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Wladimir I. Lenin 19001200 Der China-Krieg

Wladimir I. Lenin: Der China-Krieg

[„Iskra" Nr. 1, Dezember 1900. Nach Sämtliche Werke, Band 4, Wien-Berlin 1928, S. 60-66]

Der Krieg Russlands gegen China geht seinem Ende zu: eine ganze Reihe von Militärbezirken ist mobilisiert, Hunderte Millionen Rubel sind verausgabt, Zehntausende von Soldaten sind nach China geschickt, eine Reihe von Gefechten hat stattgefunden, eine Reihe von Siegen wurde erfochten, – von Siegen allerdings nicht so sehr über die regulären Truppen des Feindes, wie über die chinesischen Aufständischen und noch mehr über unbewaffnete Chinesen, die man ertränkte oder totschlug, ohne haltzumachen vor der Tötung von Kindern und Frauen, ganz zu schweigen von der Plünderung von Palästen, Häusern und Läden. Und die russische Regierung, im Verein mit den vor ihr auf dem Bauche kriechenden Zeitungen, feiert ihren Sieg, jubelt aus Anlass der neuen Heldentaten ihrer ruhmvollen Heerscharen, jubelt aus Anlass des Sieges der europäischen Kultur über das chinesische Barbarentum, aus Anlass der neuen Erfolge der russischen „zivilisatorischen Mission" im Fernen Osten.

In diesem Jubelchor fehlt nur die Stimme der klassenbewussten Arbeiter, dieser fortgeschrittenen Vertreter des vielmillionenköpfigen arbeitenden Volkes. Die ganze Last der neuen siegreichen Feldzüge hat aber gerade das arbeitende Volk zu tragen: ihm werden Arbeiter entrissen, um sie in entfernte Länder zu schicken, von ihm werden besonders erhöhte Steuern zur Deckung der Millionenausgaben eingetrieben. Versuchen wir, uns über die Frage klar zu werden: wie haben sich Sozialisten diesem Krieg gegenüber zu verhalten? In wessen Interesse wird er geführt? Welches ist die wirkliche Bedeutung dieser Politik, die die russische Regierung verfolgt?

Unsere Regierung versichert vor allem, sie führe überhaupt keinen Krieg gegen China: sie unterdrücke nur den Aufstand, bändige die Aufrührer, helfe der gesetzlichen chinesischen Regierung die gesetzmäßige Ordnung wiederherstellen. Der Krieg ist nicht erklärt worden, aber das ändert nichts am Wesen der Sache, denn es wird doch Krieg geführt. Wodurch wurde der Überfall der Chinesen auf die Europäer hervorgerufen, dieser Aufruhr, der von den Engländern, Franzosen, Deutschen, Russen, Japanern usw. mit so viel Eifer niedergeworfen wird? „Durch die Feindschaft der gelben Rasse gegen die weiße Rasse", „durch den Hass der Chinesen gegen die europäische Kultur und Zivilisation" – versichern die Verteidiger des Krieges. Ja, die Chinesen hassen tatsächlich die Europäer, aber welche Europäer hassen sie und wofür? Nicht die europäischen Völker werden von den Chinesen gehasst – zwischen ihnen hat es keine Zusammenstöße gegeben – sondern die europäischen Kapitalisten und die den Kapitalisten gefügigen europäischen Regierungen. Wie sollten denn die Chinesen Leute nicht hassen, die nur, um sich zu bereichern, nach China gekommen sind, die ihre viel gerühmte Zivilisation nur zu Betrug, Raub und Vergewaltigung ausnutzten, die gegen China Kriege geführt haben, um das Recht zu erhalten, mit dem das Volk betäubenden Opium Handel zu treiben (der Krieg Englands und Frankreichs gegen China im Jahre 1856), die ihre Raubpolitik durch Verbreitung des Christentums heuchlerisch verschleierten? Diese Raubpolitik wird seit langem von den bürgerlichen Regierungen Europas China gegenüber betrieben, und jetzt hat sich ihnen auch die russische absolutistische Regierung angeschlossen. Man pflegt diese Raubpolitik Kolonialpolitik zu nennen. Jedes Land mit rasch anwachsender kapitalistischer Industrie geht sehr bald auf die Suche nach Kolonien, d. h. nach Ländern, in denen die Industrie schwach entwickelt ist, die sich durch eine mehr oder weniger patriarchalische Lebensweise auszeichnen, in denen man Absatz für Industrieprodukte finden und daran schönes Geld verdienen kann. Und um der Bereicherung einer Handvoll Kapitalisten willen haben die bürgerlichen Regierungen endlose Kriege geführt, wurden Soldatenregimenter in ungesunden tropischen Ländern zu Tode gequält, Millionen an Geld, das das Volk aufbringen musste, verschleudert, wurde die Bevölkerung zu verzweifelten Aufständen und in den Hungertod getrieben. Man denke nur an den Aufstand der indischen Eingeborenen gegen England und an den Hunger in Indien, oder an den jetzigen Krieg der Engländer gegen die Buren.

Und nun strecken die europäischen Kapitalisten ihre gierigen Tatzen nach China aus. So ziemlich an der Spitze steht dabei die russische Regierung, die sich nicht genug tun kann in Beteuerungen ihrer „Uneigennützigkeit". In „uneigennütziger" Weise hat Russland China Port Arthur genommen und jetzt begonnen, unter dem Schutze russischer Truppen eine Eisenbahn nach der Mandschurei zu bauen. Eine nach der anderen gingen die europäischen Regierungen so eifrig daran, chinesisches Land zu rauben, zu „pachten", wie sie es nennen, dass nicht ohne Grund Gerüchte über die Aufteilung Chinas aufgetaucht sind. Will man die Dinge bei ihrem richtigen Namen nennen, so muss man sagen, dass die europäischen Regierungen (und die russische steht dabei so ziemlich an der Spitze) mit der Aufteilung Chinas bereits begonnen haben. Aber sie haben mit der Aufteilung nicht offen begonnen, sondern heimlich, wie Diebe. Sie sind wie Leichenschänder daran gegangen, China auszurauben, und als dieser vermeintliche Tote Widerstand zu leisten versuchte, – fielen sie über ihn her, wie wilde Tiere, indem sie ganze Dörfer niederbrannten, wehrlose Einwohner, ihre Frauen und Kinder, im Amur ertränkten, niederschossen und mit ihren Bajonetten niedermachten. Und all diese christlichen Heldentaten werden begleitet vom Geschrei gegen die chinesischen Barbaren, die es wagten, ihre Hand gegen zivilisierte Europäer zu erheben. Die Besetzung von Nju-Tschuan und der Einmarsch russischer Truppen in mandschurisches Gebiet, – das seien vorübergehende Maßnahmen, erklärt die russische absolutistische Regierung in ihrer Zirkularnote an die Mächte vom 12. August 1900; diese Maßnahmen seien „ausschließlich hervorgerufen durch die Notwendigkeit, das aggressive Vorgehen der chinesischen Aufständischen abzuwehren"; sie seien „keineswegs der Beweis für irgendwelche eigennützigen Pläne, die der Politik der kaiserlichen Regierung gänzlich fern liegen".

Arme kaiserliche Regierung! Sie ist so christlich uneigennützig und wird so ungerecht gekränkt! In uneigennütziger Weise hat sie vor mehreren Jahren Port Arthur an sich gerissen und reißt sie jetzt die Mandschurei an sich, in uneigennütziger Weise hat sie die an Russland grenzenden Gebiete Chinas mit einer Meute von Lieferanten, Ingenieuren und Offizieren überschwemmt, die durch ihr Benehmen selbst die durch ihre Geduld bekannten Chinesen zur Empörung trieben. Den beim Bau der chinesischen Bahn beschäftigten chinesischen Arbeitern wurden für ihren Unterhalt 10 Kopeken pro Tag gezahlt, – ist das nicht uneigennützig von Seiten Russlands?

Wie aber erklärt es sich, dass unsere Regierung diese wahnwitzige Politik in China treibt? Für wen ist diese Politik von Vorteil? Sie ist von Vorteil für ein Häuflein von Großkapitalisten, die mit China Handel treiben, für ein Häuflein von Fabrikbesitzern, die für den asiatischen Markt Waren produzieren, für ein Häuflein von Lieferanten, die jetzt an eiligen Kriegsaufträgen wahnsinniges Geld verdienen (verschiedene Betriebe, die für die Rüstungsindustrie arbeiten, die Heeresartikel usw. herstellen, arbeiten jetzt mit Hochdruck und stellen Hunderte neuer Tagelöhner ein). Eine solche Politik ist von Vorteil für ein Häuflein Adliger, die im Zivil- und Militärdienst hohe Ämter bekleiden. Sie brauchen eine Abenteuerpolitik, denn durch sie kann man sich auszeichnen, Karriere machen, durch Heldentaten zur Berühmtheit gelangen. Den Interessen dieses Häufleins von Kapitalisten und beamteten Gaunern bringt unsere Regierung ohne Zaudern die Interessen des ganzen Volkes zum Opfer. Die absolutistische Zarenregierung erweist sich auch in diesem Falle, wie immer, als die Regierung verantwortungsloser Bürokraten, die vor den Großkapitalisten und Adligen auf dem Bauche kriechen.

Welchen Nutzen hat aber die russische Arbeiterklasse und das ganze arbeitende Volk von den Eroberungen in China? Tausende ruinierter Familien, denen durch den Krieg die Ernährer entrissen wurden, ein ungeheures Anwachsen der Staatsschulden und Ausgaben, Erhöhung der Steuern, Stärkung der Macht der Kapitalisten, der Ausbeuter der Arbeiter, Verschlechterung der Lage der Arbeiter, noch größeres Massensterben der Bauernschaft, Hungersnot in Sibirien – das verspricht der chinesische Krieg zu bringen, ja, bringt es schon jetzt. Die ganze russische Presse, alle Zeitungen und Zeitschriften sind versklavt, sie dürfen nichts ohne Erlaubnis der Regierungsbeamten veröffentlichen, – und darum haben wir keine genauen Nachrichten darüber, was dem Volke der chinesische Krieg kostet, aber zweifellos erfordert er Geldausgaben von vielen hundert Millionen Rubel. Es liegen Mitteilungen darüber vor, dass die Regierung auf einmal 150 Millionen Rubel auf Grund einer Geheimverordnung für den Krieg ausgegeben hat, außerdem verschlingen die laufenden Ausgaben für den Krieg alle drei bis vier Tage je eine Million Rubel. Und diese wahnsinnigen Summen verschleudert eine Regierung, die die Unterstützungsgelder für die hungernden Bauern endlos kürzte und um jede Kopeke feilschte, die kein Geld für die Volksbildung findet, die, wie ein beliebiger Kulak, aus den Arbeitern der Staatsbetriebe, aus den kleinen Angestellten der Postämter usw. die Lebenssäfte auspresst!

Der Finanzminister Witte hat erklärt, dass am 1. Januar 1900 in der Staatskasse eine frei verfügbare Barsumme von 250 Millionen Rubel vorhanden sei – jetzt ist dieses Geld nicht mehr da, es ist für den Krieg ausgegeben worden, die Regierung sucht Anleihen, erhöht die Steuern, lehnt aus Mangel an Geld notwendige Ausgaben ab, stellt den Bau von Eisenbahnen ein. Der Zarenregierung droht der Bankrott, sie aber stürzt sich in eine Eroberungspolitik, – in eine Politik, die nicht nur ungeheure Geldmittel erfordert, sondern auch droht, noch gefährlichere Kriege zu bringen. Die europäischen Mächte, die über China hergefallen sind, beginnen schon, sich um die Aufteilung der Beute zu zanken, und niemand ist imstande, zu sagen, wie dieser Zank ausgehen wird.

Doch die Politik der Zarenregierung in China stellt nicht nur eine Verhöhnung der Interessen des Volkes dar, – sie ist auch bestrebt, das politische Bewusstsein der Volksmassen zu korrumpieren. Die Regierungen, die sich nur durch die Gewalt der Bajonette halten, die stets genötigt sind, die Volksempörung zu dämmen oder zu unterdrücken, haben seit langem jene Wahrheit erkannt, dass die Unzufriedenheit des Volkes durch nichts zu beseitigen ist; es muss der Versuch gemacht werden, diese Unzufriedenheit von der Regierung auf jemand anders abzulenken. Man schürt z. B. die Feindschaft gegen die Juden: die Boulevardpresse hetzt gegen die Juden, als ob der jüdische Arbeiter nicht genau so unter dem Joch des Kapitals und der Polizeiregierung zu leiden hat, wie der russische Arbeiter. Augenblicklich hat die Presse einen Feldzug gegen die Chinesen eröffnet, man schreit über die wilde gelbe Rasse, ihre Feindschaft gegen die Zivilisation, über die kulturellen Aufgaben Russlands, über die Begeisterung, mit der die russischen Soldaten in die Schlacht ziehen usw. usw. Die vor der Regierung und dem Geldsack auf dem Bauche liegenden Journalisten schreiben sich die Finger wund, um im Volke den Hass gegen China zu entfachen. Aber das chinesische Volk hat das russische Volk nie und in keiner Weise bedrängt: das chinesische Volk leidet unter denselben Übeln, unter denen das russische Volk stöhnt – unter einer asiatischen Regierung, die aus hungernden Bauern Steuern herauspresst und mit Militärgewalt jedes Streben nach Freiheit unterdrückt – unter dem Joch des Kapitals, das auch ins Reich der Mitte seinen Weg gefunden hat.

Die russische Arbeiterklasse beginnt jene politische Unwissenheit zu überwinden, in der die Masse des Volkes lebt. Alle klassenbewussten Arbeiter haben darum die Pflicht, sich mit allen Kräften gegen diejenigen aufzulehnen, die den nationalen Hass schüren und die Aufmerksamkeit des arbeitenden Volkes von seinen wahren Feinden ablenken. Die Politik der Zarenregierung in China ist eine verbrecherische Politik, die das Volk noch mehr ruiniert, die es noch mehr korrumpiert und unterdrückt. Die Zarenregierung hält nicht nur unser Volk in Sklaverei, – sie schickt es zur Niederwerfung anderer Völker, die sich gegen ihre Sklaverei erheben (wie es im Jahre 1849 geschehen ist, als russische Truppen die Revolution in Ungarn unterdrückten). Sie hilft nicht nur den russischen Kapitalisten, ihre Arbeiter auszubeuten und den Arbeitern die Hände zu binden, damit sie es nicht wagen, sich zu vereinigen und zu verteidigen, sie entsendet Soldaten, um im Interesse eines Häufleins von Reichen und Adligen andere Völker zu plündern. Es gibt nur ein Mittel, um sich von dem neuen Joch, das der Krieg dem arbeitenden Volk aufbürdet, zu befreien: die Einberufung der Volksvertreter, die der Willkürherrschaft der Regierung ein Ende machen und sie zwingen, nicht nur auf die Interessen der Hofclique allein Rücksicht zu nehmen.

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