Lenin‎ > ‎1901‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19010923 Die Fronherren an der Arbeit

Wladimir I. Lenin: Die Fronherren an der Arbeit

[„Iskra" Nr. 8, vom 10. September 1901. Nach Sämtliche Werke, Band 4.1, Wien-Berlin 1928, S. 207-213]

Am 8. Juli 1901 ist ein neues Gesetz erschienen: über die Abgabe von staatlichen Ländereien in Sibirien an Privatpersonen1. Welche Anwendung das neue Gesetz finden wird, – das wird die Zukunft zeigen. Aber allein schon der Charakter dieses Gesetzes ist so lehrreich, zeigt so anschaulich die unverfälschte Natur und die wahren Bestrebungen der zaristischen Regierung, dass es lohnt, dieses Gesetz eingehend zu analysieren und dafür zu sorgen, dass es im weitesten Umfang zur Kenntnis der Arbeiterklasse und der Bauernschaft gelangt.

Gnadengeschenke an die adligen Grundbesitzer gehören seit langem zur Praxis unserer Regierung: sie hat für sie die Adelsbank eingerichtet, hat ihnen tausend Privilegien bei der Gewährung von Darlehen und der Stundung von Rückzahlungen eingeräumt, hat ihnen geholfen, die heimliche Vereinbarung der schwerreichen Zuckerfabrikanten zu inszenieren, die die Steigerung der Preise und Erhöhung der Gewinne zum Ziele hatte, hat dafür gesorgt, dass Adelssprösslingen, die ihr Geld verpulvert haben, Posten als Bezirkshauptleute gesichert wurden, sie sorgt jetzt dafür, dass die adligen Branntweinbrenner ihren Schnaps vorteilhaft an die Staatskasse absetzen. Durch die Abgabe von Ländereien aber macht sie nicht nur den reichsten und vornehmsten Ausbeutern Gnadengeschenke, – sie schafft eine neue Klasse von Ausbeutern, verurteilt Millionen von Bauern und Arbeitern zu dauernder Knechtschaft im Dienste der neuen Grundbesitzer.

Betrachten wir die Hauptgrundlagen des neuen Gesetzes. Es muss vor allem hervorgehoben werden, dass dieses Gesetz – bevor es der Minister für Landwirtschaft und Staatsdomänen im Staatsrat einbrachte – in einer Sonderkommission für Angelegenheiten des Adelstandes diskutiert wurde. Ist es doch allgemein bekannt, dass gegenwärtig in Russland nicht die Arbeiter und Bauern die größte Not leiden, sondern die adligen Grundbesitzer, und die „Sonderkommission" hat nicht gezögert, ein Mittel ausfindig zu machen, um dieser Notlage abzuhelfen. Die staatlichen Ländereien in Sibirien werden an „Privatpersonen" als „private Wirtschaften" verkauft und verpachtet werden, wobei nichtrussischen Untertanen und Angehörigen nichtrussischer Volksstämme (zu diesen zählen auch die Juden) jeglicher Erwerb dieser Ländereien ein für allemal verboten wird; die Pachtung aber (diese, wie wir sehen werden, für die neuen Gutsbesitzer vorteilhafteste Operation) bleibt ausschließlich Adligen vorbehalten, „die – wie es in dem Gesetz heißt – dank ihrer wirtschaftlichen Zuverlässigkeit für die Absichten der Regierung wünschenswerte Grundbesitzer in Sibirien darstellen". Die Absichten der Regierung zielen somit hin auf die Versklavung der werktätigen Bevölkerung durch adlige Großgrundbesitzer. Wie groß der zukünftige Besitz gedacht ist, geht daraus hervor, dass der Umfang der zum Verkauf angebotenen Landanteile laut Gesetz dreitausend Desjatinen nicht übersteigen soll, während der Umfang der Ländereien, die verpachtet werden sollen, überhaupt unbegrenzt bleibt, die Pachtfrist aber bis zu 99 Jahren festgelegt ist! Der notleidende Grundbesitzer braucht nach Ansicht unserer Regierung zweihundert mal mehr Land als der Bauer, dem in Sibirien 15 Desjatinen pro Familie zugemessen werden.

Und was für Privilegien und Vergünstigungen für die Grundbesitzer sind nicht im Gesetz vorgesehen! Der Pächter leistet im Laufe der ersten fünf Jahre überhaupt keine Zahlung. Wenn er das von ihm gepachtete Land später kauft (wozu er nach dem neuen Gesetz das Recht hat), so kann er den Kaufpreis ratenweise in 37 Jahren abzahlen. Auf Grund einer besonderen Erlaubnis ist sowohl die Überlassung von mehr als dreitausend Desjatinen Land zum Verkauf zulässig als auch der Verkauf zu vereinbartem Preis und nicht durch öffentliche Versteigerung, ferner die Stundung der Rückstände auf ein, ja sogar auf drei Jahre. Es darf nicht vergessen werden, dass das neue Gesetz überhaupt nur von den höchsten Beamten und Personen, die Verbindungen zu Hofkreisen haben, ausgenutzt werden wird; – solchen Leuten werden alle Privilegien und Vergünstigungen spielend gegeben, auf ein paar Worte hin, gewechselt im Salongespräch mit einem Gouverneur oder Minister.

Aber schlimm ist folgendes. Welchen Nutzen werden aus dem Bodenbesitz, selbst wenn er dreitausend Desjatinen misst, ihre Besitzer, die Generale, haben, wenn sich kein „Muschik" findet, der gezwungen ist, für diese Generale zu arbeiten? Wie rasch auch das Elend des Volkes in Sibirien wachsen mag, so ist doch der dortige Bauer unvergleichlich viel selbständiger als der „russische", er ist es nicht gewohnt, sich durch die Peitsche zur Arbeit antreiben zu lassen. Das neue Gesetz will ihn daran gewöhnen. Zwischen den für den Privatbesitz vorgesehenen Ländereien sollen nach Möglichkeit die den Bauern zugeteilten Bodenstücke „verstreut" liegen – lautet Artikel 4 des Gesetzes. Die zaristische Regierung sorgt für einen „Verdienst" für die armen Bauern. Vor zehn Jahren hat derselbe Herr Jermolow, der jetzt als Minister für Landwirtschaft und Staatsdomänen das neue Gesetz über die Abgabe von staatlichen Ländereien an Privatpersonen in Sibirien im Staatsrat eingebracht hat, ein Buch (ohne Angabe des Verfassers) herausgegeben, das den Titel trägt: „Missernte und Hungersnot". In diesem Buche erklärte er offen, es sei kein Grund vorhanden, den Bauern, die bei ortsansässigen Gutsbesitzern „Verdienst" finden können, die Übersiedlung nach Sibirien zu gestatten. Die russischen Staatsmänner genieren sich nicht, Äußerungen zu tun, in denen der Leibeigenschaftsstandpunkt offen zum Ausdruck kommt: die Bauern sind zur Arbeit für die Grundbesitzer geschaffen, und darum sollte man den Bauern nicht „gestatten", überzusiedeln, wohin sie wollen, sobald die Gutsbesitzer dadurch billige Arbeiter verlieren. Als aber die Bauern trotz aller Erschwerungen, Verschleppungsmanöver und selbst direkter Verbote weiterhin zu Hunderttausenden nach Sibirien auswanderten, – da lief die zaristische Regierung wie der Schultheiß eines großen Herrn in der alten Zeit hinter ihnen her – um sie auch an ihrem neuen Aufenthaltsort zu plagen. Wenn aber in bunter Reihe mit den dürftigen Anteilen und Ländereien der Bauern (von denen die besten bereits in festen Händen sind) – die dreitausend Desjatinen umfassenden Anteile des hohen Adels liegen werden, – dann wird sehr bald die Übersiedlung nach Sibirien nichts Verlockendes mehr an sich haben. Und der Grund und Boden der neuen Gutsbesitzer wird um so rascher im Preise steigen, je drückender das Leben für die Bauern der Umgegend sein wird: die Bauern werden gezwungen sein, ihre Arbeitskraft billig zu verkaufen und das Land der Grundbesitzer für einen Wucherpreis zu pachten – ganz wie in „Russland". Das Bestreben des neuen Gesetzes läuft offen darauf hinaus, so rasch als möglich ein neues Paradies für die Grundbesitzer und eine neue Hölle für die Bauern zu schaffen: so ist eine besondere Klausel eingefügt für die Verpachtung des Bodens für eine einmalige Aussaat. Im Allgemeinen bedarf nämlich die Weitergabe von in Pacht genommenen staatlichen Ländereien einer besonderen Genehmigung, dagegen wird die Weiterverpachtung für eine einmalige Aussaat völlig freigestellt. Der Gutsbesitzer kann seine ganze Sorge um sein Land darauf beschränken, einen Verwalter zu finden, der das Land desjatinenweise den „verstreut" zwischen den Herrengütern lebenden Bauern verpachtet – und dem gnädigen Herrn nur das Geld schickt.

Übrigens werden die Adligen nicht immer sogar eine solche „Wirtschaft" führen wollen. Sie können auf einmal einen schönen Happen Geld bekommen, wenn sie den staatlichen Boden an wirkliche Landwirte weiterverkaufen. Es ist kein Zufall, dass das neue Gesetz gerade zu einem Zeitpunkt erscheint, wo in Sibirien die Eisenbahn gebaut worden ist, wo die Verbannung nach Sibirien aufgehoben wird und die Übersiedlungen nach Sibirien sich in ungeheurem Umfang vollziehen; all das wird unbedingt zu einem Steigen der Bodenpreise führen (und führt jetzt schon dazu). Deshalb ist im gegenwärtigen Augenblick die Abgabe von staatlichen Ländereien an Privatpersonen im Grunde genommen eine Plünderung der Staatskasse durch den Adel: die staatlichen Ländereien steigen im Preise, während sie an allerhand Generale, die es auch verstehen werden, dieses Steigen der Preise auszunutzen, zu besonders günstigen Bedingungen verpachtet und verkauft werden. So haben z. B. die Adligen und die Beamten eines einzigen Kreises im Gouvernement Ufa mit den ihnen (auf Grund eines ähnlichen Gesetzes) verkauften Ländereien folgende Operation vorgenommen: sie haben der Staatskasse für Ländereien 60.000 Rubel bezahlt und denselben Grund und Boden zwei Jahre später für 580.000 Rubel verkauft, d. h. sie haben an dem einfachen Weiterverkauf über eine halbe Million Rubel verdient! Nach diesem Beispiel kann man sich vorstellen, wie viele Millionen durch die Abgabe von Ländereien in ganz Sibirien in die Taschen der notleidenden Grundbesitzer fließen werden.

Die Regierung und ihre Anhänger führen, um diesen frechen Raub zu verschleiern, allerhand hochtrabende Erwägungen ins Feld. Man spricht von der Entwicklung der Kultur in Sibirien, von der großen Bedeutung der Musterwirtschaften. In Wirklichkeit können die großen Güter, durch die die in der Nachbarschaft lebenden Bauern in eine trostlose Lage versetzt werden, zur Zeit nur die unkulturellsten Ausbeutungsmethoden verstärken. Musterwirtschaften entstehen nicht durch Staatskassendiebstähle, und die Abgabe der Ländereien wird zur einfachen Bodenspekulation der Adligen und Beamten oder zum Aufblühen von Fron- und Wuchermethoden in der Wirtschaft führen. Der hohe Adel hat im Bündnis mit der Regierung die Juden und sonstigen fremdstämmigen Elemente (die man dem unwissenden Volke als besonders rücksichtslose Ausbeuter zu schildern versucht) vom Ankauf der Ländereien in Sibirien ausgeschlossen, um selber ungehindert einen Wucher niedrigster Art betreiben zu können.

Man spricht noch von der politischen Bedeutung des Adels und des Gutsbesitzerstandes in Sibirien: unter den Intellektuellen gebe es dort besonders viele ehemalige Verbannte, unzuverlässige Leute, und deshalb müsse man als Gegengewicht eine zuverlässige Stütze der Staatsgewalt, zuverlässige „Semstwo"-Elemente schaffen. Dieses Gerede enthält eine größere und tiefere Wahrheit, als sich der „Graschdanin"2 und die „Moskowskije Wjedomosti" vorstellen. Der Polizeistaat bringt die Masse der Bevölkerung derart gegen sich auf, dass er gezwungen ist, künstlich Gruppen von Personen zu schaffen, die geeignet sind, als Stützen des Vaterlandes zu dienen. Er muss eine Klasse von Großausbeutern schaffen, die alles der Regierung zu verdanken haben, die von deren Gnade abhängen, die mit Hilfe der erbärmlichsten Methoden (Spekulation, Wucher) ungeheure Gewinne herausschlagen und infolgedessen stets zuverlässige Anhänger jeder Willkür und Unterdrückung bleiben. Die asiatische Regierung braucht eine Stütze im asiatischen Großgrundbesitz, im Feudalsystem der „Verteilung von Gütern". Und wenn man in jetziger Zeit auch nicht „Güter mit Einwohnern" verteilen kann, so kann man doch Güter verteilen, zwischen denen die Bodenstücke der verarmenden Bauern verstreut liegen; wenn es unangebracht erscheint, Tausende von Desjatinen an höfische Schmarotzer direkt zu verschenken, so kann die Verteilung des Bodens verschleiert werden durch tausend Vergünstigungen beim Verkauf und bei der „Verpachtung" (auf 99 Jahre). Kann man diese Bodenpolitik anders bezeichnen, denn als eine Frondienstpolitik, sobald man sie mit der Bodenpolitik moderner fortgeschrittener Länder, z. B. mit der Amerikas, vergleicht? Dort würde es niemand wagen, über Genehmigung oder Verbot von Übersiedlungen auch nur zu sprechen, denn jeder Bürger hat das Recht, überzusiedeln, wohin es ihm beliebt. Dort hat jeder, der Landwirtschaft treiben will, das gesetzliche Recht, die freien Ländereien in den Grenzgebieten des Staates in Besitz zu nehmen. Dort wird nicht eine Klasse asiatischer Satrapen geschaffen, sondern eine Klasse energischer Farmer, die die gesamten Produktivkräfte des Landes zur Entfaltung gebracht haben. Dort steht die Arbeiterklasse, dank dem Überflusse an freien Ländereien, in Bezug auf die Höhe des Lebensniveaus an erster Stelle.

Und zu was für einem Zeitpunkt ist unsere Regierung mit ihrem Frongesetz auf den Plan getreten! Mitten in schwerster industrieller Krisis, wo Zehntausende und Hunderttausende keine Beschäftigung finden, wo Millionen von Bauern einer neuen Hungersnot ausgesetzt sind. Die Regierung richtet ihre ganze Sorge darauf, dass kein „Lärm" über die Notlage geschlagen wird. Zu diesem Zweck hat sie die arbeitslosen Arbeiter in ihre Heimat ausgewiesen, hat sie das Verpflegungswesen aus den Händen der Semstwos in die Hände der Polizeibeamten gelegt, hat sie Privatpersonen die Einrichtung von Speisestellen für die Hungernden verboten, hat sie die Zeitungen geknebelt. Und als dann der den Satten unangenehme „Lärm" über die Hungersnot verstummte, da schickte sich Väterchen Zar an zu helfen, zu helfen – den notleidenden Grundbesitzern, den unglücklichen Höflingen und Generalen. Wir wiederholen: Unsere Aufgabe ist es jetzt, Aufklärung über dieses neue Gesetz in die Massen zu tragen. Selbst die Schichten der unwissendsten Arbeiter, selbst die noch so rückständigen und eingeschüchterten Bauern werden, wenn sie das Gesetz kennenlernen, begreifen, wem die Regierung dient und was für eine Regierung das Volk braucht.

1 Der genaue Titel des Gesetzes lautet: „Allerhöchster Erlass, bestätigt am 8. Juni 1901, über die Zuweisung von Staatsländereien in Sibirien an Privatpersonen." Dieses Gesetz wurde in Nummer 157 des „Regierungsanzeigers" vom 31. Juli (13. August) veröffentlicht und in Nummer 210 der „Moskowskije Wjedomosti" vom 2. August nachgedruckt.

2 „Graschdanin" („Der Bürger") war eine von W. P. Meschtscherski herausgegebene Zeitung (in den siebziger Jahren gehörten G. K. Gradowski und F. M. Dostojewski der Redaktion an). Ursprünglich trug die Zeitung einen gemäßigt-konservativen Charakter mit slawophilem Einschlag, in den neunziger Jahren und später war der „Graschdanin" das Organ des extrem-reaktionären Flügels des Adels.

Kommentare