Zimmerwalder Linke 19150905 Vorschlag der Resolution und des Manifestes

Zimmerwalder Linke: Vorschlag der Resolution und des Manifestes

(5. September 1915)

[nach: Horst Lademacher (Hg.): Die Zimmerwalder Bewegung. I. Protokolle. Den Haag - Paris 1967, S. 117-126]

Vorschlag der Resolution über: Weltkrieg und die Aufgaben der Sozialdemokratie

Der Weltkrieg, der seit einem Jahre Europa verwüstet, ist ein imperialistischer Krieg, der um die politische und ökonomische Ausbeutung der Welt, um Absatzmärkte, Rohstoffquellen, Kapitalanlagegebiete usw. geführt wird. Er ist ein Produkt der kapitalistischen Entwicklung, die gleichzeitig die ganze Welt zur Weltwirtschaft verknüpft und selbständige, nationalstaatliche Kapitalistengruppen mit gegensätzlichen Interessen bestehen lässt.

Wenn die Bourgeoisie und die Regierungen diesen Charakter des Weltkrieges zu verhüllen suchen, indem sie behaupten, es handle sich um einen aufgedrungenen Kampf, um die nationale Unabhängigkeit, so ist das eine Irreführung des Proletariats, da der Krieg eben um die Unterdrückung fremder Völker und Länder geführt wird. Ebenso lügnerisch sind die Legenden über die Verteidigung der Demokratie in diesem Kriege, da der Imperialismus die rücksichtloseste Herrschaft des Großkapitals und die politische Reaktion bedeutet.

Die Überwindung des Imperialismus ist nur durch die Auflösung der Gegensätze möglich, die ihn erzeugt haben, das heißt durch die sozialistische Organisation der kapitalistischen Kulturkreise, wozu die objektiven Verhältnisse schon reif sind.

Beim Ausbruch des Krieges hatte die Mehrheit der Arbeiterführer diese einzig mögliche Losung dem Imperialismus nicht gegenübergestellt. Vom Nationalismus befangen, vom Opportunismus zerfressen, hat sie im Moment des Weltkrieges das Proletariat dem Imperialismus ausgeliefert, die Grundsätze des Sozialismus und damit den wirklichen Kampf um die Interessen des Proletariats preisgegeben.

Der Sozialpatriotismus und Sozialimperialismus, auf deren Standpunkt in Deutschland sowohl die offen patriotische Mehrheit der früheren sozialdemokratischen Führer, wie auch das sich oppositionell gebärdende Zentrum der Partei um Kautsky, stehen, zu dem in Frankreich und Österreich die Mehrheit, in England und Russland ein Teil der Führer (Hyndmann, die Fabier, die Trade-Unionisten, Plechanow, Rubanowitsch, die Gruppe Nasche Djelo) sich bekennen, ist für das Proletariat ein gefährlicherer Feind als die bürgerlichen Apostel des Imperialismus, da er, die Flagge des Sozialismus missbrauchend, die unaufgeklärte Arbeiterschaft irreführen kann. Der rücksichtslose Kampf gegen den Sozialimperialismus bildet die erste Vorbedingung zur revolutionären Mobilisation des Proletariats und der Wiederaufrichtung der Internationale.

Es ist die Aufgabe der sozialistischen Parteien wie der sozialistischen Oppositionen in den nunmehr sozialimperialistischen Parteien, die Arbeitermassen zum revolutionären Kampfe gegen die kapitalistischen Regierungen um die Eroberung der politischen Macht, zwecks sozialistischer Organisation der Gesellschaft, zu rufen und zu führen.

Ohne den Kampf um jeden Fuß Boden im Rahmen des Kapitalismus, um jede das Proletariat stärkende Reform aufzugeben, ohne auf irgendwelche Mittel der Organisation und Aufrüttelung zu verzichten, haben umgekehrt die revolutionären Sozialdemokraten alle die Kämpfe, alle von unserm Minimalprogramm geforderten Reformen auszunützen, um diese Kriegskrise, wie jede soziale und politische Krise des Kapitalismus zu verschärfen, zu einer Attacke auf seine Grundlagen zu erweitern. Indem dieser Kampf unter der Losung des Sozialismus geführt wird, wird er die Arbeitermassen unzugänglich machen für die Losungen der Unterdrückung eines Volkes durch das andere, wie sie in der Aufrechterhaltung der Herrschaft einer Nation über die andere, in dem Schrei nach neuen Annexionen zum Ausdruck kommen, wird er sie taub machen für die Lockungen der nationalen Solidarität, die die Proletarier auf die Schlachtfelder geführt hat.

Den Auftakt zu diesem Kampf bildet der Kampf gegen den Weltkrieg, für die schleunige Beendigung des Völkergemetzels. Dieser Kampf erfordert die Ablehnung der Kriegskredite, den Austritt aus den Ministerien, die Denunzierung des kapitalistisch-antisozialistischen Charakters des Krieges von den Tribünen der Parlamente, in den Spalten der legalen und, wo nötig, illegalen Presse, die schroffste Bekämpfung des Sozialpatriotismus und die Ausnützung jeder durch die Kriegsfolgen (Not, große Verluste usw.) verursachten Bewegungen des Volkes zur Organisation von Straßendemonstrationen gegen die Regierungen, die Propaganda der internationalen Solidarität in den Schützengräben, die Förderung der ökonomischen Streiks, das Bestreben, sie bei günstigen Bedingungen in politische zu verwandeln. „Burgkrieg, nicht Burgfriede ist die Losung!"*

Gegenüber allen Illusionen, dass es möglich wäre, durch irgendwelche Beschlüsse der Diplomatie und der Regierungen die Grundlagen eines dauernden Friedens, den Beginn der Abrüstung herbeizuführen, haben die revolutionären Sozialdemokraten den Volksmassen immer wieder zu sagen, dass nur die soziale Revolution den dauernden Frieden wie die Befreiung der Menschheit verwirklichen kann.

Vorschlag des Manifestes

Der Krieg dauert schon über ein Jahr. Millionen Leichen bedecken die Schlachtfelder, Millionen Krüppel bleiben ihr Leben lang eine Last für sich und die Gesellschaft. Ungeheuer ist die Verwüstung, die der Krieg verursachte, die Steuerlast, die er hinterlassen wird.

Die Kapitalisten aller Länder, die aus dem vergossenen Blut des Proletariats das rote Gold der ungeheuren Kriegsprofite schlagen, fordern die Volksmassen zum Ausharren auf. Sie sagen, der Krieg diene der Verteidigung des Vaterlandes, der Demokratie aller Länder. Sie lügen! Die Kapitalisten keines Landes sind in den Krieg getreten, weil ihr Land in seiner Unabhängigkeit bedroht war, weil sie irgendein Volk befreien wollten. Sie haben die Massen auf die Schlachtbank geführt, weil sie die Völker der Ausbeutung und Unterdrückung unterwerfen wollen. Sie konnten sich darüber nicht einigen, wie sie die noch unabhängigen Völker Asiens und Afrikas unter sich aufteilen, sie beargwöhnten sich gegenseitig, dass jedes dem andern die schon gemachte Beute entreißen könnte.

Nicht wegen der eigenen Freiheit, nicht wegen der Befreiung anderer Völker bluten die Volksmassen in allen Teilen des großen Schlachthauses, das sich Europa nennt. Neue Lasten, neue Ketten wird dieser Krieg dem Proletariat Europas und den Völkern Asiens und Afrikas bringen.

Darum gilt es, in diesem völkermordenden Kriege nicht auszuharren, sondern umgekehrt alle Kräfte zu sammeln, um ihm ein Ende zu bereiten. Die Stunde dazu hat schon geschlagen. Den ersten Schritt in eurem Kampfe muss die Forderung bilden, dass die sozialistischen Abgeordneten, die ihr zur Bekämpfung des Kapitalismus, des Militarismus, der Volksausbeutung in die Parlamente gesandt habt, ihre Pflicht erfüllen. Dass sie, mit Ausnahme der russischen, serbischen, italienischen sozialistischen Deputierten und der Abgeordneten Liebknecht und Rühle bisher diese Pflicht mit den Füßen getreten haben, der Bourgeoisie in ihrem Raubkriege halfen oder schwankend sich der Verantwortung entzogen haben, entweder ihre Mandate niederlegen oder die parlamentarische Tribüne ausnützen, um das Volk über den Charakter des Krieges aufzuklären, außerhalb des Parlaments der Arbeiterklasse helfen, den Kampf aufzunehmen: die Ablehnung aller Kriegskredite, der Austritt aus den Ministerien in Frankreich, Belgien und England, das ist die erste Forderung.

Aber das genügt nicht. Die Abgeordneten können euch nicht retten vor dem reißenden Tier, dem Weltkrieg, der euer Blut trinkt. Ihr müsst selbst auf den Plan treten. Ihr müsst alle eure Organisationen und Blätter zum Aufrütteln der breitesten, unter den Lasten des Krieges seufzenden Volksmassen ausnützen, um sie zur Auflehnung gegen den Krieg zu bringen. Ihr müsst auf die Straßen gehen, den Herrschenden euren Ruf: genug der Metzelei! in die Ohren gellen. Wenn sich die Herrschenden taub stellen, dann werden ihn die unaufgeklärten, aber unzufriedenen Volksmassen hören, in eure Reihen eilen, um am Kampfe teilzunehmen.

Es gilt, den sofortigen Abbruch des Krieges mit Ungestüm zu fordern, es gilt die Stimme zu erheben gegen die Unterdrückung eines Volkes durch das andere, gegen das Zerschlagen von Nationen in Teile, wie sie jede kapitalistische Regierung vornehmen wird, wenn sie siegt und den Frieden den andern diktieren können wird. Denn lassen wir den Kapitalisten freie Hand beim Friedensschluss, wie sie den Krieg ohne die Volksmassen zu befragen beschlossen hatten, dann werden die neuen Eroberungen nicht nur die Polizeifaust, die Reaktion selbst im siegreichen Lande stärken, sondern die Samen neuer, noch schrecklicherer Kriege ausstreuen.

Die Niederwerfung der kapitalistischen Regierung, das muss das Ziel sein, das sich die Arbeiterklasse in allen kriegführenden Ländern stecken muss, denn nur dann wird der Unterdrückung eines Volkes durch das andere, den Kriegen ein Ende bereitet, wenn die Macht dem Kapital entrissen wird, über Leben und Tod der Völker zu beschließen. Nur die von Not und Elend, von der Herrschaft des Kapitals befreiten Völker werden imstande sein, ohne Krieg, freundschaftlich, im Wege der Verständigung, ihre gegenseitigen Verhältnisse zu gestalten.

Groß ist das Ziel, das wir euch zeigen, groß werden die Anstrengungen, die ihr machen, groß werden die Opfer sein, die ihr bringen müsst, bevor es erreicht wird. Lang ist der Weg, der euch von dem Siege trennt. Die friedlichen Druckmittel werden nicht reichen, um den Feind auf die Knie zu zwingen. Aber nur, wenn ihr entschlossen seid, einen Teil der unermesslichen Opfer, die ihr für das Kapital auf den Schlachtfeldern bringt, für die eigene Befreiung im Kampfe gegen das Kapital zu bringen, werdet ihr imstande sein, dem Krieg ein Ende zu bereiten, wirkliche Grundlagen für den dauernden Frieden zu legen, der euch Sklaven des Kapitals in freie Menschen verwandelt. Lasst ihr euch durch die lügnerischen Phrasen der Bourgeoisie und der sie unterstützenden sozialistischen Parteien von energischem Kampfe zurückhalten, begnügt ihr euch mit Friedensseufzern, ohne gewillt zu sein, auf Biegen und Brechen zu gehen, eure Leiber und Seelen für die Sache einzusetzen, nun, dann wird das Kapital euer Blut und Gut solange vergeuden, wie es ihm gefällt. In allen Ländern wächst mit jedem Tag die Zahl jener Arbeiter, die so denken wie wir. In ihrem Auftrag haben wir uns, Vertreter verschiedener Länder, versammelt, um an euch diesen Ruf zum Kampfe zu richten. Wir wollen ihn führen, gemeinsam sich unterstützen, denn uns trennen keine Gegensätze. Es gilt, dass die revolutionären Arbeiter eines jeden Landes es als ihr Ehrenrecht und ihre Pflicht betrachten, den andern in diesem Kampfe ein Vorbild zu sein, ein Vorbild der Energie, Opferfreudigkeit. Nicht ängstliches Warten auf das, was die andern tun, sondern das Mitreißen durch Beispiel, das ist der Weg, auf dem eine mächtige Internationale entstehen wird, die dem Kriege und Kapitalismus ein Ende bereitet.

Die beiden Entwürfe wurden unterzeichnet von den Delegationen des Zentralkomitees der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, Landesvorstandes der Sozialdemokratie Russisch-Polens und Litauens, Zentralkomitees der Sozialdemokratie Lettlands, Schwedischen und norwegischen sozialdemokratischen Ungdomsforbund, von einem Vertreter der revolutionären Sozialdemokraten Deutschlands und einem Schweizer Delegierten.**

* Diese Worte sind dem Briefe eines hervorragenden Führers der deutschen Opposition an die Zimmerwalder Konferenz entnommen.

** Wie wir eben erfahren, stellt sich die unlängst gegründete Gruppe der „Internationalen Sozialisten Deutschlands" (I. S. D.) auf den Boden der Zimmerwalder Linken. [Fußnote der Veröffentlichung in den Internationalen Flugblättern (IF) Nr. 1, November 1915]

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