Leo Trotzki und Henriette Roland Holst 19150906 Manifest-Entwurf auf der Zimmerwalder Konferenz

Leo Trotzki und Henriette Roland Holst: Manifest-Entwurf auf der Zimmerwalder Konferenz

(6. September 1915)

[nach: Horst Lademacher (Hg.): Die Zimmerwalder Bewegung. I. Protokolle. Den Haag - Paris 1967, S. 134-137]

Dreizehn Monate dauert der Krieg! Indem die großen europäischen Nationen sich bis zum Weißbluten bekämpfen, begraben sie unter den Bergen ihrer Leichen die Freiheit und Unabhängigkeit der kleinen Völker.

Die Politik der kapitalistischen Expansion, des imperialistischen Räubersystems und des zügellosen Militarismus haben in diesem Kriege bis zum Boden die Natur des modernen Kapitalismus aufgedeckt, der nicht nur mit den Interessen der Arbeitermassen, nicht nur mit den Bedürfnissen der geschichtlichen Entwicklung, sondern mit den elementaren Bedingungen des menschlichen Gemeinwesens unvereinbar geworden ist.

Die herrschenden Gewalten der kapitalistischen Gesellschaft, in deren Händen alle die Geschicke der Völker ruhten, die monarchischen wie die republikanischen Regierungen mit ihrer Geheimdiplomatie, die mächtigen Unternehmerorganisationen, die Kirche, die kapitalistische Presse, sie tragen alle das volle Gewicht der Verantwortung für den Krieg, der aus der sie nährenden und von ihnen geschützten sozialen Ordnung entstanden ist und für ihre Interessen geführt wird.

Das europäische Proletariat, das wie die Volksmassen überhaupt, nicht der Träger, sondern das Opfer des Imperialismus ist, das in seiner sozialistischen Avantgarde im Laufe von Jahrzehnten den hartnäckigen Kampf gegen den Militarismus geführt hatte, fand keine Wege und Kraft, um das Ungeheuer des Krieges abzuwehren. Jetzt bezahlt es seine Schwäche und Verirrungen durch unzählige Opfer auf allen Kriegs-Theatern, in einem Ringen, dessen Ende nicht abzusehen ist.

Und jetzt, im 14. Monate des Krieges, muss das Proletariat in ganz Europa konstatieren, dass diese Opfer weder die Lösung der nationalen Fragen, der Wahrung der Unabhängigkeit der Nationen oder der Befreiung der unterdrückten Völker, noch die Erlösung aus den Widersprüchen des Imperialismus näher betrachten.

Außer diesen unzähligen Opfern an Gut und Blut erleidet das sozialistische Proletariat noch einen andern Schlag, den schwersten, der aufs Tiefste seine Zukunft berührt – mehr, die Zukunft der gesamten Menschheit.

Nicht nur zerstörte der Krieg mechanisch die internationalen Verbindungen des Proletariats, er brachte auch seine ältesten und bedeutendsten Organisationen in die ideelle und politische Abhängigkeit vom republikanischen Staate. Nur dadurch erklärt sich die Tatsache, dass die Arbeiterklasse, die sich überall von der nationalen Panik und chauvinistischen Suggestion der ersten Kriegsperiode befreite, noch bis jetzt, im zweiten Jahre des Völkermordens, neue Wege und Mittel fand, um den tatkräftigen Massenkampf gegen den Krieg gleichzeitig in allen Ländern zu unternehmen.

In diese unerträgliche Situation Wandel zu bringen, die Massen aufzurufen, ihr altes Wort: Krieg dem Krieg in die revolutionäre Tat umzusetzen, dies ist die große und erhabene Aufgabe unsrer Tagung.

Wir haben zu dieser Aufgabe nicht alle Bedingungen erst zu schaffen, denn inmitten der erschütternden Katastrophe der Internationale sehen wir – und mit jedem neuen Tage mehr – Beispiele des revolutionären Mutes und der sozialistischen Pflichterfüllung.

Die serbischen Sozialisten, dieses tapferen Korps der Internationale in dem südöstlichen Winkel Europas, schwankten unter dem Vorstoß des Österreich-ungarischen Imperialismus auch nicht einen Augenblick und verweigerten ihrer Regierung die Kriegskredite wie jedes politische Vertrauen.

Die italienische Partei, die durch Wort und Tat gegen die kriegerische Intervention Italiens gekämpft hatte, blieb auf ihrem revolutionären Posten auch dann, als die imperialistischen Kriegstendenzen die Oberhand gewonnen.

Die englische unabhängige Arbeiterpartei führte ohne Furcht und Tadel ihren Kampf gegen den englischen Imperialismus, ihr gesellt sich immer entschiedener die Mehrheit der Britischen Sozialistischen Partei zu.

Die Sozialdemokratie Russlands bleibt in ihrer großen Mehrheit auf der Position des unversöhnlichen Kampfes gegen den kriegführenden Zarismus fest, und in der Person der sozialdemokratischen Deputierten, deren fünf als Opfer ihrer Pflichterfüllung schon gefallen sind, weist sie bei jeder Gelegenheit jede Verantwortung für den Krieg unerbittlich zurück.

Dieser Krieg ist nicht unser Krieg! sagt der linke Flügel der französischen Gewerkschaften im vollen Einverständnis mit den ihrer Fahne treu gebliebenen Sozialisten und in vollem Einklang mit der wirklichen Stimmung der breiten Volksmassen.

Die sozialistische Opposition in Deutschland ruft immer energischer und erfolgreicher zum Kampfe gegen den Krieg das deutsche Proletariat auf, das von den Siegen seiner Regierenden sich weniger leistet und blutet als das Proletariat anderer Länder unter militärischen Niederlagen.

Die Parteien der neutralen Staaten als Ganzes oder in ihren international geeinten Teilen fassten ihre Reihen enger zusammen und erklärten den Krieg ihrem kleinstaatlichen Militarismus, der zu schwach ist, um die Unabhängigkeit kleiner Völker zu wahren, aber mächtig genug, um durch sein Gewicht die gesamte Kultur der kleinen Völker zu erdrücken. Niemals tritt mit solcher Deutlichkeit die Tatsache hervor, dass die Unabhängigkeit der schwachen Nationen in der Epoche des zügellosen Imperialismus nur durch die Kraft der siegreichen revolutionären Bewegung des Proletariats der ganzen Welt gewahrt werden kann.

Das Wachstum des aus dem Kriege erwachten revolutionären Bewusstseins – gegen den Krieg, seine Anstifter und die Bedingungen, die ihn verursacht haben – ist die wichtigste, die bedeutendste Tatsache dieses Jahres der Greuel und Menschenopfer. In dieser Tatsache liegt unsere Tagung begründet.

Wir Sozialisten der internationalen Konferenz, Italiener, Deutsche, Franzosen, Russen, Polen, Letten, Rumänen, Bulgaren, Schweden, Holländer und Schweizer, wir alle erklären Euch, Proletariern Europas: dieser Krieg ist nicht unser Krieg? Er bringt uns nur Verderben und doppelte Ketten unsern Kindern.

Wir erklären als den Todfeind der Interessen des Proletariats die gegenwärtige Politik der offiziellen Parteien Deutschlands, Frankreichs und Englands, die Politik des Burgfriedens, dessen Vorteile die besitzenden Klassen ernten, dessen Nachteile und Leiden nur dem Proletariate zufallen.

Weg mit dem Joch des Burgfriedens!

Weg mit den Kriegskrediten!

Weg mit dem sozialistischen Imperialismus!

Auf die große Straße des Klassenkampfes rufen wir die Arbeiterklassen aller Länder Europas!

Für den Frieden – gegen den Krieg! Durch unsern Druck, durch unsere revolutionäre Kraft zum Frieden!

Wir rufen euch alle an, Arbeiter und Arbeiterinnen, Mütter und Väter, Witwen und Waisen, Verwundete und Verkrüppelte, die im Kriege und durch den Krieg Leidende – wir rufen euch allen zu:

Es lebe der Völkerfrieden, Es lebe der Klassenkampf, Es lebe die soziale Revolution!

H. Roland Holst

Trotzki

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