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Karl Marx/Friedrich Engels 18820121 Vorrede zur zweiten russischen Ausgabe des „Manifests der Kommunistischen Partei"

Karl Marx/Friedrich Engels: Vorrede zur zweiten russischen Ausgabe des „Manifests der Kommunistischen Partei"1

[Nach der Handschrift. Nach Marx Engels Werke, Band 19, Berlin 1962, S. 295 f.]

Die erste russische Ausgabe des „Manifestes der Kommunistischen Partei", übersetzt von Bakunin, erschien anfangs der sechziger Jahre2 in der Druckerei des „Kolokol". Der Westen konnte damals in ihr (der russischen Ausgabe des „Manifests") nur ein literarisches Kuriosum sehen. Solche Auffassung wäre heute unmöglich.

Welch beschränktes Gebiet damals (Dezember 1847) die proletarische Bewegung noch einnahm, zeigt am klarsten das Schlusskapitel des „Manifests": Stellung der Kommunisten zu den verschiedenen Oppositionsparteien in den verschiedenen Ländern. Hier fehlen nämlich gerade – Russland und die Vereinigten Staaten. Es war die Zeit, wo Russland die letzte große Reserve der europäischen Gesamtreaktion bildete; wo die Vereinigten Staaten die proletarische Überkraft Europas durch Einwanderung absorbierten. Beide Länder versorgten Europa mit Rohprodukten und waren zugleich Absatzmärkte seiner Industrieerzeugnisse. Beide Länder waren damals also, in dieser oder jener Weise, Säulen der bestehenden europäischen Ordnung.

Wie ganz anders heute! Grade die europäische Einwanderung befähigte Nordamerika zu einer riesigen Ackerbauproduktion, deren Konkurrenz das europäische Grundeigentum – großes wie kleines – in seinen Grundfesten erschüttert. Sie erlaubte zudem den Vereinigten Staaten, ihre ungeheuren industriellen Hilfsquellen mit einer Energie und auf einer Stufenleiter auszubeuten, die das bisherige industrielle Monopol Westeuropas und namentlich Englands binnen kurzem brechen muss. Beide Umstände wirken revolutionär auf Amerika selbst zurück. Das kleinere und mittlere Grundeigentum der Farmers, die Basis der ganzen politischen Verfassung, erliegt nach und nach der Konkurrenz der Riesenfarmen; in den Industriebezirken entwickelt sich gleichzeitig zum ersten Mal ein massenhaftes Proletariat und eine fabelhafte Konzentration der Kapitalien.

Und nun Russland! Während der Revolution von 1848/49 fanden nicht nur die europäischen Fürsten, auch die europäischen Bourgeois in der russischen Einmischung die einzige Rettung vor dem eben erst erwachenden Proletariat. Der Zar wurde als Chef der europäischen Reaktion proklamiert. Heute ist er Kriegsgefangener der Revolution in Gatschina, und Russland bildet die Vorhut der revolutionären Aktion in Europa.

Das „Kommunistische Manifest" hatte zur Aufgabe, die unvermeidlich bevorstehende Auflösung des modernen bürgerlichen Eigentums zu proklamieren. In Russland aber finden wir, gegenüber rasch aufblühendem kapitalistischen Schwindel und sich eben erst entwickelndem bürgerlichen Grundeigentum, die größere Hälfte des Bodens im Gemeinbesitz der Bauern. Es fragt sich nun: Kann die russische Obschtschina, eine wenn auch stark untergrabene Form des uralten Gemeinbesitzes am Boden, unmittelbar in die höhere des kommunistischen Gemeinbesitzes übergehen? Oder muss sie umgekehrt vorher denselben Auflösungsprozess durchlaufen, der die geschichtliche Entwicklung des Westens ausmacht?

Die einzige Antwort hierauf, die heutzutage möglich, ist die: Wird die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so dass beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen.

Karl Marx F. Engels

London, 21. Januar 1882

1Die „Vorrede zur zweiten russischen Ausgabe des .Manifests der Kommunistischen Partei'" verfassten Marx und Engels auf Ersuchen Lawrows. Zwar war die Initiative zur Vorbereitung der zweiten russischen Ausgabe von Plechanow ausgegangen, aber auf Grund seiner engen Beziehungen zu Marx und Engels war es Lawrow, der sich an sie wandte. Am 23. Januar 1882 sandten ihm Marx und Engels den deutschen Text der Vorrede, die dann zum ersten Mal am 5. Februar 1882 in russischer Sprache in der Zeitschrift „Narodnaja Wolja" veröffentlicht wurde. Eine besondere Ausgabe des „Manifests der Kommunistischen Partei" (in der Übersetzung Plechanows) mit der Vorrede von Marx und Engels erschien 1882 in Genf in der Schriftenreihe der „Russkaja sozialno-rewoluzionnaja biblioteka".

Der Sozialdemokrat" veröffentlichte in Nr. 16 vom 13. April 1882 dieses Vorwort in deutscher Fassung, und zwar als Rückübersetzung. Engels selbst übersetzte die Vorrede aus dem Russischen zurück und nahm sie in die Vorrede zur neuen deutschen Ausgabe des „Manifests der Kommunistischen Partei" (1890) auf.

2 Das Datum ist ungenau; die erwähnte Ausgabe erschien 1869.

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