Resolution
der zweiten
sozialistischen internationalen Zimmerwalder Konferenz zur Friedensfrage [Abgedruckt aus „Die Internationale und der Weltkrieg“ Materialien, gesammelt von Carl Grünberg, II, Leipzig 1928. Nach Lenin, Sämtliche Werke, Band 19, Wien-Berlin 1930, S. 522-525] I 1. Die moderne Entwicklung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse erzeugte die imperialistischen Gegensätze. Ihr Ergebnis ist der gegenwärtige Weltkrieg, für dessen Interessen die ungelösten nationalen Fragen, die dynastischen Bestrebungen und alle historischen Überbleibsel des Feudalismus ausgenützt werden. Das Ziel dieses Krieges ist die Neueinteilung des bisherigen Kolonialbesitzes, die Unterwerfung wirtschaftlich rückständiger Länder unter die Herrschaft des Finanzkapitals. 2. Der Krieg hebt weder die kapitalistische Wirtschaft noch ihre imperialistische Form auf. Er vermag daher auch die Ursachen künftiger Kriege nicht zu beseitigen. Er stärkt das Finanzkapital, lässt die alten nationalen und Weltmachtprobleme ungelöst, verwirrt sie und schafft neue Gegensätze. Dadurch entsteht eine Steigerung der wirtschaftlichen und politischen Reaktion, werden neue Rüstungen hervorgerufen und die Gefahr weiterer kriegerischer Verwicklungen heraufbeschworen. 3. Wenn daher die Regierungen, ihre bürgerlichen und sozialpatriotischen Agenten behaupten, der Krieg habe die Schaffung eines dauerhaften Friedens zum Zwecke, so sagen sie die Unwahrheit oder sie ignorieren die Bedingungen für die Verwirklichung eines solchen Zieles. Die Annexionen, die wirtschaftlichen und politischen Bündnisse der imperialistischen Staaten können, so wenig wie die obligatorischen Schiedsgerichte, Einschränkung der Rüstungen, die sogenannte Demokratisierung der auswärtigen Politik usw. auf dem Boden des Kapitalismus den dauerhaften Frieden herbeiführen. 4. Die Annexionen, das heißt die gewalttätige Angliederung fremder Nationen, schüren den Völkerhass und vermehren die Reibungsflächen zwischen den Staaten. Die politischen Allianzen und wirtschaftlichen Bündnisse der imperialistischen Mächte sind ein direktes Mittel zur Erweiterung des Wirtschaftskrieges, der neue Weltkonflikte bewirkt. 5. Die Pläne, durch die allgemeine Einschränkung der Rüstungen, durch obligatorische Schiedsgerichte die Kriegsgefahr aufzuheben, sind eine Utopie. Sie setzen ein allgemein anerkanntes Recht voraus, eine materielle Macht, die über den gegensätzlichen Interessen der Staaten steht. Ein solches Recht, eine solche Macht fehlen, und der Kapitalismus, der die Tendenz hat, die Gegensätze zwischen den Bourgeoisien der verschiedenen Länder oder ihren Koalitionen zu verschärfen, lässt sie nicht aufkommen. Die demokratische Kontrolle über die auswärtige Politik hat eine vollkommene Demokratisierung des Staates zur Voraussetzung. Diese Kontrolle kann nur eine Waffe des Proletariats im Kampfe gegen den Imperialismus, in keiner Weise aber ein Mittel zur Umgestaltung der Diplomatie in ein Instrument des Friedens sein. 6. Aus diesen Erwägungen muss die Arbeiterklasse die utopischen Forderungen des bürgerlichen oder sozialistischen Pazifismus ablehnen. Die Pazifisten wecken an Stelle alter Illusionen neue und versuchen, das Proletariat in den Dienst dieser Illusionen zu stellen, die letzten Endes nur der Irreführung der Massen, der Ablenkung vom revolutionären Klassenkampf dienen und das Spiel der Durchhaltepolitik im Kriege begünstigen. II 7. Gibt es auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft keine Möglichkeit, einen dauerhaften Frieden herzustellen, so werden dessen Voraussetzungen durch den Sozialismus geschaffen. Der Sozialismus, der das kapitalistische Privateigentum aufhebt, beseitigt mit der Ausbeutung der Volksmassen durch die besitzenden Klassen und mit der nationalen Unterdrückung zugleich die Kriegsursachen. Der Kampf für den dauerhaften Frieden kann daher nur im Kampf für die Verwirklichung des Sozialismus bestehen. 8. Jede Aktion der Arbeiter, die den Klassenkampf preisgibt, die proletarischen Ziele denen der bürgerlichen Klassen und ihrer Regierungen unterordnet und sich mit der nationalen Ausbeuterklasse solidarisiert, arbeitet den Bedingungen eines dauerhaften Friedens entgegen. Eine solche Aktion traut den kapitalistischen Klassen und den bürgerlichen Regierungen eine Aufgabe zu, die sie nicht erfüllen können; sie liefert überdies die besten Kräfte der Arbeiterklasse nutzlos an die Schlachtbank. Der kräftigste und fähigste Teil des Proletariats, der während des Krieges sowohl als zur Zeit des Friedens in erster Linie berufen wäre, den Kampf für den Sozialismus zu führen, wird so dem Untergang und der Vernichtung geweiht. III 9. Wie es schon durch die Beschlüsse der internationalen Kongresse zu Stuttgart, Kopenhagen und Basel ausgesprochen wurde, kann die Stellung des Proletariats zum Kriege nicht von der gegebenen militärischen und strategischen Lage abhängig sein. Es ist daher ein Lebensgebot des Proletariats, den Ruf nach sofortigem Waffenstillstand und unverzüglicher Einleitung von Friedensverhandlungen zu erheben. 10. Nur in dem Maße, als dieser Ruf in den Reihen des internationalen Proletariats Gehör findet und zu tatkräftigen Aktionen mit dem Ziel der Niederwerfung der kapitalistischen Klassenherrschaft führt, wird es der Arbeiterklasse gelingen, das Ende des Krieges zu beschleunigen und Einfluss auf den Inhalt des kommenden Friedens zu gewinnen. Jede andere Stellungnahme überlässt die Festsetzung der Friedensbedingungen dem Machtspruch der Regierungen, der Diplomatie und der herrschenden Klassen. 11. Im revolutionären Massenkampf für die Ziele des Sozialismus und damit für die Befreiung der Menschheit von der Geißel des Militarismus und des Krieges muss sich das Proletariat gegen alle Annexionsgelüste der Kriegführenden wenden. Ebenso hat es alle unter der falschen Flagge der Befreiung unterdrückter Völker auftretenden Versuche zur Schaffung angeblich unabhängiger, in Wirklichkeit nicht lebensfähiger Staaten abzulehnen. Das Proletariat führt seinen Kampf gegen Annexionen nicht deshalb, weil es die Weltkarte, wie sie vor dem Kriege bestand, als den Interessen der Völker entsprechend und daher als unabänderlich betrachtete. Der Sozialismus selbst strebt nach der Aufhebung jeglicher nationaler Unterdrückung durch die wirtschaftliche und politische Einigung der Völker auf demokratischer Grundlage, die im Rahmen kapitalistischer Staatsgrenzen nicht verwirklicht werden kann. Die Erreichung dieses Zieles erschweren aber gerade die Annexionen, in welcher Form sie immer auftreten, weil die gewalttätige Zerstückelung der Nationen, ihre willkürliche Aufteilung und Einverleibung in fremde Staaten die Bedingung des proletarischen Klassenkampfes verschlechtern. 12. Solange der Sozialismus die Freiheit und Gleichberechtigung aller Völker nicht verwirklicht hat, ist es die dauernde Pflicht des Proletariats, sich durch den Klassenkampf energisch gegen jede nationale Unterdrückung zu wehren, jeder Vergewaltigung der schwächeren Nationen sich zu widersetzen, den Schutz der nationalen Minderheiten und die Autonomie der Völker auf dem Boden der vollen Demokratie zu fordern. 13. Ebenso unvereinbar wie die Annexionen ist mit den Interessen des Proletariats die Forderung von Kriegsentschädigungen zugunsten imperialistischer Mächte. Wie die herrschenden Klassen die Kosten der Kriegführung in jedem Lande auf die Schultern der Arbeiterklasse abzuwälzen suchen, so würden auch die Kosten der Kriegsentschädigungen letzten Endes von den arbeitenden Klassen des betreffenden Landes getragen werden müssen. Diese Überwälzung schädigt gleichzeitig die Arbeiterklasse des siegreichen Landes, indem die Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der arbeitenden Klassen des einen Landes auf die des andern zurückwirkt und so die Bedingungen des internationalen Klassenkampfes erschwert. Nicht Überwälzung der ökonomischen Folgen des Krieges von einem Volke auf das andere, sondern ihre allgemeine Abwälzung auf die Besitzenden durch die Annullierung der durch den Krieg entstandenen Staatsschulden. 14. Der aus allen Nöten der Völkerschlächterei entstehende Kampf gegen den Krieg, gegen den Imperialismus wird in Zukunft mit vermehrter Kraft aus all den Folgen erwachsen, mit denen die imperialistische Ära die Volksmassen geißelt. Die Internationale wird die Massenbewegungen gegen die Teuerung, Arbeitslosigkeit, für die Agrarforderungen der ländlichen Arbeiterklassen, gegen die neuen Steuern und die politische Reaktion erweitern und vertiefen, bis diese Bewegungen sich in einem allgemeinen, internationalen Kampf um den Sozialismus vereinigen. |