Zweiter Verhandlungstag (6. September) [nach: Horst Lademacher (Hg.): Die Zimmerwalder Bewegung. I. Protokolle. Den Haag - Paris 1967, S. 81-115. Dort weitere Fußnoten] Vorsitzender Grimm. Anfang 9 Uhr morgens. Grimm macht einige Mitteilungen über die in der Sache der Geschäftsordnung und der Stimmenverteilung vom Büro vorgeschlagenen Maßnahmen. Es findet über die Art der [Ab]Stimmung eine längere Diskussion1 statt, in der einzelne Delegierte das Prinzip: jeder Nationalität eine Stimme, verteidigen, andere der Meinung sind, man soll den Meinungsverschiedenheiten innerhalb der nationalen Delegationen Gelegenheit geben, sich zu äußern. Bei der Abstimmung stehen ein Antrag Lazzari (jede nationale Delegation eine Stimme) und der Antrag des Büros (jede Delegation 5 Stimmen) einander gegenüber. Der Antrag Lazzari bekommt 7, der Antrag des Büros 18 Stimmen. Dieser ist folglich angenommen. (Lazzari veut l'unité des nations pour le vote, il croit que toutes les delegations peuvent s'unir dans la solution „contre la guerre". Radek meint, dass die Mehrheit der Stimmen die Möglichkeit sich zu einigen nicht ausschließt. Schlägt etwas andere [Ab]stimmungsweise vor (10 große, 6 kleine Nationen). Borchardt will: Jeder Delegierter eine Stimme. Bourderon pas perdre du temps. Chaque nationalité une voix. Axelrod: Jede Nation 2 Stimmen, weil in betreff Ziel Konferenz 2 Richtungen. Hoffmann: eine Stimme, weil Aktion gegen Krieg das Ziel der Konferenz. Trotzki spricht für den Vorschlag des Büros, nur will er den kleinen Nationen auch 5 Stimmen geben. Modigliani se rallie à proposition bureau. Lenin: 10 voix grandes nations, 5 petites. Tschernow: 1 voix à chaque nationalité. Note: Majorité pour l'égalité des voix à chaque nation. Puis on vote: chaque nation une voix (Lazzari): 7; chaque nation 5 voix (bureau): 18; accepté.)2 Es wird in die Fortsetzung Berichterstattung eingetreten. Zuerst erhält das Wort: Hoffmann (Berlin), der Ledebour gegenüber noch einiges feststellen möchte. Ledebour hat gesagt, wir seien völlig überrascht worden. Ich bestreite dies. Aber die Massen sind auf den Kopf geschlagen worden durch die Abstimmung der Fraktion. Es war im Volke die Furcht geweckt worden vor der Invasion der russischen Barbaren. Gewiss wäre es nicht leicht gewesen, der allgemeinen Aufregung gegenüber die Kriegskredite zu verweigern. Man fürchtete sich vor der Wut der Bevölkerung, man sagte, diese würde die Volkshäuser demolieren usw. Ich sage: besser die Volkshäuser demoliert als die Prinzipien. (Zustimmung). Der größte Teil der Opposition ist mit Liebknecht vollkommen einig, nur hätte er sich mit ihr verständigen sollen.3 Hätte er dies getan, so wäre zweifellos jetzt, als zum vierten Male Kriegskredite eingebracht wurden, die Zahl derjenigen, welche ablehnten, weit größer gewesen. Es ist geradezu unbegreiflich, dass die Minderheit nicht gegen das Kriegsbudget gestimmt hat. Man will es vor allem vermeiden, sich offen von der Mehrheit der Fraktion zu trennen, und man vergisst, dass die Trennung in der Fraktion noch nicht gleichbedeutend mit der Trennung in der Partei ist (sehr richtig). Wir haben die Mehrheit der Massen hinter uns: ob dies sich zeigen wird, wird davon abhängen, ob es gelingt, nach Schluss der Friedensverhandlungen die Abhaltung eines Parteitages solange herauszuschieben, bis der letzte Mann aus den Schützengräben entlassen worden ist. Es ist vor allem zu vermeiden, dass der nächste Parteitag in der ersten Freude, dass der Krieg zu Ende sei, stattfindet und faktisch von den besoldeten Beamten gemacht wird. Es sind dies eben auch Menschen, die sich den Einwirkungen des Milieus nicht entziehen können. Im entgegengesetzten Falle werden wir siegen. Man soll nicht auf die Trennung hinarbeiten, für Deutschland ist diese nicht notwendig, weil die Massen radikal sind. Deshalb wäre es Torheit so zu handeln, dass der PV die Möglichkeit und das Recht bekommt, uns hinauszuwerfen. Die letzte Kreditbewilligung, die stattfand, nachdem die Annexionsgelüste der Regierung so deutlich hervorgetreten waren, hat sehr dazu beigetragen, die Opposition zu stärken. Sie hat dem Fass den Boden eingeschlagen. Die Opposition hielt es für unmöglich, dass unter diesen Umständen die Mehrheit der Fraktion wiederum bewilligen würde. Ebenso dass die Minorität auch jetzt nicht gegen die Kredite stimmen würde. In Mansfeld, dem Kreis, wo ich für den Reichstag kandidiere, habe ich auf einer Versammlung allgemeine Zustimmung gefunden, als ich erklärte, nicht zu denen zu gehören, die während des Krieges umlernen. Es besteht die Wählermasse in diesem Kreis großenteils aus Grubenarbeitern und ländlichen Arbeitern. Das Volk lechzt nach Zerbrechung des Burgfriedens, der nur den bürgerlichen Klassen Vorteile eingetragen hat. Nach dem Kriege wird der Mohr nicht bloß gehen können, sondern noch einen Fußtritt dazu bekommen: das wird auf dem nächsten Parteitag seine Wirkung tun (Stimmen: „sehr richtig"). Die Opfer, die es bei einer Volksbewegung gegen den Krieg gegeben hätte, hätten in keinem Verhältnis gestanden zu den Opfern, welche der Krieg selbst gefordert hat (Beifall). Wenn die deutsche Reichstagsfraktion beim Anfang des Krieges gleich die Kredite verweigert hätte, so hätte es in Frankreich gewiss keinen Ministerialismus gegeben, und wenn auch zuerst eine Bewilligung der Kredite, so wäre diese jedenfalls nicht dauernd gewesen. Die unangenehmen Folgen hätten wir eben auf uns nehmen müssen, wie die Italiener dies getan haben. Wenn es uns hier gelingt, uns zu verständigen, so wird innerhalb eines Jahres die Internationale zu neuem, lebendigem Wirken auferstanden sein (Beifall). Axelrod (OK, Russland) will die russischen Verhältnisse kurz beleuchten. Russland befand sich vor dem Kriege in einer revolutionären Situation; während des Besuches von Poincaré fanden gewaltige Proteststreiks statt, an denen sich Hunderttausende beteiligten. Die legale Presse wurde unterdrückt, eine Anzahl Agitatoren wurde verhaftet. Auf der letzten Tagung des Internationalen Sozialistischen Büros in Brüssel habe ich gesagt, in Russland sei man nicht in der Lage, eine Massenaktion gegen den Krieg anzufangen. Jedoch zu einer oppositionellen Bewegung konnte es dort leichter wie in andren Ländern kommen, grade weil eine revolutionäre Situation vorherrschte. Gleich nach der Kriegserklärung wurde der Kontakt zwischen uns, die wir uns im Ausland befanden, und den Genossen in Russland unterbrochen. Jedoch wussten wir, dass die Fraktion die Kredite abgelehnt hatte und dass sie selbst in Verbindung stand mit den Massen, also sagten wir uns: die Massen sind nicht nationalistisch, sondern gegen die Regierung „insurrektionell". Ich will sie darauf aufmerksam machen, dass, wie immer in Momenten, wo die legale Presse unterdrückt wird, die Haltung der Emigration von großem Gewicht ist. Was in der Emigration geschieht ist ebenso wichtig als was bei den andren Parteien im Lande selbst vorgeht. Die deutsche Partei ist für uns immer eine Lehrmeisterin gewesen. Als die Kunde von der Abstimmung der deutschen Fraktion uns erreichte, konnte man der Nachricht nicht glauben. Trotzki: Die Nummer des Vorwärts vom 4ten August glaubte man im Generalstab produziert. Axelrod: Nach dieser Abstimmung war die allgemeine Frage: „Woran kann man noch glauben". Wir fürchteten, es würde das deutsche Beispiel auch auf die russischen Arbeiter einwirken; jedoch erwies sich die demoralisierende Wirkung nicht als sehr stark. Dann hörte man, dass auch Plechanow nationalistisch gesinnt sei. Ich selbst stand einige Zeit unter der Wirkung der Gefahr für Frankreich und der Okkupation Belgiens; deshalb wünschte ich momentan einige militärische Erfolge der Entente „für Russland". Nicht nur unter der Emigration wurden einige Führer vom Nationalismus ergriffen, auch in Russland selbst erschienen sozialistische Broschüren, die den nationalen Standpunkt hervorhoben. Jedoch die Nationalisten blieben eine kleine Minderheit; im Kaukasus z.B. gibt es überhaupt keinen Nationalismus in der Sozialdemokratie. Jedenfalls hat es bei uns keinen Burgfrieden gegeben, der Kampf gegen den Zarismus wurde keinen Augenblick unterbrochen. Es gibt eine literarische Gruppe, die glaubt, dass der Sieg des Westens über Deutschland den Zusammenbruch der europäischen Reaktion bedeuten würde. Diese Gruppe, welche sich um die Nascha Zarja sammelt, denkt inkonsequent, verwirft jedoch keineswegs den internationalen Standpunkt. Die verschiedenen Gruppen im russischen Sozialismus sind seit dem Anfang des Krieges gemeinsam gegen die nationalistischen Strömungen aufgetreten. – Ich verzichte auf die Darstellung der literarischen und propagandistischen Äußerungen in der Emigration. Bald fanden sich alle darin einig, die Haltung der deutschen Soz.dem. bedeute einen Bruch zwischen Vergangenheit und Zukunft. – Ich bin dafür, dass, wenn es möglich ist, der Übergang von der alten zur neuen revolutionären Taktik ohne Erschütterung stattfindet. Besonders möchte ich noch bemerken, dass die Lage der Partei in Frankreich und Belgien ganz anders war wie in Deutschland. Ich habe mich dahin geäußert, es sei „nicht Marxismus, sondern Zynismus", um alle unter einen Hut zu bringen, und ich halte an dieser Äußerung fest. Jetzt kommt in Russland wieder eine oppositionelle Stimmung auf; patriotische Manifestationen in Moskau werden in anti-patriotische verwandelt usw. Überall gibt es Streikbewegungen. In Parteikreisen kommt auch jetzt, nach den großen Siegen des deutschen Heeres, die Frage der Landesverteidigung gar nicht in den Vordergrund. Jedoch gibt es heute in der Bewegung zwei verschiedene Tendenzen. Die einen fordern eine konstitutionelle Versammlung, um den Krieg zu liquidieren; bis diese zustande kommt, muss man sich verteidigen. Die andern erachten es für eine Gefahr, das Ziel der konstituierenden Versammlung gewissermaßen mit dem Ziel der nationalen Verteidigung zu vereinigen; sie meinen, man solle den Hauptnachdruck auf das Ziel der konstituierenden Versammlung fallen lassen. In der Frage der Friedensbedingungen soll das Proletariat international entscheiden; das OK der russischen SD arbeitet schon lange darauf hin. Vor allem einige Worte speziell über die Zusammensetzung der russischen Delegation auf unserer Konferenz, um ein mögliches Missverständnis im Voraus zu beseitigen. Während die große Mehrzahl der Delegierten direkt aus ihrer Heimat hierher gekommen ist, leben die russischen Mitglieder der Konferenz in der Fremde, als politische Flüchtlinge, fern von der Kampfesarena ihrer Parteien. Nun ist ja bekannt, welche irrtümliche Vorstellung in den Reihen unserer westlichen Genossen über die Rolle und die Bedeutung der russischen Emigration vorherrschen. Man ist geneigt, in diesen Parteikreisen, unsere Emigration als ein der heimatlichen revolutionären Bewegung mehr oder minder entfremdetes Element zu betrachten, das die Fühlung mit ihr verloren hat und von einem abstrakten leblosen Doktrinarismus beherrscht wird. Es ist sicher wohl zu befürchten, dass bei Beurteilung der Beschlüsse der Konferenz manche Genossen darauf hinweisen könnten, dass sie unter Beteiligung von Delegierten zustande kamen, die Anschauungen und Tendenzen zum Ausdruck brachten, die wohl in den russischen Emigrantenkreisen herrschen, keineswegs aber von den Genossen in Russland selbst geteilt werden. – Demgegenüber erkläre ich auf das Bestimmteste, dass eine derartige Ansicht durchaus irrtümlich wäre. In Wirklichkeit vertreten die russischen Teilnehmer an der Konferenz, namentlich die sozialdemokratischen, nicht bloß die Flüchtlinge, sondern ihre Parteien in der Gesamtheit. Denn, erstens, sind diese Teilnehmer Mitglieder und Delegierte auswärtiger offizieller Vertretungen, die von den berufenen Instanzen dieser Parteien in Russland selbst eingesetzt worden sind. Und zweitens stimmen die Hauptströmungen unserer Emigration in der Stellungnahme zum Kriege und zu den von ihm in den Vordergrund gestellten praktischen Fragen im Wesentlichen mit denen, die in Russland selbst in den Reihen unserer Genossen zutage treten. Endlich dürfte es hier am Platze und zeitgemäß sein, auf die Tatsache hinzuweisen, dass die russische Emigration seit jeher eine große Bedeutung für die revolutionäre Bewegung in ihrer Heimat hatte, dass die Wortführer und die leitende Presse unserer Emigration zu gewissen Perioden die Taktik und selbst die Parteibildung in entscheidender Weise beeinflussten, ja, von den Genossen im Inlande dazu förmlich ersucht und gedrängt wurden. Die große, die überwältigende Mehrheit der russischen Emigration ist nun, wie die meisten von ihnen wohl wissen werden, dem Internationalismus treu geblieben. Nur ein kleiner Bruchteil der im Ausland lebenden russischen Genossen ist ins Fahrwasser des Nationalismus geraten. Am Beginn des Krieges konnten wir selbstverständlich keine sicheren Nachrichten aus Russland über die Stellungnahme unserer Partei erhalten. Es wurde jedoch bald bekannt, dass unsere Dumafraktion eine scharfe und konsequent ablehnende Haltung dem Krieg gegenüber eingenommen hat. Und da die Fraktion bei uns in sehr engem Kontakt mit den anderen führenden Parteikreisen steht, so konnte es keinem Zweifel unterliegen, dass auch die Mehrheit dieser Kreise von nationalpatriotischem Fieber nicht ergriffen ist. Allmählich bekamen wir die Sicherheit, dass die russische Sozialdemokratie auch auf ihrem heimatlichen Boden in ihrer großen Mehrheit dem proletarischen Internationalismus treu blieb. Auch dort sind sehr wenige Genossen dem patriotischen Rausch zum Opfer gefallen. Ich möchte nebenbei Ihre Aufmerksamkeit auch auf die Tatsache lenken, dass sowohl in der Emigration als in Russland selbst die nationalistische oder „sozialpatriotische" Minderheit unserer Partei nicht etwa speziell einer ihrer alten Fraktionen oder Richtungen angehört, sondern vielmehr ziemlich gleichmäßig sich aus Vertretern aller unserer Fraktionen und Gruppen zusammensetzt. Dass die russische Sozialdemokratie in ihrer Gesamtheit den unerwarteten Umfall ihrer westlichen Bruderparteien nicht mitmachte, verdankt sie keineswegs speziellen moralischen und intellektuellen Vorzügen ihrer Führer, nicht etwa deren außerordentlichen theoretischen Schulung und gewaltig überragendem politischem Scharfsinn, sondern vor allem der objektiven revolutionären Situation, in der sich das Zarenreich seit ein paar Jahren befindet. Das brutale konterrevolutionäre Regime herrscht noch schrankenlos im Reiche. Aber sein unversöhnlicher Gegensatz zu den wirtschaftlichen und kulturellen Interessen und Bedürfnissen der proletarischen und bürgerlichen Massen verschärfte sich immer mehr in den letzten Jahren und erzeugte revolutionäre und oppositionelle Stimmungen, die sich kurze Zeit vor dem Ausbruch des Krieges in einer Reihe bedeutsamer Erscheinungen in ziemlich heftiger Weise zu äußern begannen. Ich erinnere bloß an die ihm vorausgegangenen großen revolutionären Streiks in einer Reihe von Industriezentren und insbesondere an die politischen Streikdemonstrationen der Petersburger Arbeitermassen – 150 bis 200.000 sollen an ihnen teilgenommen haben – die gerade in jenen Tagen stattfanden, als Poincaré in Petersburg als Gast des Zaren weilte. Die Regierung unterdrückte sie mit den im Reiche „Väterchens" üblichen barbarischen Mitteln; viele Arbeiterführer wurden ausgewiesen, verbannt und ins Gefängnis gesperrt, die Arbeiterpresse unterdrückt und die Arbeitervereine aufgelöst. Dass unsere Partei, organisatorisch geschwächt, dazu noch ihrer Presse beraubt, unmittelbar nach diesen Massenerhebungen, die ungeheure Opfer von den Arbeitern und ihren Führern erforderten und eine momentane Desorganisation und Erschöpfung ihrer revolutionären Kräfte herbeiführten, nicht die Kraft haben wird, Massenaktionen gegen den Krieg zu organisieren, war von vornherein klar. Deshalb wies ich auch auf der Konferenz des Internationalen Sozialistischen Büros, die zur Beratung über Maßnahmen zur Verhinderung des Kriegsausbruchs Ende Juli in Brüssel stattfand, daraufhin, dass die Sozialdemokratie Russlands nicht in der Lage ist, eine Massenbewegung gegen die drohende Gefahr eines Weltbrandes ins Leben zu rufen. Aber ich betonte zugleich die große Wahrscheinlichkeit, dass im Laufe dieses Krieges, nachdem seine verheerenden Wirkungen immer mehr zutage treten werden, diese in Russland eher als in den anderen kriegführenden Staaten eine revolutionäre und oppositionelle Bewegung auslösen würden. Und zwar eben deshalb, weil der Gegensatz zwischen dem politischen Regime und den fortschrittlichen sozialen nirgends im Westen einen so hohen Grad erreicht hat und dermaßen zu einer Lösung unmittelbar drängt wie im absolutistischen Russland. Die neuesten Vorgänge im politischen Leben dieses Reiches scheinen diese Auffassung zu bestätigen. Und es ist eben die Wirkung dieses unversöhnlichen Gegensatzes, die sich schon am Beginn des Weltbrandes in der streng internationalistischen Haltung der offiziellen Organe und der großen Mehrheit der führenden Kreise unserer Partei klar und deutlich äußerte. Wenn nun doch ein Bruchteil der russischen Sozialdemokratie – allerdings ein sehr kleiner – von der Welle des Patriotismus erfasst wurde, so verdanken wir es in erster Linie dem katastrophenartig eingetretenen Umfall der westlichen Bruderparteien, namentlich derjenigen Deutschlands und Frankreichs. Vor allem aber war es speziell die deutsche Sozialdemokratie, die mit ihrer Kriegstaktik einen entscheidenden Anstoß zum Übergang mancher unserer Genossen ins nationalistische Lager gab. Namentlich wirkten auf sie in derselben Richtung auch, einerseits, der brutal rücksichtslose Überfall Belgiens und Frankreichs durch Deutschland und seine raschen überwältigenden Siege, die die Existenz dieser seiner beiden Gegner in Frage stellten, und andererseits – die Tatsache, dass Deutschland vom Junkertum, halb absolutistischen Monarchismus und Militarismus beherrscht wird, während Frankreich, Belgien und England, im Vergleich zu ihm moderne demokratische Staaten sind. Dies im Verein mit den revolutionären Überlieferungen Frankreichs bewirkten es, dass ein die Existenz seiner Gegner bedrohender Sieg Deutschlands vielen Genossen, und zwar nicht bloß der nationalistischen Minderheit, als ein Sieg des Staates, der eine verhältnismäßig niedrige Stufe der politischen Entwicklung im Westen repräsentiert, über Länder, die eine viel höhere Entwicklung repräsentieren, erschien, ein Sieg, der einen dauernden Rückfall Europas in politische Barbarei zur notwendigen Folge haben würde, während umgekehrt eine entscheidende Niederlage Deutschlands und Österreichs eine Garantie für die weitere Demokratisierung der europäischen Staaten und ein Segen für die ganze Menschheit wäre. Jedoch bei weitem nicht alle Genossen, die diese Auffassung teilten, wurden dadurch Anhänger des Burgfriedens auch in Russland, und die Mehrheit derjenigen, die dem Burgfrieden der Sozialdemokratie selbst mit den reaktionären Elementen huldigten, wurden dazu vor allem durch das Beispiel der deutschen Sozialdemokratie verleitet. Sie war ja buchstäblich der geistige Vater und Lehrmeister unserer Partei, sie wurde von uns als die klassische Verkörperung der Lehren des wissenschaftlichen Sozialismus verherrlicht und als Leitstern anerkannt. Und nun verbreitete sich das Gerücht, dass die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie für die Kriegskredite stimmte und dass ihre leitenden Zentren sich für das Eintreten der Partei in den „nationalen Block" zur gemeinsamen „Verteidigung des Vaterlandes" erklärten. Niemand von uns wollte diesen Gerüchten Glauben schenken, bis wir ihre Bestätigung in der sozialdemokratischen Presse selbst gefunden haben. Dann empfanden wir diese Nachrichten wie einen furchtbar betäubenden Schlag. Es schien uns, als wäre eine Art gewaltigen Erdbebens über das internationale Proletariat hereingebrochen, als verlören wir den Boden unter den Füßen. Im Nu war die ungeheure Autorität der deutschen Sozialdemokratie verschwunden. Während aber die große Mehrheit der russischen Genossen verzweifelt und entrüstet über die nationalistische Haltung der Sozialdemokratie Deutschlands und auch über die der Bruderparteien Österreichs, Frankreichs etc. scharfe Kritik an dieser Haltung übten, beeilten sich diejenigen, in denen der Weltbrand patriotische und nationale Gefühle wachrief, dem Beispiele der deutschen Arbeiterpartei zu folgen, und erklärten die nationale Verteidigung ihres russischen Vaterlandes als die höchste Pflicht unseres klassenbewussten Proletariats, vor der alle seine sozialistischen Pflichten und Klasseninteressen völlig in den Hintergrund treten müssen. In Entrüstung und Empörung gegen die verantwortlichen Parteikreise der deutschen Sozialdemokratie dafür, dass sie eben diesen Standpunkt konsequent durchführen, wetteiferten sie mit den intransigentesten Vertretern der internationalistischen Opposition. Aber für die bedeutete die von dieser Partei proklamierte nationale Solidarität des Proletariats mit seinen Ausbeutern und Unterdrückern in der Verteidigung des „Vaterlandes" die Befreiung von den geistigen Fesseln der überragenden internationalen Autorität, die ihrer Vaterlandsverteidigungsposition im Wege stehen könnte. Nun bis jetzt hat die Propaganda der Vaterlands- und Burgfriedenspolitik keinen merklichen Fortschritt in der russischen Sozialdemokratie gemacht, und wir hoffen, dass sie auch fernerhin wirkungslos bleiben wird. Wie verschieden auch die Auffassungen und Meinungen in manchen wesentlichen Punkten in unserer Partei sein mögen, in ihrer Stellungnahme gegenüber dem Nationalismus und Internationalismus stehen alle unsere Fraktionen und Gruppen – mit Ausnahme eines einzigen Bruchteils – auf einem und demselben prinzipiellen Boden. Allerdings bestehen auch innerhalb der internationalistischen Mehrheit Differenzen, die für die Frage der Wiederherstellung und der weiteren Entwicklung der Internationale von großer Bedeutung sind. Ich deutete darauf hin, als ich bei der Diskussion über den Abstimmungsmodus auf unserer Konferenz mit Nachdruck darauf hinwies, dass in Bezug auf deren Zweck und Aufgaben, nicht fünf, sechs oder gar mehr Richtungen, sondern bloß zwei auf ihr vertreten sind. Während einige Delegierte darnach streben, die organisatorische Basis einer „neuen" Internationale auf der Konferenz festzulegen, auszubauen, geht der andere Teil ihrer Teilnehmer von der Ansicht aus, sie zum Ausgangspunkt einer internationalen Verständigung des sozialistischen Proletariats zu machen, um vor allem einen erfolgreichen internationalen Kampf gegen die Fortsetzung der Krieges und für den Frieden einzuleiten und zu führen. Die Richtung in der russischen Sozialdemokratie, die ich hier vertrete, ist in der Frage über die Aufgaben unserer Konferenz solidarisch mit der eben angedeuteten Auffassung mancher, vielleicht auch der Mehrheit ihrer Mitglieder. Wir glauben nämlich, dass der Wiederaufbau der Internationale auf einer viel festeren Basis als bisher, nicht von heute auf morgen, durch Beschlüsse einer Beratung wie die unsere herbeigeführt werden kann, dass eben erst eine internationale Verständigung der proletarischen Parteien für eine gemeinsame Friedensaktion die notwendige Voraussetzung für die baldige Herstellung und Regenerierung der Internationale schaffen kann und dass die Wortführer der Internationalisten in ihrem Kampfe gegen die Burgfriedenspolitik und ihre Verfechter vom Streben beherrscht sein müssen, die im Laufe von Jahrzehnten in hartnäckigen, opfervollen Kämpfen und Anstrengungen errichteten Bollwerke des proletarischen Befreiungskampfes als Erbschaft unserer Vergangenheit für die Zukunft unversehrt erhalten werden. Wir legen großes Gewicht darauf, dass der Wiederbelebungsprozess und die Entwicklung der Internationale, wenn auch aller Wahrscheinlichkeit nach unter heftigen inneren Parteikämpfen und Absplitterungen mancher Elemente vor sich gehen wird, so doch nicht von großen Spaltungen und Wirkungen begleitet werden soll. Dies ist der leitende Standpunkt der Fraktion, der ich angehöre, sowohl in der Kritik der internationalistischen Taktik der offiziellen Parteiinstanzen, als auch in der Frage über die positiven Aufgaben der dem proletarischen Internationalismus treu gebliebenen Vertreter der internationalistischen Sozialdemokratie im gegenwärtigen Moment, um den Boden und die Bedingungen für den Wiederaufbau der Internationale vorzubereiten. Und nun zum Schluss noch einige Worte über die Lage und die schwebenden Hauptaufgaben der russischen Sozialdemokratie. Unter den gewaltigen militärischen Schlägen der feindlichen Heere, die die innere Fäulnis der herrschenden Cliquen Russlands und ihre absolute Unfähigkeit, das Reich nach dem völligen Zusammenbruch zu retten, den das junkerlich-monarchische Regierungssystem heraufbeschworen hat, beginnt in den proletarischen Massen der revolutionäre Geist zu erwachen und in den bürgerlichen Kreisen die Opposition gegen dieses System sich zu regen. Die bürgerliche Opposition übt scharfe Kritik an dessen verantwortlichen Trägern und beschuldigt manche von ihnen und zwar auch solche, die zu den höchsten Würdenträgern der staatlichen Bürokratie zählen, geradezu des Verrates am Vaterlande. Und sie erhebt politische Forderungen und motiviert sie mit der Lebensnotwendigkeit für Russland, seiner gesamten Bevölkerung freien Spielraum für die soziale und politische Selbstbestätigung zu geben, damit sie die Möglichkeit habe, alle seine Kräfte in wirksamer Weise der Verteidigung und der Rettung des Landes zu widmen. Welche Haltung soll nun unsere Partei dieser Bewegung gegenüber einnehmen? Und mit was für einer Parole soll sie sich und die proletarischen Massen wenden, um sie als selbstverständige Macht auf der Arena einheitlicher politischer Aktionen zu mobilisieren? Diese Fragen nehmen natürlich das Hauptinteresse unserer Parteikreise in Anspruch. In seinem Schreiben vom 3. September an die Genossen in Russland nimmt das Auslandsbüro des Organisationskomitees Stellung zu diesen Fragen. Das Büro kritisiert scharf die liberale Opposition und lehnt es ab, die Interessen und Aufgaben der proletarischen Demokratie der „nationalen Verteidigung" zu unterordnen. Die Parole „Krieg bis zum Siege" kennzeichnet es als nicht nur mit unsern internationalen Prinzipien unvereinbar, sondern zugleich auch als eine verderbenbringende, irreführende Illusion. Ja, auch die Parole „Nationale Verteidigung" erklärt das Schreiben als eine Illusion, denn nicht mit militärischen Mitteln, sondern durch die Zerschmetterung des reaktionären Regimes und die Herrschaft der Demokratie kann Russland sich vom Niedergang retten. Die Kampfesparole unserer Partei müsse daher lauten: „Eine demokratische konstituierende Versammlung zur Liquidierung des Krieges und des absolutistischen (vom 3. Juni) Regimes." Und da wir nur im Bunde mit den Proletariern anderer Länder unsere Ziele erreichen können, so müsse das russische Proletariat gleichzeitig an das europäische Proletariat und an die russische Demokratie appellieren. Von demselben Geiste sind die Reden unserer Dumafraktion beherrscht und auch die Haltung des OK unterscheidet sich prinzipiell nicht von der seines Auslandskomitees. Wir dürfen also sicher sein, dass die von unserer Konferenz angestrebte internationale Vereinheitlichung des Kampfes gegen die Burgfriedenspolitik und gegen den Krieg in der russischen Sozialdemokratie eine Ihrer kräftigsten und feurigsten Stützen und Förderer finden wird. Lemanski (Bund) befindet sich in einer ganz andern Lage wie Axelrod. Die Emigration hat im Bund nie eine große Rolle gespielt. Sein Mandat ist darauf beschränkt, an den Verhandlungen zum Zweck der Information teilzunehmen. Die Haltung des deutschen und des französischen Sozialismus hat in den Reihen seiner Organisation allgemeine Bestürzung hervorgerufen. Alle Flugblätter, die das Zentralkomitee des Bundes in Russland erlassen hat, nehmen Stellung gegen den Krieg und fordern einen Frieden ohne Kontributionen und Annexionen, das heißt ohne Sieger und Besiegte. In den Staaten der Entente kursiert die Meinung, als hätte der Zarismus während des Krieges seine alte Haut abgestreift: Er ist jedoch im Gegenteil blutdürstiger denn je. Dem jüdischen Volke wird die Schuld an der militärischen Niederlage zugeschrieben; die Expulsion der Juden aus Polen und Südrussland wird mit einer beispiellosen Grausamkeit durchgeführt. Manchmal werden die unglücklichen in geschlossenen Wagen zusammengepfercht und in die Ferne geschickt. Zu (Nozowleisk) ereignete es sich, dass diese Wagen volle zehn Tage verschlossen gehalten wurden. Selbstverständlich befanden sich in ihnen Dutzende von Kranken. Und noch heute geht es noch ganz in derselben Art weiter. Grimm erklärt, dass die Österreicher, soweit man sich mit ihnen verständigen konnte, es nicht für notwendig hielten, die Konferenz zu beschicken. Einzelne Genossen haben in persönlicher Unterredung geantwortet: „Wir haben den § 14. Es wurde im Parlament nicht über die Kriegskredite abgestimmt, wir sind in keiner Weise für den Krieg engagiert". Radek hat Briefe von den tschechischen Zentralisten bekommen, die auf den internationalen Standpunkt stehen. Sinowjew (ZK, Russland): Man stellt es vor, als ob wir eine besondere russische Taktik schaffen wollen. Es ist dies nicht wahr. Wir wollen nur die marxistische Taktik auf russischem Boden anwenden. Die legale Nascha Sarja spielt bei uns eine größere Rolle als die Monatshefte in Deutschland. Diese Gruppe steht vollkommen auf dem Boden des Sozial-Patriotismus. Axelrod hat gesagt, dass sein heißester Wunsch eine geeinigte russische Partei sei; wir wünschen das auch, aber auf dem Boden des Internationalismus. Wir können unmöglich zusammen mit den Sozialpatrioten kämpfen. Keiner von uns sagt zu den Italienern: bildet eine Partei zusammen mit Bissolati, also soll man es zu uns auch nicht sagen. Die Massen der bewussten Arbeiter in Russland sind nicht vom Nationalismus angesteckt, die Haltung der deutschen Partei jedoch hat eine furchtbare Wirkung gehabt, es war das größte Unglück, das die russische Bewegung treffen konnte. Die oppositionelle Bewegung gegen den Krieg ist im Wachstum begriffen. Von unserm ZK wurden große Streiks inszeniert, so in den Putilow-Werken. Die Presse ist geknebelt, es werden jedoch zahlreiche Flugblätter herausgegeben. Die Sozialpatrioten geben als Losung „Revolution zum Zwecke des Sieges über die Deutschen". Dagegen sagen wir: „Revolution als ersten Schritt zur internationalen Revolution". Winter (Letten): Man hat im Auslande keine Ahnung, wie sehr die Lage sich in Russland unmittelbar vor dem Kriege revolutionär zugespitzt hatte. Bei uns in Riga hatten wir in den letzten sechs Monaten vor dem Kriege vier Mal Massenstreiks. Einmal nahmen über 80.000 Arbeiter daran teil. Auch gab es viele Massendemonstrationen auf der Straße. Während des Krieges haben wir eine große Arbeit geleistet. In den zwölf Monaten, die er währte, haben wir an vierzig Flugblättern in Zehntausenden von Exemplaren verbreitet. Jeder Rekrut, der in den Krieg zog, hat sie gelesen. Auch ist in Riga ein illegales Organ in elf Nummern erschienen. In der legalen gewerkschaftlichen und wissenschaftlichen Presse haben wir ebenfalls gegen den Krieg gearbeitet. Die Taktik der deutschen Partei war der furchtbarste Schlag, der uns treffen konnte; die Arbeiter haben gesagt „das ist die Folge der Bürokratie". Tschernow (SR) hat wenig Nachrichten aus Russland. In Moskau und Petersburg hat man Flugblätter verteilt für den Frieden. Einige Gruppen der SR haben versucht, ein Blatt zu veröffentlichen, es wurde jedoch die zweite Nummer schon konfisziert. Von den Letten, Armeniern, Georgiern weiß ich nichts. Trotz unserer Schwächen und inneren Kämpfe, haben wir die Erfahrungen des Krieges ausgenützt, um eine günstige Atmosphäre zu schaffen. So haben z.B. die Trudowiki, die volkstümlichen Sozialisten, und wir zusammen Resolutionen angenommen für den Frieden und die Herstellung der internat. Beziehungen. Auch ins Heer haben wir die Agitation getragen. Russland befindet sich auf dem Wege zur Revolution. Große Ereignisse bereiten sich vor, die auch auf die andern Länder zurückwirken werden. Unsere deutschen Genossen können dessen gewiss sein. Die neue Internationale wird die Internationale der Tat sein oder sie wird nicht sein. Man solle vor allem jetzt versuchen, die Einigkeit zu erzielen, dies gilt auch für uns Russen. Trotzki verzichtet darauf, einen Bericht für die Nasche Slowo zu geben, weil sie international gelesen wird und die rumänische, deutsche, schweizerische Parteipresse manches aus ihren Spalten übersetzt hat. Morgari (Italien) spricht die Hoffnung aus, dass es noch einem oder mehreren englischen Delegierten möglich sein wird, die Konferenz zu erreichen. Von den drei bedeutenden englischen Arbeiterorganisationen ist die BSP, was die Mehrzahl ihrer Mitglieder anbelangt, gegen den Krieg, die ILP jedoch viel entschiedener. Die LP, die politische Organisation der Gewerkschaften, ist kriegsfreundlich. Selbstverständlich auch das National Defence Comittee, worin die Sozialpatrioten sich zusammengeschlossen haben. Redner war zweimal in England, um die Parteien von der Notwendigkeit zu überzeugen, an der Konferenz teilzunehmen. Die größte Schwierigkeit, die es zu überwinden gab, war, dass die englischen Genossen eine Tagung des Internationalen Sozialistischen Büros abwarten wollten. Einige hielten auch dafür, man solle abwarten, bis die militärische Situation sich geklärt habe. Schon vor einiger Zeit hat Vandervelde versprochen, eine Zusammenkunft der Richtung Kautsky-Bernstein mit der englischen Sektion der Internationale vorzubereiten – in der Art wie sie schon zwischen Kautsky-Bernstein und Jouhaux stattgefunden hat. Die ILP hatte sich entschlossen, sich auf der Konferenz von Jowett vertreten zu lassen, er hat jedoch keinen Pass bekommen können. Die BSP hatte, als Morgari abreiste, noch keinen Entschluss gefasst, jedoch hatten von den 9 Mitgliedern des Vorstandes schon 4 sich dafür erklärt, von den andern war die Antwort noch nicht eingetroffen, als Redner abreiste. Merrheim: Schon am 17. April wurde vom Comité Confédéral beschlossen, es solle zwischen Jouhaux und einem andern Delegierten eine Zusammenkunft stattfinden mit Vertretern der deutschen Minorität. Jouhaux hat diese Zusammenkunft so lange wie nur möglich verschleppt, jetzt scheint sie endlich stattgefunden zu haben, ihre Resultate sind uns jedoch nicht bekannt. Grimm: Der Briefwechsel wurde durch Zwischenkunft von Grumbach geführt. Merrheim: Wir haben jedes Zutrauen zu Jouhaux verloren. Grimm gibt Auskunft über die Zusammenkunft mit Grumbach in Bern, wobei Bernstein absichtlich vermieden hat, mit Grimm zusammenzukommen. Ledebour erklärt, es müssen Bernstein-Kautsky keine Ahnung von den Schweizer-Verhältnissen haben, um mit Grumbach zusammenzugehen. Grimm will erklären, dass seiner Ansicht nach diese ganze Geschichte darauf abgezielt sei, die Führung der Einigkeitsbewegung den Händen der radikalen Minorität zu entreißen. Ledebour hält diese Befürchtung für übertrieben. Er hat die Minorität der Fraktionen zusammengerufen, damit diese eine Delegation auf die Konferenz schicken könnte. An Haase hat die Linke sich nicht gewandt, weil dieser dadurch in eine Zwangslage käme. (Radek – Erstens: Vermittler in Bern sprach nur mit Bernstein, am 23. Juli)4 In der französischen Übersetzung fügt Grimm noch hinzu: „Ich bekam im April noch eine Depesche von Haase aus Wien, um anzufragen, ob Bernstein in Bern sei. Er war hergekommen zum Zwecke einer Zusammenkunft mit Renaudel und Longuet, aber diese hat nicht stattgefunden, man hat einander nicht getroffen. Es ist etwas nicht klar in diesem Spiel. Merrheim: Mir scheint es vollkommen klar zu sein. Man will die Deutschen glauben machen, dass die Franzosen nichts tun können, und den Franzosen, die Deutschen seien ganz machtlos. Was Jouhaux vorgeschlagen hat, ist seine persönliche Sache. Lapinski (Polen): Die Verhältnisse, unter denen das revolutionäre polnische Proletariat arbeitet, sind außerordentlich schwierig. Es ist von den Heeresmassen in zwei Teile zerschnitten und von dem Zentralkomitee im Ausland völlig abgeschnitten. Die ökonomische Situation steht beispiellos da in der Geschichte, die Industrie ist seit einem Jahre vollständig paralysiert. Eine halbe Million Fabrikarbeiter und eine Million ländliche Arbeiter befinden sich in einer schrecklichen, unbeschreiblichen Not. Das österreichische Polen ist zu einer blutigen Wüste gemacht worden. Ein von 13 Millionen bewohntes Land ist vollständig ruiniert, von Millionen-Armeen zerstampft worden; immer sind gewisse Städte aus der einen in die andere Hand übergegangen. Lodz erging es dreimal so, andern Städten sogar fünfmal. Die Lage ist in unserm Lande tausendmal schlimmer als in Belgien. („Sehr wahr"). Und dennoch ist unsere Arbeiterbevölkerung sich ihrer Stellung in der kapitalistischen Gesellschaft bewusst geblieben. Sie weiß, dass der Zarismus derselbe ist wie sonst, aber sie weiß ebenfalls, dass die deutsche Herrschaft an ihrer sozialen Stellung nicht viel ändern würde. Unser Proletariat ist seinen Grundsätzen und seiner Vergangenheit treu geblieben, es hat im Unterschied zu dem, was in Belgien vorgegangen ist, seinen Antagonismus zu den imperialistischen Ideologen fortwährend bezeugt. Ich will Ihnen in kurzen Worten beschreiben, auf welche Art und Weise wir die Arbeit in Polen organisiert haben. Es war notwendig, zur Abwehr der stetig drohenden Hungersnot die Herbeischaffung der Lebensmittel zu organisieren, gemeinschaftliche Küchen zu eröffnen usw. Jedoch vor allem war es notwendig, die Geistesverfassung des polnischen Proletariats gegen die verschiedenen Gefahren zu verteidigen, die sie bedrohten. Wir müssten diese Geistesverfassung verteidigen, sowohl gegen die Demagogie des polnischen Bürgertums wie gegen die Proklamationen der russischen Großfürsten und die deutschen Lockungen. Erst nach dem Rückzug aus Galizien, als sie nur noch mit einem Fuße in Polen stand, fing die russische Regierung an, einen ersten Schritt zur Ausführung des Manifestes des Großfürsten zu machen. Und sogar dann hat er die Ausführung nicht Leuten überlassen, von denen er fürchtete, sie würden die versprochenen Reformen im liberalen Geiste ausführen. Erst nach dem Falle Warschaus ist das Wort Autonomie ausgesprochen worden. Es hat unser Proletariat auch gegen den deutschen und den österreichischen Imperialismus zu kämpfen, die jetzt über ihre Pläne schweigen. Es steht das polnische Proletariat in diesem Augenblick vor der Gefahr einer neuen Teilung, eines neuen Experimentes am lebendigen Leibe. Wir haben mit dem Petitionement für die Annexionen und der Rede des deutschen Reichskanzlers zu rechnen. Eine unmittelbare Gefahr bedroht uns. Es ist eine große Enttäuschung für unser Proletariat, dass diese Gefahr für die Mehrzahl der Sozialisten als etwas Abstraktes betrachtet wird. Die polnischen Legionen werden in diesem Moment nur noch als Kanonenfutter betrachtet, sie sind zwischen allen Heeren zerstreut, sie werden bis nach Bessarabien geschickt. Im Anfang des Krieges, als die Herrschenden noch hofften, das polnische Proletariat noch für ihre Zwecke zu gebrauchen, da hatte man noch einige Rücksicht, aber heute werden die Legionen absolut als Schlachtvieh behandelt. Das polnische Proletariat hat anfänglich mit äußerstem Erstaunen die Glorifizierung des Zarismus durch die englischen und französischen Sozialisten erfahren. Heute erfährt es mit nicht geringerem Erstaunen die Haltung der deutschen Partei. Weder David in seiner Reichstagsrede noch die gesamte Parteipresse hatten ein klares Wort zur Frage der Annexion Polens gesprochen, man ist der politischen Notwendigkeit, ein männliches Wort zu sprechen, aus dem Wege gegangen. Zwar über die Annexion Belgiens wird in der sozialdemokratischen Presse sehr viel geredet. Der Grund davon ist, dass ein großes imperialistisches Reich diese Frage zu einer Frage ersten Ranges erhoben hat. (Stimmen: sehr richtig). Ein anderer Grund zu diesem Schweigen ist, dass man über Polen nicht klar und deutlich reden kann, ohne die Frage von Elsass-Lothringen zu berühren. Deshalb erleben wir, dass jedermann über die Annexion Polens spricht, Minister wie Schriftsteller. Nur die Sozialdemokratie verharrt in Schweigen. Man verfügt über ein modernes zivilisiertes Volk, als ob es eine Ware wäre, man fragt nicht darnach, was aus diesem Proletariat werden wird, dessen Geschichte so glorreiche Seiten aufweist. Wir haben viele Aufrufe erscheinen lassen, vom ersten August bis zum Falle Warschaus haben wir fortwährend in Flugblättern Stellung zum Kriege genommen und jedes Zusammengehen mit der Bourgeoisie abgelehnt, am 2. August fand schon eine Straßendemonstration statt. Zum Schlusse möchte ich Ihnen die folgende Deklaration vorlesen […] Meyer bemerkt zu der Kritik Lapinskis, sie sei durchaus berechtigt und von der Minorität geteilt. Allein müssen die Pressverhältnisse berücksichtigt werden, die Clique verschärft sich immer, nach dem Fall Warschaus ist sogar verboten worden, das Wort „Polen" zu erwähnen. Unlängst ist von der Minorität eine Broschüre veröffentlicht worden, die gegen die Annexionspolitik energisch Stellung nimmt.5 Ledebour wendet sich gegen den Vorwurf Lapinskis. Er selbst habe wiederholt im Reichstage die Regierung angegriffen, gerade als von Hindenburg gesagt wurde, man soll für ein jedes verbrannte Dorf zwei russische oder polnische niederbrennen, wurde er für seinen Protest gegen diese Redeweise von den Mehrheitsparteien als Verrückter behandelt, von allen Seiten angegriffen. Die Fraktionsmehrheit ging so weit, dass sie in seiner nächsten Nähe sich befindet, jedoch ohne ihm die Möglichkeit zu geben, sich an der Diskussion zu beteiligen, Ledebour resonierte [sic!] durch eine Erklärung, die Scheidemann im Namen der Fraktion im Reichstage abgab. Ebenso hat Redner gegen die Verfolgungen der französisch sprechenden Elsässer und die schlechte Behandlung der Kriegsgefangenen protestiert, wofür er in der schärfsten Weise im Parlamente und in der Presse angegriffen wurde.6 Rakowski: Auch in Rumänien werden die Sozialdemokraten durch die Bewilligung der Kriegskredite der deutschen Fraktion bestürzt, sie hielten aber die Nachricht für unwahrscheinlich. Trotz der schweren Enttäuschung betrachten die Balkansozialisten es für ihre Pflicht, der Internationale treu zu bleiben. Auch in Rumänien wie in Italien hat die Neutralitätsbewegung verschiedene Phasen durchgemacht – im Anfange bestand die Gefahr, Rumänien würde an der Seite der Zentralmächte in den Krieg treten, jetzt besteht die entgegengesetzte Gefahr. Diese Partei kämpft immer im gleichen Sinne für den Frieden. Große Massendemonstrationen haben stattgefunden namentlich im Mai nach der italienischen Kriegserklärung, bei der es zu blutigen Zusammenstößen kommt zwischen der proletarischen Masse, etwa 40.000, und der Polizei. Noch jetzt befinden sich Demonstranten in Untersuchungshaft. Das Duell zwischen der bürgerlichen Partei und der S-D dauert an. Im Juli hat in Bukarest eine Konferenz stattgefunden, an der eine interbalkanische sozialistische Föderation gegründet wurde; ein gemeinsames Manifest von S-D Serbien, Griechenland, Bulgarien, Rumänien, ist erlassen worden für den Frieden und für die Föderativ-Republik der Balkanischen Länder. Im Manifest beruft man sich auf die Erklärung der serbischen Fraktion in der Skuptschina: gegen den Krieg und gegen einen jeden Block auf militärischer Grundlage, der nur ein Werkzeug der Ententepolitik sein kann, ein Block der Völker als Mittel zur Gründung der Föderativrepublik – das soll unsere Parole sein. Jetzt gibt es nur eine S-D Parteibewegung, die interbalkanische. (Beifall). Was auch kommen mag, die rumänische S-D und alle Parteien der Balkanföderation werden auf ihrem Standpunkt beharren, das ist der Standpunkt des Klassenkampfes, des Treubleibens der Internationale.7 Kolarow (Bulgarien) spricht im Namen der ganzen (engen) Partei – trotzdem Bulgarien noch neutral ist, können sich die bulgarischen Genossen schon auf eine Erfahrung berufen. (Die zwei letzten Kriege, die populär waren, haben die S-d zu unbedingten Gegnern gehabt. Nach dem Kriege ist der Stimmenzuwachs von 12 auf 55.000 gestiegen. Während des Krieges hat man gesucht, Beziehungen zwischen Bulgaren und Serben aufrechtzuerhalten; den Gefangenen wurde gegenseitig allerlei Beistand erwiesen. Im Parlament hat die Fraktion zwei Anträge befürwortet: 1) Die bulgarische Regierung solle sich mit den Regierungen der neutralen Länder zwecks einer Aktion zugunsten des Friedens verständigen. 2) Das bulgarische Parlament soll sich an die anderen Parlamente der Balkanländer richten zwecks der Verteidigung der Balkanländer gegen die sie bedrohenden Ansprüche der Großmächte.)8 Verschiedene Versuche sind von Sozialisten gemacht worden, um die bulgarische Partei von ihrer kriegsfeindlichen Stellung abzubringen. Parvus hat zum Eintreten an der Seite Deutschlands und Österreichs in einer öffentlichen Versammlung aufgefordert. Der Vorsitzende der Versammlung, Kirkow, hat gegen Parvus gesprochen und die Gründe der Neutralität und der Friedensbeibehaltung der bulgarischen Partei angeführt. Plechanow hat durch einen Brief an einen gewissen Dr. Petrow den Gedanken geäußert, Bulgarien müsse an Seite Russlands in den Sieg treten. Hervé ließ dieselbe Stimme aus Frankreich vernehmen. Die „breiten" Sozialisten haben russophile Meinungen geäußert, dementsprechende Manifeste unterzeichnet. Die Partei aber (engen) beharrt auf ihrem Standpunkte. Es mag kommen, was will, das Banner der S-D und der Internationale wird hochgehalten werden. (Beifall). Schluss der Sitzung 8 Uhr abends. Abendsitzung Schweden. In der Partei ist nur eine Minorität radikal, in der zweiten Kammer haben bei der Budgetabstimmung 12 dagegen gestimmt, 22 haben sich der Stimme enthalten. Die Sympathien den kriegführenden Ländern gegenüber sind geteilt, Branting und andere Führer sind frankophil, die Massen sind im Großen und Ganzen international gesinnt. Die Jugendlichen sind alle gegen den Krieg. Norwegen. Die Majorität ist radikal. Trotzdem hat die Fraktion für die Kredite gestimmt, was große Unzufriedenheit hervorgerufen hat, es wird bei uns für die totale Abrüstung agitiert.128 Roland Holst (Holland): Ich befinde mich in der etwas peinlichen Lage, Ihnen den Bericht über Holland bringen zu müssen, während ich keiner der beiden sozialdemokratischen Parteien angehöre. Es wäre wünschenswert, dass die SDP, die in unserm Lande den Kampf gegen den Nationalismus führt, hier selbst erschienen wäre. Da sie indes keinen Delegierten geschickt hat, werde ich Ihnen in kurzem die Entwicklung der Dinge bei uns schildern. Die eigentümliche Situation Hollands ergibt sich aus der Tatsache, dass es gleichzeitig ein kleiner Nationalstaat und ein großes Kolonialreich ist, das in Indien 40 Millionen Eingeborene beherrscht und dem im Jahre wenigstens 2000 Milliarden Franken aus Indien als Profite usw. zufließt. Beim Anfang des Krieges überwog die kleinstaatliche Bestürzung, in ihn hineingerissen zu werden; die Regierung sowie die Bourgeoisie waren ehrlich bestrebt, die Neutralität zu handhaben. Jedoch, je länger er währte, desto mehr traten die imperialistischen Tendenzen hervor. Es zeigte sich, dass unsere Imperialisten, wenn sie auch selbstverständlich nicht aggressiv, sondern mehr konservativ sind, wie es der englische Imperialismus auch ist, so doch bei Leibe keine absoluten Neutralisten sind. Im Fall, dass die eine oder andere der großen kriegführenden Staatengruppen sich unserer Kolonien bemächtigen würde, als Kompensation für die unterliegende Partei, oder wie sonst auch, würden sie zweifellos bereit sein, sich auf die andere Seite zu schlagen und am Kriege teilnehmen. Dem ist es zuzuschreiben, dass während des Krieges eine Agitation für den Militarismus immer stärker geworden ist, obgleich jedermann für den Frieden schwärmt. Zweiundzwanzig von den angesehensten Industriellen, Bankiers, Professoren usw. haben der Kammer eine Petition zugunsten der allgemeinen Dienstpflicht zukommen lassen. Man will ein Heer von einer Million schaffen. Zu den Unterschreibern dieser Petition gehörten auch Mitglieder des Anti-Oorlog-Raad. Sie können daraus entnehmen, wie aufrichtig ihr Antimilitarismus ist. Infolge dieser Agitation hat die Regierung einen Entwurf zur Vergrößerung der Reserven eingebracht, die in etwas abgeänderter Form Gesetz geworden ist. Auch sind 2 Dreadnoughts für die Verteidigung Indiens sowie Unterseeboote bewilligt worden. Die große Partei (S-DAP) hat sich auf die Grundlage des Nationalismus gestellt. Sie hat im August 1914 und nachher immer wieder den Mobilisationskrediten beigestimmt, sie hat den Burgfrieden anerkannt und Troelstra hat Anfang August in der Kammer gesagt, es solle in den jetzigen Umständen der internationale Gedanke hinter den nationalen zurücktreten. Zwar hat eine ziemlich große Opposition in der Partei sich gegen diese Stellungnahme erklärt, jedoch, nachdem auf dem Parteitag zu Arnhem Resolutionen im nationalistischen Sinne angenommen wurden, hat die Minorität sich ergeben und den Kampf eingestellt. Die Partei hat gegen den Entwurf zur Vergrößerung der Reserven agitiert, jedoch war diese Agitation völlig opportunistisch, in keiner Hinsicht prinzipiell. Prinzipiell gegen den Nationalismus und den Burgfrieden ist nur die S-DP oder Partij der Tribunisten, die zum Zwecke des Kampfes für bessere Fürsorge für die Arbeitslosen sowie gegen den Militarismus mit den Syndikalisten ein gemeinsames Aktionskomitee gebildet hat. Sie agitieren für die Demobilisation, da ihnen die Mobilisation nur geeignet scheint, die Gefahr, dass Holland von den Imperialisten in den Krieg gerissen wird, zu vergrößern. Auch den kleinen RSV [Revolutionär-Sozialistische Vereinigung], den wir vor kurzem gegründet haben, und der die Monatsschrift De Internationale herausgibt, steht auf dem gleichen Boden. Wir sind der Meinung, dass es in der Epoche des Imperialismus sowieso mit der wirklichen Unabhängigkeit der kleinen Nationen zu Ende geht und dass diese nicht von kriegerischen Maßnahmen, sondern ausschließlich von der Macht und Einigkeit des int. Proletariats ihre freie Entwicklung zu erwarten haben. (Beifall). Grimm (Schweiz): Die schweizerische Delegation ist keine offizielle der Partei. Der Parteivorstand hat es den einzelnen Genossen freigestellt, sich an der Konferenz zu beteiligen oder nicht. Das mag verwundern, denn es war die schweizerische Partei, die die Initiative zur Luganeser Konferenz ergriffen hatte, die wiederholt die Einberufung des internat. Büros forderte und zuletzt noch eine Konferenz der Neutralen anstrebte. Die Mehrheit der Partei aber steht auf dem Boden, dass die Partei nur als Ganzes und nicht durch einzelne ihrer Teile vertreten, sich international zusammenfinden musste. Wir teilen diese Auffassung nicht. Die internationalen Beschlüsse sind klar und deutlich. Werden sie von den Parteien in den kriegführenden Ländern nicht gehalten, so bedeutet das nicht, dass sie von den andern Parteien zu ignorieren seien. Wir wollen uns nach wie vor als Glieder der Internationale betrachten, und ihre Beschlüsse sind für uns maßgebend. Indem wir die Vorarbeiten zur heutigen Konferenz förderten, taten wir nur, was dem Sinne und dem Geist der Beschlüsse von Stuttgart, Kopenhagen und Basel entspricht. Wir lehnen auch den Standpunkt ab, als ob es in Sachen des Sozialismus eine Neutralität gebe, als ob die Parteien der neutralen Länder nicht das Recht hätten, Kritik an dem Verhalten der Parteien in den übrigen Ländern zu üben. Sie haben nicht nur das Recht dazu, sondern diese Kritik wird zu einer Pflicht, wenn die Grundsätze der Internationale und des Sozialismus preisgegeben werden. Als der Krieg ausbrach, hat namentlich das Verhalten der deutschen Parteien das sozialistische Bewusstsein auch in der Schweiz erschüttert. Die Arbeiter fragten sich, wieso Kriegsbegeisterung, Bewilligung der Kriegskredite usw. mit den früher verkündeten sozialistischen Grundsätzen in Übereinstimmung zu bringen seien. Die Erschütterung war um so größer, als die schweizerische Partei seit Jahren unter dem geistigen Einfluss des deutschen Sozialismus steht. Aber auch politisch hat das Verhalten der Parteien in den kriegführenden Ländern seine Konsequenzen auf die Stellung der Parteien in den neutralen Ländern. Die kleinen Staaten sind gegenüber den Großmächten wehrlos. Das Schicksal Belgiens und der Balkanstaaten beweist es aufs Neue. Die herrschenden Klassen halten uns entgegen, dass der die Kleinstaaten erdrückende Militarismus zur Wahrung der nationalen Selbständigkeit nötig sei. Als Sozialdemokraten haben wir diese Auffassung stets bekämpft und in diesem Kampfe darauf hingewiesen, dass die stärkste Garantie für die Erhaltung der nationalen Selbständigkeit der demokratischen Rechten und Freiheiten nicht in dem nationalen Militarismus, sondern in der internationalen Verständigung liege. In der Presse, in Versammlungen, im Parlament, verweisen wir auf die Beschlüsse der internationalen Kongresse und besonders des Basler Kongresses. Wir stützten uns auf die feierlich gemachten Versprechungen, dass das Proletariat der Großstaaten sich niemals zur militärischen Unterdrückung der Kleinstaaten und ihrer Rechte hergeben würde. Heute erkennen wir diese Auffassung als eine Illusion, die Tatsachen haben sich anders zugetragen, als wie man es voraussetzte. Welches ist nun die Stellung der Sozial-Demokratie der kleinen Staaten in dieser neuen Situation? Die Bourgeoisie nützt den Zusammenbruch der zweiten Internationale aus, indem sie erklärt, dass der Krieg ihre Rüstungspolitik gerechtfertigt habe und man in Zukunft noch viel mehr auf die militärische Rüstung legen müsse als bisher. Diese Politik bedeutet aber nichts anderes als den Ruin des Landes, und darum sind wir vielleicht noch mehr als die Arbeiter der Großstaaten gezwungen, die Wiederherstellung der internationalen Beziehungen schleunigst anzustreben und nicht nur die Schaffung internationaler Verbindungen, sondern in erster Linie einer internationalen sozialistischen Arbeitsgemeinschaft und Taktik, die der Demagogie und der wahnsinnigen Politik des internationalen Kapitalismus standhält, und aus diesem Grunde, weil die Haltung der sozialistischen Partei des einen Landes heute auch die Lebensexistenz der sozialistischen Parteien des andern Landes aufs Tiefste berührt, nehmen wir uns das Recht heraus und leiten die Pflicht davon ab, es anzuwenden, indem wir in unserer Kritik nicht halt machen an den Grenzpfählen, sondern mithelfen, alle die Elemente zu fassen, die den Grundsätzen des Sozialismus und der Internationale treu geblieben sind. Dadurch allein sind wir im Stande, die Interessen des Proletariats der neutralen Länder wahrzunehmen.9 (Erklärung Platten. Schweizerische Partei nicht engagiert von der Mission Greulichs in Italien. – Platten croit pouvoir affinner que cet argent vient d'Allemagne. Deutsche Kaufleute.)10 Mitteilungen Grimm verliest eine französische Resolution zu Ehren Jaurès und aller Opfer des Militarismus.11 Martow teilt mit, dass in der Duma die S-D eine Interpellation eingebracht [hätten] betreffs der Metzeleien streikender Arbeiter in Iwanow-Wosnesensk (200 victimes). Die Dumamajorität hat die Interpellation verworfen. Sinowjew: Nicht nur Sympathie soll allen Opfern des Kapitalismus werden, sondern auch ihr Beispiel soll man befolgen. Ledebour schlägt vor, die verhafteten Dumamitglieder in der Resolution zu erwähnen. Modigliani erinnert an die Judenverfolgungen.12 Das Büro wird die Resolution entsprechend umarbeiten. Schluss der Sitzung 12 Uhr nachts. 1 Ab „. . . eine längere Diskussion" bis ,.....ist eben die Wirkung" (S. 87) wurden die fehlenden Seiten der maschinenschriftlichen Vorlage nach der handschriftlichen Fassung ergänzt. Eine dem maschinenschriftlichen Text beiliegende Notiz Grimm verweist für die fehlenden Seiten auf ein blauschriftiges Manuskript, das Lademacher jedoch nicht vorlag. Bei den hier veröffentlichten Ausführungen Axelrods handelt es sich einmal um den im handschriftlichen Protokoll von Grimm durchgestrichenen Text, zum zweiten ab: „Vor allem einige Worte . . ." (S. 85) um die von Axelrod nach der Konferenz verfertigte Neufassung. 2 Einfügung aus Protokollnotizen S. 16. 3 Protokollnotizen S. 17 hat noch: „ nur Augenblick nicht richtig". 4 Einfügung aus Protokollnotizen S. 25. 5 Ausführungen Meyers nach den Protokollnotizen S. 28: Bemerkung von Meyer: Vorwürfe von Lapinski sehr schwer, aber von Minderheit ausdrücklich geteilt. Minderheit kann nicht frei schreiben, Mehrheit ganz; poln. und russ. Mitarbeitern wird fast alles gestrichen. Zensur jetzt verschärft, nachdem W[arschau] gefallen, sogar bürg. Presse darf das Wort Polen nicht mehr gebrauchen. Man darf bloß über Polen sprechen, um zu sagen, es sei befreit v. d. deutschen Armeen. Eine Bemerkung Ledebours über die Kriegführung in Polen usw. wurde niedergeschrieben, nicht nur vom Präsidenten, sondern von der Fraktion. Jetzt eben Broschüre herausgegeben, in der sich gegen die Annexionspolitik wenden. – Meint gar keine Polemik gegen Lapinski. 6 Ausführungen Ledebours nach den Protokollnotizen S. 28: „Richtet sich gegen den Vorwurf, dass auch die Minorität zu den Annexionsplänen geschwiegen hat. Jedoch man kann nicht sagen, ohne neue Fraktion zu machen, und das wäre Einleitung Bruch der Partei. Er hat sich gewendet gegen die Malträtierung französisch sprechender Elsässer und erinnert, wie er zu der Frage der Kriegführung-(ordre Hindenburg, Verbrennung Dörfer) gesprochen hat. Man hat ihn Landesverräter genannt und alle Burgparteien gefordert, dass die Fraktion ihn desavouiere, und dann sind diese elenden Kerls [darüber steht]: der Fraktionsvorstand – zusammengetreten ohne ihn und haben ohne nur zu fragen, eine Resolution angenommen, in der [er] verurteilt wurde. 7 Ausführungen Rakowskis nach Protokollnotizen S. 29 f.: „Große Verwirrung. Es kamen keine Zeitungen mehr und quand ils ont entendu l'attitude du parti allemand, haben sie es nicht glauben können. Es zirkulierte viel apokryphe Literatur, so auch Artikel Jaurès. Man erzählte auch: die Partei müsse die Kredite stimmen, um 3 Milliard[en] für die Waisen und Witwen zu bekommen! Anfänglich fürchtet man, R[umänien] wird in den Krieg geschleppt werden mit den Z[entralmächten] gegen die Entente. Regierung erklärt sich für Neutralität. Haben fortwährend gearbeitet für Neutralität und Frieden. Keine Abgeordneten (Wahlrecht wie Preußen), also direkte Aktion, Versammlungen usw. Eine Art Zweikampf gegen alle bürgerlichen Parteien. Manche blutigen Konflikte gehabt bei den Straßendemonstrationen, so im Mai 50.000 Proletarier bei einer Demonstration. 10 Genossen in Untersuchungshaft. Bald ausgefunden nicht die einzigen: Italienische Sozialisten, N Slowo, Berner Tagwacht, Monatte ermutigen uns. Versuchen intern. Verständigung und Fr[iedens]aktion. Auch Verständigung mit anderen Balkansoz.: internationales Meeting in Sofia, gegen Kriegsgefahr und für Föderativrepublik Balkan – Gemeinsames Manifest Serben, Griechen, Bulgaren, Rumänen – Konferenz in Juli in Bukarest der Balkanländer: allgemeine Föderation, jetzt formen nur eine Partei (tres bien!) [Darüber geschrieben]: Manifest – Wir haben Bericht über dieses Manifest Konferenz in Humanité, vermisst das Wort neutral. Jetzt über die Aktion der Serben: ihre Deputierten stimmen gegen den Krieg, obwohl vorgestellt als Defensivkrieg, jedoch auch ihre Regierung schuld, wollen keine Solidarität. – Ihre letzte Deklaration gegen diesen Block der Balkanländer, den die Entente will, weil ein Werkzeug des Krieges. – Die Föderativrepublik jedoch steht für den Frieden." 8 Einfügung aus dem handschriftlichem Text S. 70. 9 Nach Protokollnotizen, S. 32 ff. lautet dieser Passus: Schweiz – Die Stellung der Partei. – Jedoch nicht die Schlüsse gezogen aus ihren … Hervorgegangen aus kl[ein]bürg. Bewegung. Genossen viel Ehrfurcht für das Ausland – Greulich – PV beschlossen: sie nicht offiziell an der Konferenz zu beteiligen – aber jede Person – weshalb sie teilnehmen. Haben Interesse daran, Stellung zu nehmen zu den ausl. Bewegungen, weil diese uns wieder beeinflussen. Die Arbeiter waren auf dem Wege, sich ganz nat. Politik zuzuwenden, deshalb mussten sie die Einigkeit herzustellen suchen. Sie stehen auch auf Grundlage Beschlüsse Basels. Die Schweiz hat kein eigentl. Nat. Wirtschaftsleben, vom Ausland abhängig in Produktion und Ausfuhr. Möchten die schweizerischen Verhältnisse nicht gegen preußische vertauschen. – Lage im Begriff auf wirtschaftliche Zusammenschl. mit Deutschland kompliziert durch den Nationalismus der Deutschen Partei im Kriege. Am 3. August nicht für Kredite gestimmt, aber für die Generalvollmacht an die Regierung. In der Schweiz kein Imperialismus, sondern Objekt des Imperialismus. – Immer gegen Militärkredite gestimmt. – Partei stellt sich auf Grund Landesverteidigung, aber lehnt die bürg. Mittel ab. Die Erfahrungen des letzten Jahres: Die Defensivpolitik so verstanden, dass die Milizarmee das Land verteidigt. – Kampf um Organisierung Einfuhr. – Die deutsch-fr. Presse Bg? akzeptiert jetzt These aggressiv-defensiv Politik. Technik des Krieges hat sich gewandelt: ein kleines Land ohne Rohstoffe kann sich nur durch Koalition mit anderen Mächten verteidigen. Werden in der Zukunft auch in der Schweiz prinzipiell militärische Ausgaben verweigern müssen. Landesverteidigung im soz[ialistischen Sinne] lösen. 10 Einfügung aus Protokollnotizen, S. 33. 12 Ausführungen nach Protokollnotizen S. 34: Sinowjew: pas seulement sympathie, mais exprimer ihre Haltung gut für Arbeiterklasse. Ledebour: auch die Dumamitglieder – auch die Juden! Modigliani: demain tâcher de faire des ordres du jour. |