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Wladimir I. Lenin 19011203 Der Protest des finnländischen Volkes

Wladimir I. Lenin: Der Protest des finnländischen Volkes

[Iskra" Nr. 11, 20. November/3. Dezember 1901. Nach Sämtliche Werke, Band 4.2, Wien-Berlin 1929, S. 90-94]

Wir führen hier im Wortlaut die neue Massenadresse an, durch die das finnländische Volk seinen entschiedenen Protest gegen die Politik der Regierung zum Ausdruck bringt, die trotz des Eides, den alle Zaren, von Alexander I. bis zu Nikolaus II., feierlich geleistet haben, einen Anschlag auf die Verfassung Finnlands verübt hat und (dauernd weiter verübt.

Diese Adresse ist am 17. (30.) September 1901 dem finnländischen Senat zur Weitergabe an den Zaren überreicht worden. Unterschrieben ist sie von 473.363 Finnländern beiderlei Geschlechts und aller Gesellschaftsschichten, d. h. von fast einer halben Million Staatsbürgern. Die gesamte Bevölkerung Finnlands beträgt 2½ Millionen, so dass die neue Adresse tatsächlich die Stimme des ganzen Volkes ist. Hier der vollständige Text dieser Adresse:

Groß mächtiger, allgütiger Herrscher, Kaiser und Großfürst! Die von Eurer Kaiserlichen Majestät vorgenommene Änderung des Militärpflicht-Gesetzes Finnlands hat im ganzen Lande allgemeine Beunruhigung und tiefste Trauer hervorgerufen.

Die von Eurer Kaiserlichen Majestät am 12. Juli (29. Juni) d. J. bestätigten Verfügungen, das Manifest und das Gesetz über die Militärpflicht, bedeuten eine radikale Verletzung der Grundgesetze des Großfürstentums und der wertvollsten Rechte, die dem flnnländischen Volk und allen Bürgern kraft der Landesgesetze zustehen.

Die Vorschriften über die Landesverteidigungspflichten der Staatsbürger können, gemäß den Grundgesetzen, nicht anders erlassen werden, als mit Einverständnis der Landstände. Auf diesem Wege wurde auch das Militärpflichtgesetz von 1878 durch gemeinsamen Beschluss Alexanders II. und der Landstände erlassen. Zur Zeit der Regierung Kaiser Alexanders III. erfolgten viele Teiländerungen dieses Gesetzes, doch nie anders, als mit Einverständnis der Landstände. Im Gegensatz dazu wird jetzt ohne Zustimmung der Landstände die Aufhebung des Gesetzes von 1878 verkündet, während die an seiner Stelle erlassenen neuen Bestimmungen dem Beschluss der Landstände des Außerordentlichen Landtages von 1899 vollkommen zuwiderlaufen.

Eines der wichtigsten Rechte, die jeder finnländische Staatsbürger besitzt, ist das Recht, unter dem Schutze der finnländischen Gesetze zu leben und zu wirken. Heute sind Tausende und Abertausende finnländischer Staatsbürger dieses Rechtes beraubt, da das neue Militärpflicht-Gesetz sie verpflichtet, im russischen Heere zu dienen, wodurch die Erfüllung der Dienstpflicht für diejenigen Landessöhne in ein Leid verwandelt wird, die man gewaltsam Truppenteilen zuteilen wird, die ihnen durch Sprache, Religion, Sitten und Gebräuche fremd sind.

Die neuen Bestimmungen heben jede gesetzlich festgesetzte Begrenzung des jährlichen Kontingents auf. Überdies fehlt in ihnen jegliche Anerkennung des in den Grundgesetzen festgelegten Rechtes der Landstände, die Festsetzung des Militärbudgets mitzubestimmen.

Selbst die Landwehr wird, entgegen den Grundbestimmungen des Gesetzes von 1878, in vollständige Abhängigkeit vom Gutdünken des Kriegsministeriums gestellt.

Der Eindruck, den solche Verfügungen erwecken, wird durch die im Manifest für eine vorläufig noch unbestimmte Übergangszeit verkündeten Erleichterungen nicht gemildert, da auf eine zeitweilige Herabsetzung der Rekrutenzahl unbegrenzte Einberufungen zum Dienst in russischen Truppenteilen folgen werden.

Das finnländische Volk hat um keinerlei Erleichterungen der von ihm bisher getragenen Militärlast gebeten. Die Landstände, die die Meinung des Volkes zum Ausdruck brachten, bewiesen, dass Finnland bereit ist, nach Maßgabe der Kräfte seinen Anteil an der Landesverteidigung zu vergrößern, unter der Bedingung, dass die Rechtslage der finnischen Truppen in ihrer Eigenschaft als finnländische Institution gewahrt bleibt.

Im Gegensatz dazu wird in den neuesten Bestimmungen festgesetzt, dass die finnischen Truppen zum größten Teil aufgelöst werden und dass russische Offiziere in die wenigen verbleibenden Formationen eintreten können; dass sogar die Unteroffiziere dieser Truppenteile die russische Sprache beherrschen müssen, wodurch den in Finnland gebürtigen Personen, besonders den Angehörigen des Bauernstandes, die Bekleidung der genannten Dienstgrade völlig unmöglich gemacht wird, dass diese Truppenteile russischen Behörden unterstellt werden, und dass sie auch in Friedenszeiten außerhalb der Grenzen Finnlands stationiert werden können.

Diese Verfügungen, die nicht irgendeine Reform darstellen, sondern nur die Vernichtung der Nationaltruppen Finnlands anstreben, deuten auf ein Misstrauen hin, zu dem das finnländische Volk in der ganzen Zeit seiner fast hundertjährigen Vereinigung mit Russland in keiner Weise Anlass gegeben hat.

In den neuen Bestimmungen über die Militärpflicht sind auch Ausdrücke enthalten, die dem finnländischen Volke das Bestehen eines besonderen Vaterlandes und den Landeskindern die finnländischen Staatsbürgerrechte aberkennen. Diese Ausdrücke lassen Ziele durchblicken, die unvereinbar sind mit dem unveräußerlichen Recht des finnländischen Volkes, bei seiner Vereinigung mit Russland die politische Stellung zu wahren, die Finnland im Jahre 1809 unwiderruflich zugesichert wurde.

In den letzten Jahren hat sich über unserem Land ein schweres Unheil zusammengezogen. Wiederholt musste man sich davon überzeugen, dass die Bestimmungen der Grundgesetze des Landes ignoriert wurden, teils durch gesetzgeberische Maßnahmen, teils durch die Besetzung wichtiger Posten mit Russen. Die Verwaltung des Landes wurde so gehandhabt, als wäre es ihre Aufgabe, Ruhe und Ordnung zu stören, gemeinnützige Bestrebungen zu behindern und Feindschaft zwischen Russen und Finnländern zu stiften.

Das größte Unglück für das Land ist jedoch die Einführung der neuen Bestimmungen über die Militärpflicht.

In der alleruntertänigsten Antwortadresse vom 27. Mai 1899 haben die Landstände ausführlich dargelegt, welcher Weg gemäß den Grundgesetzen Finnlands beim Erlass eines Militärpfliohtgesetzes eingeschlagen werden muss. Dabei haben sie darauf hingewiesen, dass das neue Militärpflichtgesetz, wenn es auf einem anderen Weg erlassen und unter dem Zwange der Gewalt auch durchgeführt werden sollte, nicht als rechtmäßiges Gesetz anerkannt werden kann, sondern in den Augen des finnländischen Volkes nur als Gebot der Gewalt gelten wird.

Alles, worauf die Landstände hingewiesen haben, stellt auch weiterhin unverändert das Rechtsbewusstsein des finnländischen Volkes dar, das gewaltsam nicht geändert werden kann.

Verfügungen, die mit den Landesgesetzen nicht im Einklang stehen, lassen überaus schwerwiegende Folgen befürchten. Für Beamte und Regierungsbehörden entsteht ein qualvoller Konflikt mit ihrem Pflichtgefühl, da das Gewissen ihnen gebietet, derartigen Befehlen nicht Folge zu leisten. Die Zahl der arbeitsfähigen Auswanderer, die sich schon früher, aus Furcht vor drohenden Veränderungen, gezwungen sahen, das Land zu verlassen, wird noch mehr steigen, wenn die angekündigten Bestimmungen in die Tat umgesetzt werden.

Die neuen Militärpflichtbestimmungen wie auch die übrigen Maßnahmen, die gegen das Recht des finnländischen Volkes auf eine besondere politische und nationale Existenz gerichtet sind, müssen unvermeidlich das Vertrauen zwischen Monarch und Volk untergraben und eine immer stärker werdende Unzufriedenheit, das Gefühl eines allgemeinen Druckes, Unsicherheit und ungeheure Schwierigkeiten für die Gesellschaft und ihre Mitglieder in der Arbeit zum Wohle des Landes hervorrufen. Das kann nur vermieden werden, wenn man die obengenannten Verfügungen durch ein Militärpflichtgesetz ersetzt, das unter Mitarbeit der Landstände erlassen wird, und wenn die Regierungsbehörden des Landes sich genau an die Bestimmungen der Grundgesetze halten.

Das Volk Finnlands kann nicht aufhören, ein besonderes Volk zu sein. Verbunden durch ein gemeinsames historisches Schicksal, durch Rechtsbegriffe und kulturelle Arbeit, wird unser Volk seiner Liebe zum finnländischen Vaterlande und zu seiner gesetzmäßigen Freiheit treu bleiben. Das Volk wird sich nicht beirren lassen in seinem Streben, im Kreise der Völker seinen bescheidenen, ihm vom Schicksal zugewiesenen Platz mit Würde zu behaupten.

Ebenso fest, wie wir an unser Recht glauben und unsere Gesetze achten, die uns in unserem öffentlichen Leben als Stütze dienen, ebenso fest sind wir davon überzeugt, dass der Einheit des mächtigen Russland kein Schaden zugefügt werden kann, wenn Finnland auch in Zukunft im Einklang mit den im Jahre 1809 festgelegten Grundprinzipien regiert wird, damit es sich in seiner Vereinigung mit Russland glücklich und ruhig fühlt.

Das Gefühl der Pflicht gegenüber der Heimat zwingt die Mitglieder aller Gemeinden und Gesellschaftsschichten, sich an Eure Kaiserliche Majestät mit einer wahrheitsgetreuen und ungeschminkten Darstellung der Sachlage zu wenden. Wir haben oben darauf hingewiesen, dass die vor kurzem bekanntgegebenen Bestimmungen über die Militärpflicht, die den feierlich bekräftigten Grundgesetzen des Großfürstentums widersprechen, nicht als rechtskräftiges Gesetz anerkannt werden können. Wir halten es für unsere Pflicht, hinzuzufügen, dass die Militärlasten an sich für das finnländische Volk nicht von so großer Bedeutung sind, wie der Verlust einer festen Rechtsgrundlage und die durch das Gesetz garantierte Sicherheit in dieser so wichtigen Frage. Alleruntertänigst bitten wir daher, Eure Kaiserliche Majestät wolle geruhen, die in dieser Adresse berührten Fragen einer solchen Allergnädigsten Prüfung zu unterziehen, wie es ihre Wichtigkeit verlangt. Wir verbleiben usw."

Wir haben dieser Adresse, die ein wirkliches Volksurteil über die Bande der die Grundgesetze verletzenden russischen Beamten darstellt, nicht mehr viel hinzuzufügen.

Wir wollen nur an die Hauptmomente der „finnländischen Frage" erinnern.

Finnland ist im Jahre 1809, zur Zeit des Krieges gegen Schweden, an Russland angegliedert worden. In der Absicht, die Finnländer, die ehemaligen Untertanen des schwedischen Königs, auf seine Seite zu bringen, beschloss Alexander I., die alte finnländische Verfassung anzuerkennen und zu bestätigen. Dieser Verfassung gemäß darf kein Grundgesetz anders als mit Einwilligung des Landtages, d h. der Versammlung der Vertreter aller Stände, erlassen, abgeändert, erläutert oder aufgehoben werden. Und Alexander I. bekräftigte „feierlich" in mehreren Manifesten „das Versprechen, die besondere Verfassung des Landes heilig zu halten".

Dieses eidliche Versprechen wurde später von allen russischen Zaren bekräftigt, darunter auch von Nikolaus II., im Manifest vom 25. Oktober (6. November) 1894, in dem er versprach, „… diese (Grundgesetze) in ihrer unverbrüchlichen und unabänderlichen Kraft und Wirkung aufrechtzuerhalten."

Und nun sind kaum fünf Jahre vergangen, und der russische Zar hat sich als eidbrüchig erwiesen. Nachdem die käufliche und auf dem Bauche kriechende Presse lange gegen Finnland gehetzt hatte, wurde das „Manifest" vom 3. (15.) Februar 1899 erlassen, das eine neue Ordnung einführt: ohne Zustimmung des Landtags können Gesetze erlassen werden, „wenn sie die Bedürfnisse des gesamten Staates betreffen oder mit der Gesetzgebung des Reiches im Zusammenhang stehen".

Das war ein himmelschreiender Bruch der Verfassung, ein richtiger Staatsstreich, denn es lässt sich von jedem Gesetz sagen, es entspreche einem Bedürfnisse des gesamten Staates!

Und dieser Staatsstreich wurde gewaltsam durchgeführt: der Generalgouverneur Bobrikow drohte, Truppen in Finnland einmarschieren zu lassen, wenn der Senat sich weigern sollte, das Manifest zu veröffentlichen. An die in Finnland liegenden russischen Truppen war (wie russische Offiziere erzählten) bereits Kriegsmunition ausgeteilt worden, die Pferde standen gesattelt usw.

Der ersten Gewalttat folgten zahllose andere: eine finnländische Zeitung nach der anderen wurde verboten, die Versammlungsfreiheit aufgehoben, Finnland mit Horden russischer Spione und niederträchtigster Lockspitzel, die zum Aufstand hetzten, überschwemmt usw. usw. Schließlich wurde ohne Zustimmung des Landtags das Gesetz vom 29. Juni (12. Juli) über die Militärpflicht erlassen – ein Gesetz, das in der Adresse bereits genügend analysiert worden ist.

Sowohl das Manifest vom 3. Februar 1899 als auch das Gesetz vom 29. Juni 1901 sind ungesetzlich, sie sind die Gewalttat eines Meineidigen und seiner Schergen, die sich zaristische Regierung nennen. Zweieinhalb Millionen Finnländer können natürlich an einen Aufstand nicht denken, aber wir alle, die russischen Staatsbürger, müssen an die Schmach denken, die auf uns fällt. Wir sind immer noch in solchem Maße Sklaven, dass man uns zur Versklavung anderer Volksstämme ausnützt. Wir dulden bei uns immer noch eine Regierung, die nicht nur mit der wilden Wut eines Henkers alle Freiheitsbestrebungen in Russland unterdrückt, sondern außerdem auch noch russische Truppen zu gewaltsamem Anschlag auf die Freiheit der Fremdstämmigen verwendet.

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