Ergänzungsthesen über die Nationalitäten- und Kolonialfrage (N. Roy) 1. Eine der wichtigsten Fragen, die dem II. Kongress der Kommunistischen Internationale vorlagen, ist die genaue Feststellung der Wechselbeziehungen zwischen der Kommunistischen Internationale und der revolutionären Bewegung in den politisch unterdrückten, vom eigenen kapitalistischen System beherrschten Ländern, wie in China und Indien. Die Geschichte der Weltrevolution durchlebt eine Periode, die eine richtige Auffassung dieser Wechselbeziehungen erfordert. Der große europäische Krieg und seine Folgen haben deutlich gezeigt, dass die Volksmassen der nichteuropäischen unterdrückten Länder infolge der Zentralisation des Weltkapitalismus mit der proletarischen Bewegung in Europa unlösbar verbunden sind, was während des Krieges z. B. in der Entsendung von Kolonialtruppen und zahlreichen Arbeitermassen an die Front seinen Ausdruck fand. 2. Der europäische Kapitalismus schöpft seine Kraft in der Hauptsache weniger aus den europäischen Industrieländern als aus seinen Kolonialbesitzungen. Zu seiner Existenz bedarf er der Kontrolle über die umfangreichen Kolonialmärkte und ein weites Feld der Ausbeutungsmöglichkeit. England, das Bollwerk des Imperialismus, leidet schon ein Jahrhundert lang unter Überproduktion. Ohne die ausgedehnten Kolonialbesitzungen, die für den Absatz seiner Waren notwendig sind und zugleich die Rohstoffquellen bilden, wäre die kapitalistische Ordnung Englands schon lange unter ihrer eigenen Last zusammengebrochen. Indem der englische Imperialismus Hunderte von Millionen Bewohner Asiens und Afrikas zu Sklaven macht, hält er gleichzeitig das britische Proletariat unter der Herrschaft der Bourgeoisie. 3. Der Extragewinn, der in den Kolonien erzielt wird, ist eine der Hauptquellen der Mittel des zeitgenössischen Kapitalismus. Der europäischen Arbeiterklasse wird der Sturz der kapitalistischen Ordnung erst dann gelingen, wenn diese Quelle endgültig verstopft ist. Die kapitalistischen Länder versuchen, und zwar nicht ohne Erfolg, durch umfangreiche und intensive Ausbeutung der menschlichen Arbeit und der natürlichen Reichtümer der Kolonien ihre erschütterte Lage wiederherzustellen. Infolge der Ausbeutung der Kolonialbevölkerung ist der europäische Imperialismus imstande, der Arbeiteraristokratie in Europa eine ganze Reihe von Almosen (Kompensationen) zu gewähren. Während der europäische Imperialismus einerseits durch die Einfuhr von Waren, die von der billigeren Arbeitskraft der Arbeiter der Kolonialländer hergestellt sind, das zum Lebensunterhalt nötige Minimum des Proletariats herabzudrücken sucht, ist er andererseits bereit, den im Heimatland zu erzielenden Mehrgewinn zu opfern, um sich nur den durch die Ausbeutung der Kolonien zu erreichenden Extragewinn zu erhalten. 4. Der Fortfall der Kolonien und die proletarische Revolution in den Mutterländern werden die kapitalistische Ordnung in Europa stürzen. Folglich muss die Kommunistische Internationale ihr Tätigkeitsfeld erweitern. Die Kommunistische Internationale muss sich in enger Verbindung mit den revolutionären Kräften befinden, die sich gegenwärtig in den politisch und wirtschaftlich unterdrückten Ländern an dem Sturz des Imperialismus beteiligen. Zum vollen Erfolg der Weltrevolution ist das Zusammenwirken dieser beiden Kräfte notwendig. 5. Die Kommunistische Internationale ist der konzentrierte Wille des Weltproletariats. Ihre Aufgabe ist die Organisation der Arbeiterklasse der ganzen Welt zum Sturz der kapitalistischen Ordnung und zur Verbreitung des Kommunismus. Die Kommunistische Internationale ist eine kriegerische Einheit, die die revolutionären Kräfte aller Länder der Welt vereinigen muss. Die durch und durch mit bürgerlicher Kultur durchtränkte, von einem Häuflein Politikaster geführte II. Internationale hat die ganze Wichtigkeit der Kolonialfrage nicht genügend gewertet. Für sie war die Welt außerhalb Europas nicht vorhanden. Sie erkannte nicht die Notwendigkeit des Zusammenarbeitens der revolutionären Bewegung in Europa und in den anderen Erdteilen. Anstatt die revolutionäre Bewegung in den Kolonien materiell und moralisch zu unterstützen, wurden die Mitglieder der II. Internationale selbst zu Imperialisten. 6. Der den Ostvölkern gewaltsam aufgezwungene ausländische Imperialismus hat ohne Zweifel ihre soziale und wirtschaftliche Entwicklung gehemmt und ihnen die Möglichkeit genommen, jene Entwicklungsstufe zu erreichen, die in Europa und Amerika erreicht ist. Dank der imperialistischen Politik, die bestrebt ist, die industrielle Entwicklung in den Kolonien aufzuhalten, hat das eingeborene Proletariat eigentlich erst vor kurzem zu existieren begonnen. Die lokal zersplitterte Hausindustrie hat der zentralisierten Industrie der imperialistischen Länder den Platz geräumt; infolgedessen wurde die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung gezwungen, sich mit Ackerbau zu beschäftigen und die Rohstoffe ins Ausland auszuführen. Andererseits ist eine schnell anwachsende Konzentration des Bodens in den Händen der Großgrundbesitzer, der Kapitalisten und des Staates zu beobachten, was wieder zur Vermehrung der Zahl der landlosen Bauern beiträgt. Die ungeheure Mehrzahl der Bevölkerung dieser Kolonien befindet sich im Zustande der Unterdrückung. Infolge dieser Politik kommt der unentfaltet in den Volksmassen lebende Geist der Empörung nur bei der zahlenmäßig schwachen intelligenten Mittelklasse zum Ausdruck. Die Fremdherrschaft hemmt beständig die freie Entwicklung des sozialen Lebens; daher muss der erste Schritt der Revolution die Beseitigung dieser Fremdherrschaft sein. Den Kampf zum Sturz der ausländischen Herrschaft in den Kolonien unterstützen heißt also nicht, die nationalen Bestrebungen der eingeborenen Bourgeoisie unterschreiben, vielmehr bedeutet es, dem Proletariat der Kolonien den Weg zu seiner Befreiung zu ebnen. 7. Es lassen sich zwei Bewegungen feststellen, die mit jedem Tage mehr auseinander gehen. Eine von ihnen ist die bürgerlich-demokratische nationalistische Bewegung, die das Programm der politischen Unabhängigkeit unter Beibehaltung der kapitalistischen Ordnung verfolgt; die andere ist der Kampf der besitzlosen Bauern um ihre Befreiung von jeglicher Ausbeutung. Die erste Bewegung versucht, oft mit Erfolg, die zweite zu kontrollieren; die Kommunistische Internationale aber muss gegen eine derartige Kontrolle ankämpfen, und die Entwicklung des Klassenbewusstseins der Arbeitermassen der Kolonien muss demgemäß auf den Sturz des ausländischen Kapitalismus gerichtet werden. Die wichtigste und notwendigste Aufgabe jedoch ist die Schaffung kommunistischer Organisationen der Bauern und Arbeiter. um diese zur Revolution und zur Errichtung der Sowjetrepublik zu führen. Auf diese Weise werden die Volksmassen in den rückständigen Ländern nicht durch die kapitalistische Entwicklung, sondern durch die Entwicklung des Klassenbewusstseins, unter der Führung des bewussten Proletariats der fortgeschrittenen Länder dem Kommunismus angeschlossen werden. 8. Die reale Kraft, das Fundament der Befreiungsbewegung, lässt sich in den Kolonien nicht in den engen Rahmen des bürgerlich-demokratischen Nationalismus zwingen. In dem größten Teile der Kolonien bestehen schon organisierte revolutionäre Parteien, die in enger Verbindung mit den Arbeitermassen arbeiten. Die kommunistische Partei muss die Verbindung mit der revolutionären Bewegung in den Kolonien durch Vermittlung dieser Parteien und Gruppen herstellen, denn sie sind die Vorhut der Arbeiterklasse. Gegenwärtig sind sie nicht zahlreich, drücken jedoch den Willen der Volksmassen aus und führen die Revolution nach sich. Die kommunistischen Parteien der verschiedenen imperialistischen Länder müssen in engstem Kontakt mit den proletarischen Parteien der Kolonialländer arbeiten und durch diese die revolutionäre Bewegung überhaupt materiell und moralisch unterstützen. 9. In der ersten Zeit wird die Revolution in den Kolonien keine kommunistische Revolution sein; wenn jedoch von Anfang an die kommunistische Vorhut an ihre Spitze tritt, werden die revolutionären Massen auf den richtigen Weg gebracht werden, auf dem sie durch allmähliche Sammlung von revolutionärer Erfahrung das gesteckte Ziel erreichen werden. Es wäre ein Fehler, die Agrarfrage sofort nach rein kommunistischen Grundsätzen entscheiden zu wollen. Auf der ersten Stufe ihrer Entwicklung muss die Revolution in den Kolonien nach dem Programm rein kleinbürgerlicher reformistischer Forderungen, wie Aufteilung des Landes usw., durchgeführt werden. Daraus aber folgt nicht, dass die Führung in den Kolonien sich in den Händen der bürgerlichen Demokraten befinden darf. Im Gegenteil, die proletarischen Parteien müssen eine intensive Propaganda der kommunistischen Ideen betreiben und bei der ersten Möglichkeit Arbeiter- und Bauernräte gründen. Diese Räte müssen in gleicher Weise wie die Sowjetrepubliken der vorgeschrittenen kapitalistischen Länder Arbeiten, um den endgültigen Sturz der kapitalistischen Ordnung herbeizuführen. |
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