Berner Tagwacht: Auferstehung [Berner Tagwacht Nr. 77, 3. April 1915, S. 1] Morgen feiern sie Ostern, das Fest der Auferstehung. Und während die Maulchristen den der kirchlichen Mythologie gemäß am dritten Tage Auferstandenen preisen, rollt, wie von Furien gepeitscht, das Gebrüll der Granaten und Schrapnells über zerwühlte Fluren hin. Während sie auf den Knien vor dem Nazarener liegen, der das zornige: Du sollst nicht töten! in die Welt hinaus schrie, bestrafen sie den als Vaterlandsschänder, der sich weigert, die Waffe zu ergreifen, zum Mörder zu werben. Während der furchtbare Krieg den vollendeten Zusammenbruch der christlichen Kirche wie ihres Moralkodexes bedeutet, leiern sie in hergebrachter Weise ihren Singsang herunter und heucheln von Auferstehung, wo Zerstörung und Vernichtung, Tod und Verbrechen zur geltenden Staatsräson geworden sind. Die Phrase auf den Lippen, den Stein im Herzen, so treten sie vor den Altar ihres Gottes und wissen nicht, zu welcher Hässlichkeit sie das Bild verzerren, das sie den Mitmenschen als Symbol des ErIösers einprägen wollen. Die Arbeiterklasse hat es längst ausgegeben, Erlösung durch Anflehung überirdischer Kraft zu erhoffen, Nicht als das Wirken blind waltender Mächte erscheint ihr das Schicksal der Menschheit — als Konsequenz ökonomisch-gesellschaftlicher Gesetze und der durch sie geschaffenen Wechselbeziehungen von Mensch zu Mensch, so steht das Leben der Individuen, der Klassen und Völker vor ihr. Nicht im Versinken in jener mystischen Märchenwelt des Kirchenglaubens, nicht in der Flucht vor der Realität der Tatsachen in eine kindisch geformte Welt des erträumten Jenseits erwartet das Proletariat Befreiung und Glück — in der Erkenntnis des Seins, der Bedingungen und Triebkräfte des gesellschaftlichen Lebens, in der organischen Weiterentwicklung, im mühevollen, organisierten Kampf, gegen alles, was sich dieser Entwicklung entgegenstellt, kündet sie Auferstehung und Überwindung der Todesnacht, die die auf dem Privateigentum errichtete Klassenherrschaft des Kapitals über die Menschheit gebracht hat. Freilich, zur Stunde hält der Krieg auch die Arbeiter in seinem Bann. Noch waren sie zu schwach, das Verhängnis auszuhalten, und schon jubilieren die Herren über die Fügsamkeit der Geknechteten, schon glauben sie, triumphierend ausrufen zu können; Die Internationale in tot. Die Toren! Mag heute noch Bruder gegen Bruder stehen, mag heute noch das Gerede vom Durchhalten aus dem Mund sozialistischer Wortführer fließen und allen Miesmachern imponieren, es regt sich schon mitten im Waffenlärm der Acheron und setzt sich drohend in Fluss. Ist das Geklirr des Klassenkampfes in den kriegführenden Ländern verstummt, scheint jeder Aufruf zu feiner Wiederaufnahme verfrüht und erfolglos, so erhebt er sich aufs Neue in den Kreisen jenes Geschlechts, das sein Höchstes und Bestes, feine Gatten und Söhne herzugeben hatte als Opfer in diesem Schlachten und Morden des Wahnsinns. Wo die Männer schweigen, da reden die Frauen, aber dies Wort erlangt heute ganz andern Sinn, als ihm sonst ironische Überlegenheit zumisst. Das Reden der Frauen - heute ist es die Sprache des Elends, das Klagen Verzweifelter, das Trauern von Witwen, der gellende Aufschrei der schmerzerfüllten Seelen gemarterter Mütter. Sie sind es, die bislang stumm resignierten Heldinnen des Hinterhauses und der Dachwohnung, der Stätten, wo Not und Jammer als ständige Gäste hausen, die jetzt hervortreten. Und während die proletarischen Männer mit klug wähnender Miene die Worte wägen, während sie sinnen und deuteln, wie wohl die zerrissenen Bande der Internationalität wieder zu knüpfen wären, da raffen sich die Stauffacherinnen des 20. Jahrhunderts, die sozialistischen Frauen auf zu entschlossener Tat, den Leidenden und Unterdrückten ein hell leuchtendes Beispiel gebend für die Handlungen, die einfache Menschen- und Bruderpflicht heischen. Hinweg über die künstlichen Grenzen, die Eigennutz, Herrschsucht und Raubgier der Herrschenden errichteten, hinweg über die Ströme von Hass und Verleumdung, hinweg über die brandenden Wogen des Chauvinismus, so sind auf den Ruf der internationalen Sekretärin Vertreterinnen der sozialistischen Frauen aus den kriegführenden Ländern nach der neutralen Schweiz geeilt und haben in Bern die Fäden der Internationalen, die für die proletarischen Frauen auch nicht einen Augenblick gelockert waren, enger verbunden. Gewiss, zunächst waren und konnten es nur Beratungen sein, die da gepflogen wurden. Aber schon die Tatsache allein, dass zum ersten Mal während des Krieges eine internationale Tagung stattfand, dass sie, was die künftige Aktion betrifft, in voller Einmut handelte und getragen war nicht nur vom Zukunftssehnen, sondern vom entschlossenen Willen, der Friedenssehnsucht, allen Widerständen und allen Verfolgungen zum Trotz, tatkräftigen Ausdruck zu geben — schon diese Tatsache allein verschafft der Konferenz bleibende Bedeutung. In einer Zeit der Verzagtheit erfüllte sie die Teilnehmerinnen und die von ihr vertretenen Massen mit neuem Mut und Kampfesfreude, in einer Stunde, da Verwirrung die Sinne gefangen hält, erzeugte sie mit schneidender Schärfe Klarheit über den Charakter der gegenwärtigen Ereignisse, in einem Augenblick, da Unentschiedenheit die proletarischen Kräfte lähmt, gibt sie die einzig sozialistische Losung aus: Krieg dem Kriege. Kampf für den Frieden! Nicht als Grundsatz, den man nach dem Kriege hervorholt, nicht als Deklamation, die bloßes Sippenbekenntnis ist; nein, als Schlachtruf, auf den Tausende und aber Taufende daheim in den kriegführenden Ländern warten, um danach zu handeln. Wie eine Feuersäule, so schoss es empor, als eine englische Delegierte am Schluss der Verhandlungen die Bedeutung der Konferenz kennzeichnete und in der Dankerstattung an die furchtlos kämpfende, von glühender Menschenliebe durchdrungene internationale Sekretärin in ihr das Symbol der Internationalen und ihr Wiederauferstehen feierte: die Auferstehung der Menschheit aus Nacht und Finsternis. |