Gruppe Internationale: Situationsbericht aus Deutschland. [Nach: Horst Lademacher (Hg.): Die Zimmerwalder Bewegung. II. Korrespondenz. Den Haag - Paris 1967, S. 151-154, Fußnote] Aus Deutschland ist uns folgender Bericht zugegangen: Soweit die Zimmerwalder Konferenz und das Manifest in deutschen Arbeiterkreisen bekannt geworden sind, haben diese Anzeichen internationaler Verständigung freudige Zustimmung erhalten. Leider ist der Kreis derjenigen, die das Manifest im Wortlaut kennen, sehr gering. Infolge äußerer Störungen ist das Manifest erst sehr spät und in sehr geringer Auflage gedruckt worden. Dies letzte Versäumnis soll nachgeholt und zugleich versucht werden, das Manifest wenigstens teilweise auch unorganisierten Arbeitern zur Verfügung zu stellen. Die Verzögerung der Verbreitung hat leider mit dazu beigetragen, die Wirkung des Manifestes abzuschwächen. Bericht und Polemik der berüchtigten Baumeister-Legienschen Internationalen Korrespondenz, Kritiken einzelner rechtsstehender Parteiblätter und das geheime Rundschreiben des deutschen Parteivorstandes gegen die Konferenz hatten bereits allerlei Vorurteile geweckt, ehe das Manifest selbst seine Wirkung ausüben konnte. Auch die öffentlichen Erklärungen der schweizerischen und dänischen Parteileitung, die, wie behauptet wird, auf direkte Einwirkung des deutschen Parteivorstandes zurückzuführen sind, waren geeignet, in noch unentschiedenen Parteikreisen falsche Vorstellungen über die Konferenz zu erwecken. Wo es aber möglich war, mündlich über die Konferenz Bericht zu erstatten, wurde überall der Genugtuung über die Wiederanknüpfung der internationalen Beziehungen Ausdruck gegeben. Wenn trotzdem nur sehr wenige direkte Zustimmungs-Resolutionen (so aus Württemberg) vorliegen, so ist das typisch für den in Deutschland herrschenden Reifegrad der Opposition: Man äußert zwar seine Unzufriedenheit mit der Haltung der Mehrheit, bringt aber noch nicht die Initiative zu eigener, bewusster Stellungnahme auf, die einen scharfen Strich zwischen sich und der Mehrheit ziehen würde. Die ersten Monate nach der Zimmerwalder Konferenz waren in Deutschland durch eine große Reihe von Willkürhandlungen der Militär- und Polizeibehörden charakterisiert. Mehrere Genossen in Berlin und dem Rheinlande und in Württemberg wurden plötzlich verhaftet; anderen wurde von den Justizbehörden. der Prozess gemacht; dass hier stets Verurteilungen zu längeren Gefängnisstrafen erfolgten, ist selbstverständlich. Aber vielfach wurde diese Strafe von der Militärdiktatur noch verschärft. Wo das Gericht vorläufige Haftentlassung aussprach, setzten die Militärbehörden mit Internierungen ein. In Rheinland-Westfalen wurde Anhängern der Minderheit bei Androhung der Internierung, die in Wirklichkeit eine viel schlimmere Strafe bedeutet als Untersuchungs- und selbst Strafhaft, jede parteipolitische Tätigkeit verboten. Die Schamlosigkeit des betreffenden Generalkommandos ging so weit, den betreffenden Genossen anzukündigen, dieses Verbot und die Androhung würden zurückgezogen werden, wenn die Genossen „mit Bedauern" öffentlich ihre Zugehörigkeit zur Partei-Linken widerrufen würden! Diese Parteinahme der Behörden für die Politik der Fraktionsmehrheit zeigt sich auf Schritt und Tritt. Zugehörigkeit zur Linken gilt bei Polizei, Justiz und Militär als verdacht- und straferschwerend. In einem Prozess gegen den Genossen Walcher, früheren Redakteur der Stuttgarter Tagwacht, konstruierte der Staatsanwalt in seiner Anklage sogar zwei verschiedene „Klassen" in der Partei (die der „Minderheit" und „Mehrheit") und sah in der Polemik der Minderheit gegen die Mehrheit eine – in Deutschland nach § 130 des Strafgesetzbuches strafbare – „Aufreizung zum Klassenhass"! Trotz dieser offenen ständigen Parteinahme der herrschenden Klassen für die „Parteimehrheit", tut diese (einschließlich des Parteivorstandes) in der Öffentlichkeit nichts, um sich diese kompromittierende Hilfe zu verbitten und die „Minderheit" vor weiteren Gewaltakten zu schützen. Das führt natürlich zu steigender Erbitterung in den Partei-Auseinandersetzungen und zu festerem Zusammenschluss der Opposition in ganz Deutschland. Bisher operierten die lokalen „Minderheiten" ziemlich isoliert. Die Bedingungen des Kampfes gegen die Regierung, für den Frieden und gegen die Parteimehrheit, die alle oppositionellen Regungen zu erdrosseln sucht, machen den Zusammenschluss immer notwendiger. Es ist bezeichnend, dass selbst Kautsky, der Vertreter des „Partei-Zentrums", jetzt in der Neuen Zeit das selbständige, geschlossene Auftreten der Fraktions-Minderheit (in der Liebknecht bekanntlich so gut wie isoliert ist) für gerechtfertigt erklärt. Ob dieser sanfte Trompetenstoß größere Wirkungen haben wird als der Protestruf vom 9. Juni und das „Gebot der Stunde", muss abgewartet werden – die Enttäuschung über das unentschiedene Verhalten der Fraktionsminderheit in der August-Sitzung des Reichstages ist noch zu groß. So sehr auch die Parteimehrheit sich bemüht, Illusionen über den wahren Charakter dieses Krieges und der Regierungsabsichten zu verbreiten, wird ihre Arbeit durch immer neue reaktionäre Maßnahmen der Regierung selbst durchkreuzt. Der vom Vorwärts veröffentlichte Erlass des Polizeiministers von Löbell mit Anweisungen zur Korrumpierung der Presse hat weiten Kreisen die Augen geöffnet, was von der versprochenen „Neuorientierung" der politischen Verhältnisse zu erwarten ist. Selbst die indifferentesten Volksschichten werden aber durch die Teuerung aufgerüttelt. In vielen Bezirken haben sich bereits Epidemien als Folge der Unterernährung eingestellt. Selbst der Mittelstand leidet unter den ungeheuer gestiegenen Preisen, die nur durch außerordentliche Maßnahmen der Regierung herabgedrückt werden könnten, nachdem die Regierung ein volles Kriegsjahr hindurch untätig zur Seite gestanden hat. Die begeisterten „Kriegssozialisten" sind denn auch heute völlig stumm geworden oder klagen ebenfalls die Regierung wegen ihrer Versäumnisse an. Die Regierung steht aber vollständig unter der Herrschaft der feudalen Junker und Agrarier und sieht ihre erste Sorge darin, Angriffe auf die Agrarier abzuwehren. Die Presse wird noch stärker geknebelt als zuvor. Der Vorwärts ist bekanntlich völlig unter Vorzensur gestellt worden, weil er das Verbot, Worte wie „Wucher" etc. zu gebrauchen, übertreten hat. Dabei muss hervorgehoben werden, dass diese Knebelung der Presse gerade von den Zivilbehörden (der Reichsregierung selbst) ausgeht, – während die Parteimehrheit bisher jede Zensurmaßnahme als zufälligen Missgriff untergeordneter Instanzen zu entschuldigen suchte. In zahlreichen Orten hat die Missstimmung sich in Ausschreitungen auf Märkten, Demonstrationen vor Rathäusern und Deputationen an die Ministerien und Gemeindeverwaltungen entladen. Auf die Krawalle antworteten die Militärbehörden mit der Verschärfung des Belagerungszustandes oder (wie in Berlin) mit Plakaten, in denen bei Androhung von Todes- und Zuchthausstrafen vor „Zusammenrottungen" gewarnt wird, wodurch die Erbitterung natürlich nur gestiegen ist. Über alle Demonstrationen gegen die Teuerung darf in dem größten Teile der Presse ebenso wenig berichtet werden wie über die Gewaltmaßnahmen zur Unterdrückung der Bewegung. Die Parteileitung selbst hat bisher nichts getan, um die Führung der Demonstrationsbewegung zu übernehmen. In der letzten Sitzung des Parteiausschusses haben Genossinnen aus Groß-Berlin sich zwar den Eintritt erzwungen, um dem Ausschuss und Vorstand der Partei ihre Wünsche zur Lebensmittelfrage vorzutragen und den Parteivorstand zu schärferem Kampfe gegen den Lebensmittelwucher anzuregen. Aber aus den Debatten im Parteiausschuss ging zur Genüge hervor, dass die Parteileitung vor solchen Mitteln zurückschreckt. |