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4. Resolution zur Frage des Versailler Friedensvertrages

Resolution zur Frage des Versailler Friedensvertrages.

Der Weltkrieg endete mit dem Sturz dreier imperialistischer Mächte: Deutschlands, Österreich-Ungarns und Russlands. Vier große Räuberstaaten blieben siegreich auf dem Kampfplatze: die Vereinigten Staaten von Amerika, England, Frankreich und Japan.

Die Friedensverträge, deren Kern der Versailler Friedensvertrag bildete, stellen den Versuch dar, die Weltherrschaft dieser vier siegreichen Mächte politisch und wirtschaftlich zu stabilisieren, indem die ganze übrige Welt zu ihrem kolonialen Ausbeutungsgebiet herabgedrückt wird; sozial, indem die Herrschaft der Bourgeoisie sowohl gegenüber dem Proletariat des eigenen Landes als gegenüber dem siegreichen, revolutionären Proletariat Russlands durch ein Bündnis der Bourgeoisien aller Länder gesichert wird. Zu diesem Zwecke wurde ein Wall von kleinen Vasallenstaaten um Russland errichtet und bewaffnet, um bei passender Gelegenheit Sowjetrussland zu erwürgen. Die besiegten Staaten sollten außerdem die im Kriege erlittenen materiellen Schäden der Siegerstaaten voll und ganz ersetzen.

Heute ist es jedermann klar, dass alle Voraussetzungen, auf die sich die Friedensverträge aufbauen, unrichtig waren. Der Versuch, ein neues Gleichgewicht auf kapitalistischer Grundlage zu errichten, ist misslungen. Die Geschichte der letzten vier Jahre zeigt ein fortwährendes Schwanken, eine ständige Unsicherheit, Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit und Mehrarbeit, Ministerkrisen, Parteikrisen, außenpolitische Krisen. In einer ganzen Reihe von Konferenzen versuchten die imperialistischen Mächte den Zerfall des durch die Friedensverträge aufgebauten Weltsystems aufzuhalten und die Tatsache des Bankrottes des Versailler Friedens zu verhüllen.

Die Versuche, in Russland die Diktatur des Proletariats zu stürzen, sind gescheitert. Das Proletariat aller kapitalistischen Länder nimmt immer entschiedener für Sowjetrussland Stellung. Selbst die Führer der Amsterdamer Internationale mussten es offen erklären, dass der Fall der proletarischen Herrschaft in Russland den Sieg der Weltreaktion gegenüber dem gesamten Proletariat bedeuten würde.

Die. Türkei als Vorhut des sich revolutionierenden Ostens hat der Durchführung des Friedensvertrages mit Waffengewalt erfolgreichen Widerstand geleistet: Auf der Konferenz von Lausanne findet das feierliche Begräbnis eines wichtigen Teiles des Friedenswerkes statt.

Die anhaltende Wirtschaftskrise hat den Beweis erbracht, dass die wirtschaftliche Konzeption des Versailler Friedensvertrages unhaltbar ist. Die führende europäische imperialistische Macht, England, das im höchsten Grade auf den Welthandel angewiesen ist, kann seine wirtschaftliche Basis ohne eine Wiederaufrichtung Deutschlands und Russlands nicht konsolidieren. Die Vereinigten Staaten, die stärkste imperialistische Macht, haben sich vom Friedenswerk völlig abgewendet und suchen auf eigene Faust ihren Weltimperialismus aufzurichten. Sie haben hierzu die Unterstützung wichtiger Teile des englischen Weltreiches — Kanadas, Australiens — gewonnen.

Die unterdrückten Kolonien Englands, die Grundlage seiner Weltmacht, rebellieren; die ganze mohammedanische Welt ist in offenem oder latentem Aufruhr.

Alle Voraussetzungen des Friedenswerkes sind hinfällig geworden, bis auf die eine: dass das Proletariat aller bürgerlichen Länder die Lasten des Krieges und des Versailler Friedens zu bezahlen habe.

Frankreich.

Scheinbar hat Frankreich von allen Siegerstaaten den größten Machtzuwachs erhalten. Außer der Eroberung von Elsass-Lothringen, der Besetzung des linken Rheinufers, des Anspruches auf ungezählte Milliarden deutscher Kriegsentschädigung ist es tatsächlich die stärkste Militärmacht des europäischen Kontinents geworden. Mit seinen Vasallenstaaten, deren Armeen von französischen Generälen geschult und geführt werden (Polen, Tschechoslowakei, Rumänien), mit seinem eigenen großen Heere, mit seinen Unterseekreuzern und seiner Luftflotte beherrscht es den europäischen Kontinent; es spielt die Rolle des Wächters des Versailler Friedensvertrages. Aber die ökonomische Basis Frankreichs. seine geringe und sich vermindernde Bevölkerung, seine ungeheuere innere und äußere Verschuldung und die dadurch entstandene wirtschaftliche Abhängigkeit von England und Amerika geben kein genügendes Fundament für seine uferlosen imperialistischen Ausdehnungsgelüste. In machtpolitischer Beziehung ist es durch die Beherrschung aller wichtigen Seestützpunkte durch England und durch das Petroleummonopol Englands und Amerikas ungemein beengt. In wirtschaftlicher Beziehung ist der Zuwachs an Eisenerzen, den ihm der Versailler Friedensvertrag brachte, dadurch entwertet, dass die dazugehörige Kohle aus dem Ruhrgebiet bei Deutschland verblieb. Die Hoffnung, die zerrütteten französischen Finanzen durch die Reparationszahlungen Deutschlands in Ordnung zu bringen, hat sich als trügerisch erwiesen. Alle Finanzsachverständigen der Welt sind darin einig, dass Deutschland jene Summen, die Frankreich zur Sanierung seiner Finanzen braucht, unmöglich bezahlen kann. Nur der Weg der Herabdrückung der Lebenshaltung des französischen Proletariats auf das Niveau des deutschen bleibt für die französische Bourgeoisie offen. Die Hungersnot des deutschen Arbeiters ist das Vorbild des morgigen Elends der französischen Arbeiter. Die Entwertung des Francs, die von gewissen Kreisen der französischen Schwerindustrie bewusst gefördert wird, wird das Mittel sein, die Lasten des Krieges — nachdem das Versailler Friedenswerk sich als unbrauchbar erwiesen hat — auf die Schultern des französischen Proletariats abzuwälzen.

England.

Der Weltkrieg brachte England die Vereinheitlichung seines kolonialen Weltreiches vom Kap der Guten Hoffnung über Ägypten und Arabien bis nach Indien. Es hat alle wichtigen Zugänge zum Weltmeer weiter im Besitz behalten. Durch Konzessionen an seine Siedlungskolonien suchte es ein angelsächsisches Weltimperium aufzubauen.

Aber trotz aller Schmiegsamkeit der englischen Bourgeoisie, trotz der zähen Arbeit zur Wiedereroberung des Weltmarktes ergab es sich, dass in der vom Versailler Friedensvertrag geschaffenen Weltlage ein Fortkommen Englands unmöglich ist. Der englische Industriestaat kann nicht existieren, wenn Deutschland und Russland wirtschaftlich nicht wiederhergestellt werden. In diesem Punkte verschärft sich der Gegensatz zwischen England und Frankreich: England will Waren nach Deutschland verkaufen, was der Versailler Vertrag unmöglich macht: Frankreich will von Deutschland Riesensummen für Kriegskosten eintreiben, was die Kauffähigkeit Deutschlands zugrunde richtet. Daher ist England für den Abbau der Reparationsverpflichtungen, während Frankreich im Nahen Osten einen verhüllten Krieg gegen England führt, um es in der Reparationsfrage zur Nachgiebigkeit zu zwingen. Während das englische Proletariat in der Form von Millionen von arbeitslosen Arbeitern die Kriegslasten trägt, einigt sich die Bourgeoisie Englands und Frankreichs immer wieder auf Kosten Deutschlands.

Mitteleuropa und Deutschland.

Das wichtigste Objekt des Versailler Friedenswerkes ist Mitteleuropa, das neue Kolonialgebiet der imperialistischen Räuber. Zerklüftet in unzählige kleine Staaten, in eine Reihe von wirtschaftlich nicht lebensfähigen Gebieten geteilt, sind diese Gebiete zu einer selbständigen Politik unfähig geworden. Sie sind zu Kolonien des englischen und französischen Kapitals herabgesunken. Sie werden je nach den wechselnden Interessen dieser Großmächte gegeneinander gehetzt. Die Tschechoslowakei, aus einem Wirtschaftsgebiet von 60 Millionen Menschen herausgeschnitten, befindet sich in einer ständigen Wirtschaftskrise. Österreich ist zu einem lebensunfähigen Gebilde zusammengeschrumpft, das nur infolge der gegenseitigen Eifersucht der Nachbarländer scheinbar eine politisch selbständige Existenz führt. Polen, welchem große, fremdsprachige Gebiete zugeteilt wurden, ist der vorgeschobene Posten Frankreichs, eine Karikatur des französischen Imperialismus. In allen diesen Ländern hat das Proletariat in der Form der Herabsetzung seiner Lebenshaltung oder in starker Arbeitslosigkeit die Kosten des Krieges zu zahlen.

Das wichtigste Objekt des Versailler Friedensvertrages ist aber Deutschland. Entwaffnet, jeder Verteidigungsmöglichkeit beraubt, ist es den imperialistischen Mächten auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Die deutsche Bourgeoisie versucht, ihre Interessen bald mit jenen der Bourgeoisie Englands, bald mit denen Frankreichs zu verbinden. Sie trachtet durch scharfe Ausbeutung des deutschen Proletariats einen Teil der Ansprüche Frankreichs zu befriedigen und zugleich ihre eigene Herrschaft gegenüber dem deutschen Proletariat mit fremder Hilfe zu sichern. Aber selbst die stärkste Ausbeutung des deutschen Proletariats, die Herabdrückung des deutschen Arbeiters zum Kuli Europas, das ungeheure Elend, in welches das Proletariat Deutschlands infolge des Versailler Friedensvertrages gesunken ist, ergibt noch immer nicht die Möglichkeit, die Reparationszahlungen zu leisten. Deutschland wird daher zum Spielball Englands und Frankreichs. Die französische Bourgeoisie will durch Besetzung des Ruhrgebietes die Frage mit Gewaltanwendung lösen. England stellt sich dem immer wieder entgegen. Nur die Mithilfe der größten Wirtschaftsmacht, der Vereinigten Staaten, hätte es ermöglicht, die widerstrebenden Interessen Englands, Frankreichs und Deutschlands annähernd auszugleichen.

Die Vereinigten Staaten von Amerika.

Die Vereinigten Staaten haben sich aber längst vom Versailler Friedenswerk zurückgezogen, indem die Ratifizierung des Vertrages verweigert wurde. Die Vereinigten Staaten, die aus dem Weltkriege als die stärkste wirtschaftliche und politische Macht hervorgingen, denen gegenüber die europäischen imperialistischen Mächte in eine starke Verschuldung gerieten, zeigten keine Lust, durch weitere große Kredite an Deutschland die Möglichkeit zu schaffen, die Finanzkrise Frankreichs zu überwinden. Das Kapital der Vereinigten Staaten wendet sich immer mehr vom europäischen Chaos ab, sucht sich mit großem Erfolge in Mittel- und Südamerika und im Fernen Osten ein großes Kolonialreich aufzubauen und durch die Schutzzölle die Ausbeutung des inneren Marktes für die eigene herrschende Klasse zu sichern. Indem es auf diese Weise Kontinentaleuropa seinem Schicksal überlässt, stößt es auf der anderen Seite auf die gegenteiligen Interessen Englands und Japans. Die Vereinigten Staaten haben durch Einsetzung ihrer wirtschaftlichen Übermacht im Bau von Kriegsschiffen die anderen imperialistischen Mächte zum Washingtoner Abkommen gezwungen. Sie haben damit eine der wichtigsten Grundlagen des Versailler Friedenswerkes: die Übermacht Englands auf dem Weltmeere zerstört und dadurch das Festhalten an der dort vorgesehenen Mächtegruppierung für England sinnlos gemacht.

Japan und die Kolonien.

Die jüngste imperialistische Weltmacht, Japan, hält sich von dem europäischen Chaos das der Versailler Friedensvertrag schuf, fern. Aber seine Interessen wurden durch die Entwicklung der Vereinigten Staaten zu einer Weltmacht stark berührt. Es wurde in Washington gezwungen, sein Bündnis mit England zu lösen, womit wieder eine der wichtigsten Grundlagen der in Versailles geschaffenen Weltaufteilung wegfiel. Gleichzeitig rebellieren nicht nur die unterdrückten Völker gegen die Vorherrschaft Englands und Japans, sondern auch die Siedlungskolonien Englands suchen ihre Interessen in dem bevorstehenden Kampfe zwischen den Vereinigten Staaten und Japan durch einen engeren Anschluss an die Vereinigten Staaten zu sichern. Das Gefüge des britischen Weltimperialismus wird hierdurch immer mehr gelockert.

Einem neuen Weltkrieg entgegen.

Der Versuch der imperialistischen Großmächte, eine ständige Grundlage ihrer Weltherrschaft zu schaffen, ist an ihren widerstrebenden Interessen kläglich gescheitert. Das große Friedenswerk liegt in Trümmern. Die Großmächte rüsten mit ihren Vasallenstaaten zu einem neuen Kriege. Der Militarismus ist stärker als je. Und obwohl die Bourgeoisie eine gewaltige Furcht vor einer neuen proletarischen Revolution im Gefolge eines Weltkrieges hat, treiben die inneren Gesetze der bürgerlichen Gesellschaftsordnung doch unaufhaltsam einem neuen Weltkonflikt entgegen.

Die Aufgaben der Kommunistischen Parteien.

Die 2. und 2½ Internationale bemühen sich, den radikalen Flügel der Bourgeoisie, welcher vor allem die Interessen des Handels- und Bankkapitals vertritt, in seinem kraftlosen Kampfe um den Abbau der Reparationsverpflichtungen zu unterstützen. Sie gehen, wie in jeder Frage, auch hierin mit der Bourgeoisie zusammen. Die Aufgabe der kommunistischen Parteien, in erster Linie jener der Siegerländer ist es, den Massen klar zu machen, dass das Versailler Friedenswerk alle Lasten — sowohl in den Sieger- wie in den besiegten Ländern, auf die Schultern des Proletariats abwälzt, dass die Proletarier aller Länder die wirklichen Opfer des Friedenswerkes der Bourgeoisie sind. Auf dieser Grundlage müssen die kommunistischen Parteien, vor allem jene Deutschlands und Frankreichs, einen gemeinsamen Kampf gegen den Versailler Friedensvertrag führen. Die deutsche Kommunistische Partei muss die Bereitschaft des• deutschen Proletariats betonen, die Proletarier und Bauern im verwüsteten Norden Frankreichs beim Wiederaufbau ihres Heims zu unterstützen, gleichzeitig einen scharfen Kampf gegen die eigene Bourgeoisie führen, die bereit ist, gemeinsam mit der französischen Bourgeoisie (Stinnesvertrag) auf Kosten des deutschen Proletariats Erfüllungspolitik zu treiben und Deutschland als Kolonie an die französische Bourgeoisie auszuliefern, wenn nur ihre Klasseninteressen gewahrt bleiben. Die französische Kommunistische Partei muss mit aller Kraft gegen die imperialistischen Bestrebungen ihrer Bourgeoisie, gegen den Versuch, durch weitere verschärfte Ausbeutung des deutschen Proletariats die französische Bourgeoisie zu bereichern, für sofortige Aufhebung der Okkupation des linken Rheinufers, gegen die Besetzung des Ruhrgebietes, gegen die Zerstückelung Deutschlands, gegen den französischen Imperialismus kämpfen. Heute genügt es nicht, in Frankreich gegen die Vaterlandsverteidigung zu kämpfen: heute gilt es, den Versailler Frieden auf Schritt und Tritt zu bekämpfen. Der tschechoslowakischen, polnischen Partei und den kommunistischen Parteien der anderen Vasallenländer Frankreichs fällt die Pflicht zu, den Kampf gegen die eigene Bourgeoisie mit dem Kampf gegen den französischen Imperialismus zu verbinden. Durch gemeinsam geführte Massenaktionen muss es dem Proletariat klar gemacht werden, dass der Versuch einer Durchführung des Versailler Friedensvertrages das Proletariat ganz Europas in das tiefste Elend herabdrücken muss und dass der Kampf dagegen das gemeinsame Interesse des Proletariats aller Länder ist.


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