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Wladimir I. Lenin 19001200 Die Spaltung im Auslandsbund der russischen Sozialdemokraten

Wladimir I. Lenin: Die Spaltung im Auslandsbund der russischen Sozialdemokraten1

[„Iskra" Nr. 1, Dezember 1900. Nach Sämtliche Werke, Band 4, Wien-Berlin 1928, S. 67 f.]

Im Frühling dieses Jahres fand in der Schweiz ein Kongress der Mitglieder des Auslandsbundes der Russischen Sozialdemokraten statt, der zur Spaltung des Auslandsbundes führte. Die Minderheit der Mitglieder, an deren Spitze die Gruppe „Befreiung der Arbeit" steht, die den Auslandsbund gegründet hat und bis zum Herbst 1898 die Schriften des Auslandsbundes redigierte, bildete eine besondere Organisation unter dem Namen: Russische revolutionäre Organisation „Sozialdemokrat". Die Mehrheit, zu der die Redaktion des Organs „Rabotscheje Djelo" gehört, trägt auch weiterhin den alten Namen des Auslandsbundes. Der Parteitag der russischen Sozialdemokraten, der im Frühjahr 1898 stattfand und die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands" gründete, hatte den Auslandsbund als die Auslandsvertretung unserer Partei anerkannt. Wie steht jetzt, wo der Auslandsbund gespalten ist, die Frage der Vertretung? Wir wollen nicht auf die Einzelheiten der Ursachen der Spaltung eingehen. Wir wollen nur feststellen, dass die so weit verbreitete und so schwerwiegende Anklage, Plechanow habe von der Druckerei des Auslandsbundes gewaltsam Besitz ergriffen, der Wahrheit nicht entspricht. In Wirklichkeit hatte der Verwalter der Druckerei es nur abgelehnt, sie einem der Teile des gespaltenen Auslandsbundes ganz auszuliefern, und daraufhin haben sehr bald beide Parteien die Druckerei untereinander verteilt. Am wichtigsten ist unseres Erachtens die Tatsache, dass das „Rabotscheje Djelo" in der Polemik sachlich im Unrecht war: das Blatt leugnete irrigerweise das Vorhandensein der „ökonomischen" Richtung und verfolgte die falsche Taktik, die extremen Anschauungen dieser Richtung zu verschweigen und keinen offenen Kampf gegen sie zu führen.

Aus diesem Grunde lehnen wir es ab – obgleich wir die Verdienste des „Rabotscheje Djelo", das sich mit der Herausgabe der Literatur und der Organisierung ihres Transportes große Mühe gegeben hat, nicht verkennen –, einen der Teile der gespaltenen Organisation als Auslandsvertretung unserer Partei anzuerkennen. Diese Frage muss offen bleiben, bis der nächste Parteitag darüber entschieden hat. Die offiziellen Auslandsvertreter der russischen Sozialdemokratie sind gegenwärtig die russischen Mitglieder des ständigen internationalen Komitees, das im Herbst vorigen Jahres vom Pariser Internationalen Sozialistenkongress errichtet worden ist2. Von Russland sind zwei Mitglieder in das Komitee gewählt worden: G. V. Plechanow und B. Kritschewski (einer der Redakteure des „Rabotscheje Djelo"). Solange zwischen den beiden Fraktionen der russischen Sozialdemokraten eine Aussöhnung oder Verständigung nicht erfolgt ist, beabsichtigen wir, den ganzen, die Vertretung Russlands betreffenden Verkehr mit G. V. Plechanow zu unterhalten. Schließlich müssen wir uns noch zu der Frage äußern, wen wir im ständigen internationalen Komitee als russischen Sekretär haben möchten. Gegenwärtig, wo man bemüht ist, die Sozialdemokratie – unter der Flagge einer „Kritik des Marxismus" – durch die bürgerliche Ideologie und durch eine Politik der Bescheidenheit und Demut gegenüber den bis an die Zähne bewaffneten Feinden (den bürgerlichen Regierungen) zu korrumpieren, ist es besonders notwendig, dass dieser Posten von einem Menschen bekleidet wird, der fähig ist, dem Strom zu widerstehen und gegen das ideologische Schwanken ein gewichtiges Wort zu sprechen. Aus diesem Grunde sowie aus den oben erwähnten Erwägungen stimmen wir für G. V. Plechanow.

1 Aus Anlass des Artikels Lenins „Die Spaltung im Auslandsbund der russischen Sozialdemokralen", den er spätestens am 7. Dezember 1900 geschrieben hatte, wandte sich Plechanow an die Münchener Redaktion der „Iskra" mit der Bitte, „in der Notiz über die Spaltung das Wort Anklage (gegen mich) durch die Worte: das falsche Gerücht zu ersetzen", und ferner: „Wenn es möglich ist, die Worte in Bezug auf die Verdienste des ,Rabotscheje Djelo' zu streichen". Die Abänderungsvorschläge zum Artikel Lenins wurden jedoch nicht berücksichtigt. Es hat auch uns nicht bekannte Bemerkungen Axelrods gegeben, über die Lenin am 11. Dezember an Axelrod schrieb: „Ich habe die von Ihnen gewünschten Korrekturen vorgenommen, nur konnte ich die Worte über die Verdienste des ,Rabotscheje Djelo' nicht einfach weglassen – das würde meines Erachtens ungerecht gegen einen Gegner sein, dessen Rolle in der Geschichte der Sozialdemokratie nicht immer negativ gewesen ist." („Lenin-Sammelbuch" Nr. 3.) Das „Rabotscheje Djelo" beabsichtigte, – laut seiner eigenen Erklärung (Nr. 9) – eine Erwiderung auf die Notiz Lenins über die Spaltung zu veröffentlichen, verzichtete jedoch auf diese Absicht angesichts der begonnenen Verhandlungen der „Rabotscheje Djelo"-Leute mit den „Iskra"-Leuten über eine Verständigung.

2 Der fünfte internationale Sozialistenkongress tagte vom 23. bis 27. September des Jahres 1900 in Paris. Auf dem Kongress waren gegen 800 Delegierte anwesend (die russische Sozialdemokratie war auf dem Kongress durch die verhältnismäßig große Delegation von 24 Mitgliedern vertreten).

Die Hauptfrage, auf die die Aufmerksamkeit des Kongresses konzentriert war, und die zu einer lebhaften Debatte führte, war die Frage der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und der Zulässigkeit der Beteiligung von Sozialisten an bürgerlichen Ministerien. Diese Frage erfuhr, im Zusammenhang mit dem sogenannten „Fall Millerand", eine ganz besondere Zuspitzung. Millerand, französischer Sozialist und Mitglied des Parlaments, war unter dem Vorwand der Notwendigkeit der Verteidigung der Republik gegen die monarchistische Gefahr im Juni 1899 als Handelsminister in das Kabinett Waldeck-Rousseau (dem auch der berüchtigte General Gallifet, der Henker der Pariser Kommune, angehörte), eingetreten und blieb trotz aller Proteste des revolutionären Flügels der französischen Sozialisten, vor allem der „Guesdisten" und „Blanquisten", in der Regierung, auch nachdem diese auf streikende Arbeiter in Châlons und auf Martinique hatten schießen lassen. Jaurès, der Führer der französischen Opportunisten, unterstützte Millerand.

Zu dieser Frage nahm der Kongress folgende, von Kautsky vorgeschlagene „versöhnliche" Resolution an: „Die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat kann in einem modernen demokratischen Staat nicht das Werk eines bloßen Handstreiches sein, sondern kann nur den Abschluss einer langen und mühevollen Arbeit der politischen und ökonomischen Organisation des Proletariats, seiner physischen und moralischen Regenerierung und der schrittweisen Eroberung von Wahlsitzen in Gemeindevertretungen und gesetzgebenden Körperschaften bilden.

Aber die Eroberung der Regierungsmacht kann dort, wo sie zentralisiert ist, nicht stückweise erfolgen. Der Eintritt eines einzelnen Sozialisten in ein bürgerliches Ministerium ist nicht als der normale Beginn der Eroberung der politischen Macht zu betrachten, sondern kann stets nur ein vorübergehender und ausnahmsweiser Notbehelf in einer Zwangslage sein.

Ob in einem gegebenen Falle eine solche Zwangslage vorhanden ist, dass ist eine Frage der Taktik und nicht des Prinzips. Darüber hat der Kongress nicht zu entscheiden. Aber auf jeden Fall kann dieses gefährliche Experiment nur dann von Vorteil sein, wenn es von einer geschlossenen Parteiorganisation gebilligt wird und der sozialistische Minister der Mandatar seiner Partei ist und bleibt.

Wo der sozialistische Minister unabhängig von seiner Partei wird, wo er aufhört, der Mandatar seiner Partei zu sein, da wird sein Eintritt in das Ministerium aus einem Mittel, das Proletariat zu stärken, ein Mittel, es zu schwächen, aus einem Mittel, die Eroberung der politischen Macht zu fördern, zu einem Mittel, um sie zu verzögern. Der Kongress erklärt, dass ein Sozialist ein bürgerliches Ministerium verlassen muss, wenn die organisierte Partei erklärt, dass es Parteilichkeit im Kampf zwischen Kapital und Arbeit bewiesen hat."

Der Text der Resolution, die von Guesde vorgeschlagen wurde und bei der Abstimmung in der Minderheit blieb, lautete:

Der fünfte Internationale Kongress zu Paris erklärt wiederholt, dass die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat, gleichviel ob sie auf friedlichem Wege erfolgt, die gewaltsame politische Expropriation der Kapitalistenklasse bedeutet.

Sie lässt deshalb die Teilnahme am Bourgeois-Regiment dem Proletariat nur in der Form der Eroberung von Mandaten aus eigener Kraft auf dem Boden des Klassenkampfes zu und untersagt jede Teilnahme der Sozialisten an bürgerlichen Regierungen, denen gegenüber die Sozialisten auf den Standpunkt unbeugsamer Opposition stehen bleiben müssen." (Siehe Seite 19 „Internationaler Sozialistenkongress zu Paris 1900", Verlag der Buchhandlung „Vorwärts", Berlin – Die Red.)

Plechanow, Axelrod und Sassulitsch stimmten für die Resolution Guesdes. Nachdem der Kongress eine Reihe von Beschlüssen zu anderen Fragen (auch zur Frage des Blocks mit bürgerlichen Parteien und zur Frage des Generalstreiks) angenommen hatte, beschloss er auch ein ständiges internationales Büro oder Sekretariat mit dem Sitz in Brüssel zu gründen.

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