Deklaration der polnischen Delegation auf der Zimmerwalder Konferenz 19150906

Deklaration der polnischen Delegation auf der Zimmerwalder Konferenz

[nach: Horst Lademacher (Hg.): Die Zimmerwalder Bewegung. I. Protokolle. Den Haag - Paris 1967, S. 100-102]

Die polnische Delegation, die aus der Vertretung des Hauptvorstandes der Sozial-Demokratie Russisch-Polens und Litauens, des Landesvorstandes der Sozialdemokratie Russisch-Polens und Litauens und des Zentralkomitees der Polnischen Sozialistischen Partei bestand, legte der Internationalen Sozialistischen Konferenz in Zimmerwald folgende Erklärung über die Polenfrage vor:

Die Vertreter der leitenden Kreise der drei in Russisch-Polen tätigen polnischen sozialdemokratischen Parteiorganisationen geben gelegentlich der ersten Zusammenkunft der Vertreter der kriegführenden Länder folgende Erklärung ab:

Vom ersten Moment des Krieges an bekundeten alle sozialdemokratischen Parteien Russisch-Polens, trotz der sie vor dem Kriege trennenden Differenzen, einmütig und gemeinsam ihre prinzipielle Feindschaft dem Kriege gegenüber und setzten sich allen Versuchen, das polnische Proletariat mit der Seuche der Kriegsideologie anzustecken, entschieden entgegen.

Im Angesicht des furchtbaren Ruins des ganzen Landes, das vom Kriegsausbruch an in seiner ganzen Ausdehnung nicht aufhört, der unmittelbare Schauplatz der intensivsten Verwüstung durch die Millionen sich niedermetzelnden Menschen zu sein – verharrte das klassenbewusste polnische Proletariat bei der Fahne des internationalen Sozialismus; diese seine Gesinnung bekräftigte es durch Wort und Tat, sowohl in den gemeinsamen Kundgebungen der sozialdemokratischen Parteien, als auch der zahlreichen offenen, gewählten Vertretungen der Arbeiterschaft.

Vom ersten Augenblick des Krieges an erklärte die gesamte polnische Sozialdemokratie den Kampf sowohl den demagogischen Erlösungslegenden, mit welchen die Regierungen der beiden Koalitionen ihre räuberischen imperialistischen Ziele zu verschleiern suchten, als auch den sogenannten „Orientierungen" der polnischen bürgerlichen Parteien, die diese Legenden in der Form von besonderen nationalen Kriegsprogrammen („Vereinigung Polens", ein polnischer „Pufferstaat" usw.) unterstützen und verbreiten.

Die polnische Sozialdemokratie bekämpft die zynische Demagogie der zarischen Regierung, des blutigen Henkers des polnischen Volkes, welche am Anfang des Krieges mit klirrenden Versprechungen hervortrat, dieselben nach den ersten Kriegserfolgen reduzierte und verleugnete, um sie jetzt unter der Last der Niederlage, nach dem Verlust von Warschau, dem von den deutschen Truppen okkupierten Lande wieder anzubieten.

Die polnische Sozialdemokratie bekämpft die Anschläge des deutschen und österreichischen Imperialismus, der vom Anfang des Krieges an bis zum jetzigen Moment ein niederträchtiges und trügerisches Spiel dem polnischen Volke gegenüber treibt und dessen wirkliche Gefühle sich in der Beibehaltung der antipolnischen Kredite im preußischen Budget und des Sprachenparagraphen in dem reichsdeutschen Versammlungsgesetze widerspiegelt, wie nicht minder in der Unterstellung der Zivilverwaltung des einst autonomen Galiziens unter einen österreichischen General.

Das klassenbewusste revolutionäre polnische Proletariat setzte sich, endlich, den Koalitionen der polnischen besitzenden Klassen entgegen, die auf beiden Seiten der Kampflinie, ihren Klasseninteressen gehorchend und gemäß ihren imperialistischen Aspirationen, die kriegführenden Regierungen unterstützen und den für die Polen doppelt brudermörderischen Krieg durch seine angeblichen polnischen Ziele rechtfertigen.

Im gegenwärtigen Augenblick stehen die polnischen Länder, die in einen ungeheuren Friedhof und eine blutige Wüste verwandelt sind, vor der unmittelbaren Gefahr neuer Annexionsexperimente – und Teilungsexperimente.

Ohne dem polnischen Volke die Entscheidung über seine Geschicke einzuräumen, behandelt die deutsche und österreichische Regierung die polnischen Länder wie ein Pfand im künftigen Spiel der Kompensationen, das zwischen die Zentralmächte geteilt oder wieder an den russischen Zarismus verschachert werden soll. Darin äußert sich mit besonderer Brutalität das Wesen des kapitalistischen Regimes, das die Volksmassen auf die Schlachtbank sendet und damit das Schicksal des Volkes selbstherrlich auf ganze Generationen regelt.

Die polnische Sozialdemokratie legt den entschiedensten und feierlichsten Protest ein gegen dies Zerschneiden und Zerfleischen eines ganzen Landes, welches dem, was man zur Zeit der Heiligen Allianz die „Convenances de l'Europe" nannte und was heute das brutale strategische Interesse der Mächte und das wirtschaftliche Klassenpostulat der dominierenden imperialischen Cliquen ist, geopfert wird.

Mit tiefster Verbitterung vernahmen die sozialistischen Arbeiter in Polen, dass die Mehrheit der Sozialisten sowohl in den Ländern der Entente wie in den Zentralmächten der Kriegshypnose unterlag; dem Kommando des Imperialismus folgend, unterstützen die einen tatkräftig die Rehabilitationen des Zarismus, während die andern den Hohenzollern und Habsburgern die Erlösung der unterdrückten Völker übertrugen. In dem Moment, wo sich die deutsche Regierung anschickt, über die polnischen Länder wie über eine erbeutete Kolonie zu verfügen, begegnete die diesbezügliche kaum verschleierte Erklärung der Regierung keinem Widerspruch bei der deutschen Sozialdemokratie. Die deutschen Sozialnationalisten, welche vor dem Kriege die polnisch-galizischen sozialpatriotischen Kriegshetzer bekämpften, leisten gegenwärtig den verbrecherischen, unsinnigsten Kriegsutopien der letzteren Vorschub, um damit ihre eigene Unterstützung der Regierung zu rechtfertigen.

Indem der gegenwärtige Krieg die Unfähigkeit des Kapitalismus demonstriert, die zwischenstaatlichen Beziehungen an die Erfordernisse der Weltwirtschaft anzupassen, indem er den Volksmassen die schwersten Lasten auferlegt, eröffnet er die Ära kriegerischer Konflikte und sozialer Erschütterungen. Der revolutionäre Kampf des Proletariats, der sich auf diesem Boden mit elementarer Gewalt nach internationalem, europäischem Maßstab entfalten muss, wird gegen die Grundlagen des kapitalistischen Systems selbst gerichtet sein, wird sich zu einem Kampf um den Sozialismus entwickeln.

Die polnische Sozialdemokratie spricht die Überzeugung aus, dass nur die Teilnahme an diesem bevorstehenden Kampf des revolutionären internationalen Proletariats, der auch die Fesseln der nationalen Unterdrückung sprengen und jede Fremdherrschaft aufheben wird, dem polnischen Volke die Möglichkeit einer freien, allseitigen Entwicklung, als einem gleichberechtigten Glied in der Internationalen der Völker, sichern wird.

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