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Wladimir I. Lenin 19001229 Aufzeichnung vom 29. Dezember 1900

Wladimir I. Lenin: Aufzeichnung vom 29. Dezember 19001

[Zum ersten Mal veröffentlicht 1924 im Lenin-Sammelbuch Nr. 1. Nach Sämtliche Werke, Band 4, Wien-Berlin 1928, S. 69-71]

29. XII. 1900, Sonnabend, 2 Uhr nachts

Ich möchte meine Eindrücke von der heutigen Unterhaltung mit dem „Zwilling"2 niederschreiben. Es war eine bemerkenswerte und in ihrer Art „historische" Zusammenkunft (Arsenjew, Welika3, der Zwilling, Fr.4 und ich), eine historische wenigstens in meinem Leben, die die Bilanz, wenn nicht einer Epoche, so doch eines ganzen Lebensabschnittes gezogen und für lange das Verhalten und den Lebensweg bestimmt hat.

Auf Grund der von Arsenjew ursprünglich gegebenen Darstellung der Dinge glaubte ich, dass der „Zwilling" zu uns komme und seinerseits Schritte unternehmen wolle – aber das Gegenteil war der Fall. Wahrscheinlich kam dieser seltsame Irrtum daher, dass Arsenjew gar zu gern das haben wollte, womit der Zwilling „lockte", nämlich politisches Material, Korrespondenzen usw., „und was man sich wünscht, daran glaubt man gern", und Arsenjew glaubte an die Möglichkeit dessen, womit der Zwilling ihn lockte, er wollte an die Aufrichtigkeit des Zwillings glauben, an die Möglichkeit eines anständigen „modus vivendi"5 mit ihm.

Und gerade diese Zusammenkunft hat einen solchen Glauben endgültig und unwiderruflich zunichte gemacht. Der Zwilling zeigte sich von einer ganz neuen Seite, und zwar als „Politiker" reinsten Wassers, als Politiker im schlimmsten Sinne dieses Wortes, als Politikaster, abgefeimter Schuft, Krämer und frecher Kerl. Er kam, vollkommen überzeugt von unserer Ohnmacht – so formulierte Arsenjew selber das Ergebnis der Verhandlungen, und diese Formulierung war absolut richtig. Der Zwilling kam im Glauben an unsere Ohnmacht, er erschien, um uns Kapitulationsbedingungen vorzuschlagen, und er tat dies in einer außerordentlich geschickten Form, ohne auch nur ein scharfes Wort fallen zu lassen, aber er verriet dennoch, welche ordinäre Krämernatur eines Dutzendliberalen sich unter dieser eleganten, zivilisierten Hülle des allerneuesten „Kritikers" verbarg.

Auf meine Fragen (mit denen der geschäftliche Teil des Abends begann), weshalb er, der Zwilling, nicht einfach unser Mitarbeiter sein wolle, erwiderte er mit aller Entschiedenheit, dass es für ihn psychologisch unmöglich sei, an einer Zeitschrift mitzuarbeiten, in der man „kein gutes Haar an ihm lasse" (sein wörtlicher Ausdruck) , dass wir doch nicht glauben könnten, wir dürften ihn beschimpfen, er aber werde uns „politische Aufsätze schreiben" (wörtlich!), dass von einer Mitarbeit nur unter der Bedingung voller Gleichberechtigung die Rede sein könnte (d. h. anscheinend der Gleichberechtigung von Kritikern und Orthodoxen), dass nach der Ankündigung sein Genosse und Freund6 mit Arsenjew nicht einmal mehr zusammentreffen wollte, dass seine, des Zwillings, Stellung durch die Ankündigung weniger oder sogar überhaupt nicht beeinflusst sei, sondern sich vielmehr daraus ergebe, dass er sich früher auf die Rolle einer „wohlwollenden Unterstützung" beschränken wollte, jetzt aber nicht mehr die Absicht habe, sich damit zu begnügen, sondern Redakteur (der Zwilling sagte es fast wörtlich so!!) sein wolle. Das brachte der Zwilling nicht mit einem Male vor, die Verhandlungen über seine Mitarbeit zogen sich ziemlich in die Länge (viel zu sehr, nach Arsenjews und Welikas Meinung) , aber sie zeigten mit aller Klarheit, dass mit diesem Gentleman nichts zu machen war.

Dann begann er, auf seinem Vorschlag zu bestehen: warum sollte man kein drittes politisches Organ mit gleichen Rechten schaffen, das wäre für ihn wie für uns von Vorteil (Material für die Zeitung, einiges würden wir von den dazu gegebenen Mitteln „profitieren") , er sei der Meinung, dass auf dem Umschlag nichts Sozialdemokratisches stehen sollte, nichts, was auf unsere Firma hinweisen könnte, und dass wir (nicht formell, sondern moralisch) verpflichtet seien, diesem Organ auch unser gesamtes allgemeinpolitisches Material zur Verfügung zu stellen.

Die Sache wurde völlig klar und ich sagte offen, dass von der Gründung eines dritten Organs keine Rede sein könne, dass die Sache hier auf die Frage hinauslaufe, ob die Sozialdemokraten den politischen Kampf führen sollen oder ob es die Liberalen selbständig, sich selbst genügend, tun sollten (ich habe mich klarer, bestimmter und präziser ausgedrückt). Der Zwilling verstand, wurde wütend und erklärte, dass, nachdem ich mich mit anerkennenswerter Klarheit7 (er drückte sich wörtlich so aus!) ausgesprochen hätte, davon keine Rede mehr sein könne, sondern man müsse jetzt von den Bestellungen reden, – von den Bestellungen der Sammelbände. Das wäre dasselbe dritte Organ (warf ich ein). Nun, dann von der Bestellung der vorhandenen Broschüre, erklärte der Zwilling. Welcher? fragte ich. Wozu braucht man das zu wissen, antwortete Fr. in unverschämtem Ton. Wenn ihr dem im Prinzip zustimmt, dann werden wir beschließen, wenn nicht, wozu braucht ihr es dann zu wissen. Ich fragte nach den Bedingungen des Druckes. Herausgegeben von N. N. und weiter nichts, eure Firma darf nicht erwähnt werden, außer dem Verlag darf nichts auf eine Verbindung mit eurer Firma hindeuten – erklärte der Zwilling. Ich machte auch dagegen Einwendungen und verlangte, dass unsere Firma genannt werde, Arsenjew widersprach mir und das Gespräch brach ab.

Schließlich kam man überein, die Beschlussfassung aufzuschieben. – Arsenjew und Welika redeten dem Zwilling noch zu, verlangten von ihm Erklärungen, stritten, ich schwieg meist, lachte (so, dass der Zwilling es deutlich sah) und die Unterhaltung war bald beendet.

1 Die Notiz bezieht sich auf Verhandlungen, in München am 29. Dezember 1900, zwischen der „Iskra" (Lenin, Potressow, Sassulitsch) und der „Demokratischen Opposition" (der Keimzelle der politischen Organisation der russischen liberalen Bourgeoisie, die später die „Oswoboschdenje" und dann die Konstitutionell-Demokratische Partei schuf), vertreten durch P. Struve, über die Bedingungen der Zusammenarbeit Struves und seiner Gruppe mit der revolutionären Sozialdemokratie. Die Verhandlungen dauerten den ganzen Januar 1901 hindurch, wobei in der ersten Januarhälfte auch P. Axelrod und G. Plechanow zur Beratung über die Bedingungen des Abkommens für einige Tage nach München kamen.

Struve, der gute Verbindungen in den Kreisen der bürgerlichen Intellektuellen hatte, von denen er Material zu „Enthüllungen" gegen den Zarismus im Überfluss erhalten konnte, lehnte es ab, einfacher Mitarbeiter der „Iskra" zu sein, und schlug vor, neben der „Sarja" und der „Iskra" noch ein drittes Organ – „Sowremennoje Obosrenje" („Die moderne Rundschau") herauszugeben. Lenin, der keine prinzipiellen Einwände gegen einen Block mit Struve und gegen die Herausgabe des „Sowremennoje Obosrenje" als Beilage zur „Sarja" machte, bestand jedoch auf der vollständigen Freiheit der Redaktion der „Iskra", das gesamte Material auszunutzen, das von Struve für das „Sowremennoje Obosrenje" einlief. Lenin verlangte ferner, dass das „Sowremennoje Obosrenje" nicht häufiger erscheinen solle als die „Sarja". Unter diesen Bedingungen hätten die Sozialdemokraten die führende Rolle in dem Block behalten und Struve wäre der Möglichkeit beraubt worden, durch Verdrängung der „Iskra" und der „Sarja" auf einen hinteren Plan, seine politische Linie durchzuführen und zu propagieren. Der Plan Struves, der für „Gleichberechtigung" und volle Autonomie eintrat, lief gerade darauf hinaus, die Hegemonie der Sozialdemokraten im Block zu beseitigen und der Redaktion der „Iskra" eine Reihe von technischen Funktionen im Dienste des von Struve herausgegebenen „Sowremennoje Obosrenje" aufzuerlegen.

Am 30. Januar 1901 fand in München eine Beratung statt (Lenin, Potressow, Sassulitsch, Axelrod, Struve und dessen Frau N. A. Struve), auf der sich die Mehrzahl der „Iskra"-Leute – gegen die Stimme Lenins – für eine Verständigung mit Struve auf der Grundlage der von diesem vorgeschlagenen Bedingungen aussprach. Lenin protestierte in aller Form gegen diesen Beschluss und wandte sich um Unterstützung an den in der Beratung nicht anwesenden Plechanow, dem er den Bruch mit Struve vorschlug. Plechanow aber unterstützte Lenin nicht und erklärte sich einverstanden mit den übrigen Mitgliedern der „Iskra"-Redaktion. Die Verhandlungen mit Struve wurden fortgesetzt (bis März), und beide Seiten arbeiteten Entwürfe von Erklärungen aus, die die Arbeitsgemeinschaft der „Sarja" und der „Demokratischen Opposition" erklären und begründen sollten. In der Erklärung der Redaktion der „Sarja", die von Plechanow verfasst war, hieß es u. a.: „… die Redaktion der ,Sarja' schreitet zur Herausgabe einer allgemein-politischen Beilage zu ihrer Zeitschrift, und zwar in Gemeinschaft mit den Vertretern der demokratischen Opposition, die als gleichberechtigte Mitglieder der Redaktion zu betrachten sind…" Aus zufälligen Gründen sind die Erklärungen Plechanows und Struves nicht rechtzeitig veröffentlicht worden; kurze Zeit darauf aber wurden die Verhandlungen mit Struve überhaupt abgebrochen, und die Wege der revolutionären Sozialdemokratie und Struves gingen endgültig auseinander.

2 „Der Zwilling" – P. B. Struve.

3 „Welika" – V. I. Sassulitsch.

4 „Fr." – die Frau P. Struves, N. A. Struve.

5 Art und Weise des Nebeneinanderlebens. Die Red.

6 „Genosse und Freund" – M. I. Tugan-Baranowski.

7 Die Worte „anerkennenswerter Klarheit" auch im Original bei Lenin deutsch. Die Red.

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