Aus Russisch-Polen während der Kriegszeit

Aus Russisch-Polen während der Kriegszeit

(Nach dem Bericht des Landesvorstandes der Sozialdemokratie Polens und Litauens.)

[Nach: Horst Lademacher (Hg.): Die Zimmerwalder Bewegung. II. Korrespondenz. Den Haag - Paris 1967, S. 291-293]

Während die Mehrzahl der industriellen Zentren Russisch-Polens vom Anfang an in den unmittelbaren Bereich des Krieges hineingezogen wurde, konnte sich in der Hauptstadt Polens, Warschau, der revolutionäre Kampf gegen den Zarismus ein Jahr lang ohne Unterbrechung abspielen. Schon am Tage nach dem Mobilisierungsukas, am 1. August, erschienen in Warschau illegale Aufrufe des Landesvorstandes mit der Aufforderung zum Proteststreik und zur Demonstration. Es gelang uns, am 2. August in dem Arbeiterviertel Wola eine ansehnliche Massendemonstration zu organisieren. Am 3. August traten die Vertreter aller vier sozialistischen Organisationen Russisch-Polens, der Landesvorstand der Sozialdemokratie Polens und Litauens (die sogenannte „Opposition"), der „Hauptvorstand" der Sozialdemokratie Polens und Litauens, die Polnische Sozialistische Partei (Lewitza) und der jüdische Bund zu einer gemeinsamen Beratung zusammen. Nach langen Debatten gelangte man zu einer einheitlichen Auffassung der Lage, auf Grund der von dem Landesvorstande vorgelegten Plattform. Ihre Grundlinien waren: Kampf gegen den Krieg, klare Stellungnahme gegen die russophile wie gegen die austrophile „Orientierung" der verschiedenen bürgerlichen polnischen Lager, die Hervorhebung der internationalen Solidarität der Arbeiterklasse, die Losung der sozialen Revolution als die einzige Antwort auf den imperialistischen Krieg. In diesem Sinne wurde ein in Zehntausenden von Exemplaren verbreitetes, von allen vier Parteien unterschriebenes illegales Flugblatt herausgegeben.

Die unsichere und ereignisschwere Lage, die Konzentration aller reaktionären Elemente, die durch chauvinistische Hetze die Massen kriegerisch zu begeistern versuchten, veranlasste die Sozialisten Polens, den interparteilichen Arbeiterrat zu gründen. Nach bald danach erfolgtem Austritt des sogenannten „Hauptvorstandes" setzte er sich aus den Vertretern der drei Parteien zusammen und entwickelte sieben Monate lang eine energische Tätigkeit. Um dem sogenannten Bürgerkomitee, einem Ausschuss der Bourgeoisie für Regelung der wirtschaftlichen Verhältnisse, der Verproviantierung usw., eine Vertretung der Arbeiterinteressen gegenüberzustellen, organisierte der Rat ein „Wirtschaftskomitee" aus den Arbeitervertretern. Er organisierte auch die Miliz, die natürlich illegal blieb. Das Wirtschaftskomitee gründete eine Reihe von Arbeiterküchen und sammelte Geld für ihren Unterhalt. Der interparteiliche Rat übernahm die Führung der politischen Arbeiterbewegung. Er gab illegale Aufrufe heraus über Arbeitslosigkeit und öffentliche Arbeiten, über antisemitische Agitation, über Teuerung und zur Jahresfeier der russischen Revolution. Die ersten Monate des Krieges zeichneten sich durch die ungemein revolutionäre Stimmung der Warschauer Arbeitermassen aus. So fand die Tätigkeit des interparteilichen Rats einen starken Anklang, und die ihm angeschlossenen Parteien gingen einmütig vor. Spätere Monate setzten jene Stimmungen herab und führten zu Reibungen auch in dem interparteilichen Rat. Während bisher der Rat dem Bürgerkomitee als einer reaktionären, chauvinistischen Institution feindlich gegenüberstand und seine Versuche, die Arbeiterküchen und andere Einrichtungen unter seine Aufsicht zu nehmen, schroff abwies, neigten jetzt die Polnische Sozialistische Partei und der Bund dazu, dem Bürgerkomitee beizutreten, um den Kampf mit ihm von innen heraus zu führen. Da die Sozialdemokratie diese Taktik als irreführend entschieden ablehnte, wurde die gemeinsame Aktion unmöglich, und es kam zur Auflösung des Arbeiterrates. Von diesem Moment an führte die sozialdemokratische Partei ihre Arbeit auf eigene Faust. Sie gab einen Maiaufruf heraus, ein Flugblatt gegen das Gesetz über die städtische Selbstverwaltung für Polen. Die Niederlagen des Zarismus und die aus ihnen sich ergebenden revolutionären Konsequenzen beleuchtete der Landesvorstand in einem massenhaft verbreiteten Flugblatt vom Juni (abgedruckt in der Berner Tagwacht vom 24. Juli 1915). Zu der Krise der Internationalen und den Fragen der sozialdemokratischen Taktik nahm die „Warschauer Konferenz der Sozialdemokratie, die am 7. Juni stattfand, ausführlich Stellung. Sie verurteilte entschieden diese Elemente der Internationalen, „die sich von den betrügerischen bürgerlichen Schlagwörtern schändlich betören ließen und, sich der Führung der Bourgeoisie unterwerfend, die sozialistische Idee verraten haben", und unter Berufung auf die Stuttgarter Resolution stellte sie den Kampf gegen die kapitalistische Ordnung als die einzige wirksame Friedensaktion in den Vordergrund. Es ist charakteristisch, dass die Position der Landesorganisation genau mit derjenigen übereinstimmt, die von der ausländischen Vertretung des Landesvorstandes in der Gazeta Robotnicza und anderswo eingenommen wurde. Trotz der räumlichen Trennung und monatelangen Verkehrsunterbrechung erwiesen sich die revolutionären Sozialdemokraten Polens als geistig so geeinigt, dass die ungeheure politische Umwälzung der Internationalen von ihren territorial voneinander abgesonderten Gruppen in ganz übereinstimmender Weise erfasst und beleuchtet wurde.

Auch an der Wahlagitation zur städtischen Selbstverwaltung nahm die Sozialdemokratie energisch teil, freilich ohne große Aussichten, bei dem Zensuswahlrecht Erfolge davonzutragen. Die Wahlen sind auch wegen des Rückzuges der Zarenarmee nicht zustande gekommen.

Die Räumung Warschaus durch die russischen Truppen beantwortete die Sozialdemokratie durch drei Flugblätter: 1. gegen Zerstörung der Fabriken (gemeinsam mit den beiden andern sozialdemokratischen Parteien), 2. gegen das Einziehen der Arbeiter durch die russische Armeeleitung in die sogenannten Arbeitskompanien, 3. gegen die bürgerliche Miliz. Die Verwüstung der Fabriken durch die abziehenden Russen wie die Besetzung Warschaus durch deutsche Truppen haben Industrie und Handel vollends lahmgelegt, aber die Arbeiterdemonstrationen gegen den Krieg und die Teuerung, deren Schauplatz Warschau neuerdings war, beweisen, dass die revolutionäre Tatkraft in den Arbeitermassen nicht erloschen ist. Die deutsche Regierung antwortete auf die Kundgebungen des Proletariats mit Verhaftungen. Viele Genossen wurden nach Deutschland geschleppt, aber sie sah, dass es angesichts der Zähigkeit der Arbeiterschaft nicht angehe, ihr alle Rechte vorzuenthalten. Sie toleriert die auf dem Boden des Klassenkampfes stehenden Gewerkschaften, die von den Arbeitern organisierten Volksküchen, den Gewerkschaftsrat, das wirtschaftliche Komitee. Sie toleriert unsern Kampf gegen das bürgerliche Komitee, das den 12 Arbeiterküchen die Unterstützung vorenthält, um sie zur Aufgabe der Selbständigkeit zu bewegen. Aber der politischen Tätigkeit sind enge Grenzen gezogen. Das sozialdemokratische, legal erscheinende Blatt Nasza Trybuna darf über die politische Lage in Polen und über die Verhältnisse in Deutschland kein Wort bringen. Dagegen hat es eine gewisse Ellenbogenfreiheit in der Beleuchtung der Klassengegensätze in Polen, der Ereignisse in der Internationalen. Es hat sich mutig zur Zimmerwalder Aktion bekannt, beleuchtet die Ereignisse vom Boden des Resolutionsentwurfes der Minderheit der Zimmerwalder Konferenz.

Politische Versammlungen werden von den deutschen Behörden nicht geduldet, dagegen manchmal Vorträge über politische Fragen zugelassen; so zum Beispiel fand ein öffentlicher Vortrag eines unserer Genossen über den Zusammenbruch der II. Internationale statt. Dass diese öffentliche Tätigkeit unsere Parteiarbeit nicht erschöpfte, ist klar. Die ergänzende Tätigkeit, die das Aufrechterhalten der Parteiorganisation, die Verbreitung unserer Ideen in ihrer „unbeschnittenen" Gestalt bezweckt, hat keinen Augenblick aufgehört. Die breite offene Tätigkeit unserer Genossen auf dem Gebiete der sozialen Fürsorge, des Wirtschaftskampfes, bereitet den Boden für sie ausgezeichnet. Das Proletariat Russisch-Polens hat keinen Augenblick abgerüstet, es bleibt sich, das heißt der Revolution, treu.

Kommentare