Reihe Verfügungen vorgelegt. Insbesondere wurde verlangt, dass die Zeitung eine der Regierung gefällige Tendenz annehme. Am 17. November schrieb Marx im Namen Renards einen Brief an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz von Schaper, in dem er gegen die neuen Zensurschikanen und die Absicht, die Zeitung zu verbieten, protestierte. Marx verteidigte die oppositionelle Richtung der „Rheinischen Zeitung" und schrieb, dass diese Zeitung „nicht bloß ein gesinnungsloses Amalgam von trockenen Referaten und niedrigen Lobhudeleien ist, sondern mit einer eines edlen Zwecks bewussten Kritik die staatlichen Verhältnisse und Einrichtungen des Vaterlandes beleuchtet" und dass sie ein Blatt ist, „welches charaktervoll und furchtlos die Sprache freier Männer führe". „Die beispiellos schnelle Verbreitung dieses Blattes beweist", bemerkte Marx, „wie sehr es die Volkswünsche verstanden hat." Am 19.Januar 1843 beschloss die preußische Regierung, die „Rheinische Zeitung" mit Wirkung ab 1. April zu verbieten; für die verbleibende Zeit wurde sie einer besonders strengen Zensur unterworfen

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