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Heinrich Bürgers 18460228 Brief an Karl Marx

Heinrich Bürgers: Brief an Karl Marx

in Brüssel

Köln, Ende Februar 1846

[Nach Marx Engels Gesamtausgabe (MEGA). Dritte Abteilung. Briefwechsel, Band 1. Berlin 1975, S. 506-508]

Mein lieber Marx!

Die Schilderung Eures Brüsseler Familienlebens, die Dein Brief an Daniels enthält, hat mir recht lebhaft die Zeit meines Aufenthalts in Paris ins Gedächtnis zurückgerufen, wo Du mich zuerst mit dem miserablen deutsch-bürgerlichen Privattreiben der dortigen Große-Männer-Gesellschaft bekannt machtest. Damals schoben wir, und gewiss mit Recht, die komplette Unmöglichkeit eines humanen Zusammenlebens auf die heterogenen Elemente, aus denen die „Gesellschaft" zusammengewürfelt war. Dass Hess und Engels, deren Gegenwart wir sehnsuchtsvoll herbeiwünschten, eine zweite Auflage des schmutzigen Romans – vermehrt und verbessert – veranstalten würden, wer hätte es denken sollen? Was mich unter all den teils lächerlichen, teils verächtlichen Ver- und Entwicklungen, die sich bei Euch begeben haben müssen, empört, ist die feigherzige Manier, mit der auch diese Leute wieder Deine Frau dafür verantwortlich machen, dass ihren Ungezogenheiten kein Beifall geklascht wird. Um nicht mit Dir zu brechen, den sie nötig haben, der ihnen aber die bittere Wahrheit keiner Zeit vorenthalten haben wird, verwandeln sie Dich nach bekannter spekulativer Methode in einen schwachmütigen Ehemann, der um des lieben Hausfriedens willen je zuweilen den Instigationen aristokratischen Hochmuts nachgibt und sich zu ungerechtem Tadel seiner plebejischen Freunde hinreißen lässt! Er ist ja sonst ein tüchtiger Kerl, denken sie, sehen wir ihm diese kleine Schwäche großmütig nach! So spiegeln sie sich denn, wenn Du ihnen einmal den Kopf gewaschen hast, statt in sich zu gehen, im Glanze ihrer humanen Überlegenheit, die sich eben wieder durch gnädige Nachsicht bewährt hat. Daher fürchte ich denn auch, dass E. über Dein eheliches Verhältnis gerade so denken wird, wie Du über ihn schreibst; wäre Deine Frau nicht, wird er sich einbilden, so würdest Du nicht anstehen, die Weide der „freien" Geschlechtsverbindung, eventuell den Gegenstand seiner Liebe vollständig anzuerkennen. Übrigens siehst Du, wie eine neue Lebenssituation leicht erregbare, aber etwas oberflächliche Naturen, wie E. außer Rand und Band treibt; Hess aber scheint mir durch seine spinozistische oder auch spiritisierende Geistesrichtung viel zu indifferent gegen die Misere unserer Gesellschaft im Kleinen und Einzelnen, in ihren täglichen und stündlichen Äußerungen, als dass er es der Mühe wert halten sollte, gegen solche „Alltäglichkeiten" kräftig zu reagieren. Wie würde er sonst an seinen praktischen Theorien und theoretischen Praktiken so hartnäckig festhalten, wenn er im Stande wäre, die Augen aufzutun und das wirkliche Leben zu sehen? Er sieht immer nur, was ihm die Präokkupation seines Kopfes zu sehen erlaubt, er ist blind, wenn die Wirklichkeit seinen Einbildungen eine gefahrdrohende Grimasse macht. So erträgt er geduldig die Albernheiten seines Freundes, ihre Ansichten sind ja dieselben, sie sind ja für dieselbe Sache tätig! Mag es Jeder in der jetzigen schlechten Gesellschaft treiben, wie er will, qu'importe! in der neuen Gesellschaft wird das Alles, und zwar von selbst, schon ganz anders sein! Wenn Einer mit Hess in der allgemeinen Verurteilung der Gesellschaft übereinstimmt, so genügt's ihm, mag der Kerl es aus höflicher Heuchelei oder aus Überzeugung, aus Unwissenheit oder aus Einsicht tun. Wie Stirner alle Prahlereien der Philosophen für bare Wahrheit nimmt, unbekümmert um ihre reale Lebenslage, so beurteilt auch H. die Menschen nach ihren Worten. Daher ist er denn auch wohl neuerdings wieder auf die theoretische Praxis verfallen, sich Hals über Kopf in die mündliche Propaganda zu stürzen, und wer nicht auf das neue Schiboleth schwört, der wird gesichtet. Wer es aber tut, der wird mit offenen Armen empfangen, wenn er auch noch so viel Ballast von Unsinn im Kopf herumführt. So wurde uns denn kürzlich von H. der Dr. Gttsch als das Muster eines echten Kommunisten vorgehalten, weil der Mann eine große praktische Wirksamkeit ausübe. Und ich glaube, wenn der neue Messias Kuhlmann statt nach Norddeutschland, nach Brüssel sich gewendet hätte, H. hätte sich rasch mit ihm ausgesöhnt und ihn zu seinem „Freunde" erkoren; denn der Mann ist auch entsetzlich praktisch, er reist um Propaganda zu machen, Assoziationen zu stiften, die „neue Welt" ins Leben zu setzen. Er ist aber dabei der verrückteste Esel, den ich je zu Gesicht bekommen habe, des eigentlichen, durchaus egoistischen Zieles seines ganzen Treibens zu geschweigen. Denk Dir, dieser Bursche hat es, wahrscheinlich durch Wirtshaus-Rodomontaden von Kommunismus, der nicht zerstören, sondern aufbauen will, dahin gebracht, dass ihm die Redaktion des Rheinischen Beobachters angetragen wurde. Und er ging darauf ein, es wurde aber nichts daraus, wahrscheinlich weil selbst dem Beobachter seine enorme Unwissenheit über alle wirklichen Dinge nicht verborgen bleiben konnte.

Dein Urteil über E.'s geistigen Zustand hat mich weniger in Erstaunen gesetzt, als sein sonstiges Treiben. Seine Abneigung gegen Philosophie und Spekulation ist viel weniger aus einer Einsicht in ihr Wesen hervorgegangen, als aus der Unbequemlichkeit, die sie seinem wenig ausdauernden Geiste verursachen musste. Als der Augenblick gekommen war, die Last vom Halse zu werfen, mag er sich vorgenommen haben, sich künftig durch den Exorzismus der Verachtung dagegen zu schützen. An ihre Stelle hat er nun einige, mehr oder weniger unkritisch aufgenommene Kategorien gesetzt, und diese genügten auch bisher vollständig, weil die Aufgabe, die er sich gestellt, eine vorherrschend deskriptive war. Jetzt möchte der Augenblick gekommen sein, wo er mit seinem leichten Darstellungstalente ebenso wenig weiter kann, als Hess mit seinen scheinbar tiefsinnigen Meditationen. Da musst Du denn aushelfen und neuen Stoff für die Anwendung liefern.

Leider muss ich schließen, noch ehe ich zu dem gekommen bin, was eigentlich der Gegenstand meines Schreibens sein sollte, nämlich den hiesigen Zuständen. Ich verspare es also zu meinem nächsten Briefe, der nicht lange ausbleiben soll.

Grüße Deine Frau recht herzlich und bitte sie, mir mein Benehmen bei ihrer letzten Anwesenheit in Köln zu Gute zu halten. Ich konnte nicht, wie ich wollte. Deine beiden Kleinen befinden sich hoffentlich wohl? Grüße an Edgar, Weydemeyer.

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