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Wladimir I. Lenin 19010700 Die Hetze gegen das Semstwo und die Hannibale des Liberalismus

Wladimir I. Lenin: Die Hetze gegen das Semstwo1 und die Hannibale des Liberalismus2

[Geschrieben Ende Juni – Anfang Juli 1901 Zum ersten Mal veröffentlicht Dezember 1901 in der Zeitschrift „Sarja" Nr. 2/3 Gez. T. P. Nach Sämtliche Werke, Band 4.1, Wien-Berlin 1928, S. 139-191]

Wenn vom russischen Bauer gesagt worden ist, seine größte Armut sei, dass ihm das Bewusstsein seiner Armut fehlt, so kann man vom russischen Spießbürger oder Untertanen sagen, dass ihm, der arm an Bürgerrechten ist, vor allem das Bewusstsein seiner Rechtlosigkeit fehlt. Ebenso wie der Bauer sich an sein hoffnungsloses Elend gewöhnt hat, wie er sich gewöhnt hat, zu leben, ohne nachzudenken über die Ursachen und die Möglichkeit der Beseitigung dieses Elends, ist auch der russische Spießer überhaupt gewöhnt an die Allmacht der Regierung, gewöhnt zu leben, ohne darüber nachzudenken, ob diese Allmacht sich wird weiter halten können und ob nicht neben ihr Erscheinungen vorhanden sind, die diese veraltete politische Ordnung untergraben. Ein besonders wirksames „Gegengift" gegen dieses mangelnde politische Bewusstsein und diese Lethargie sind gewöhnlich „vertrauliche Dokumente"A, die zeigen, dass nicht nur irgendwelche verzweifelte Tollköpfe oder verbissene Feinde der Regierung, sondern dass sogar die Mitglieder der Regierung selbst, die Minister und der Zar mit inbegriffen, die Unsicherheit der absolutistischen Herrschaftsform erkennen und alle möglichen Methoden ausfindig zu machen suchen, um ihre Lage, die sie absolut nicht befriedigt, zu verbessern. Zu Dokumenten dieser Art gehört eine Denkschrift Wittes, der, nachdem er sich mit dem Innenminister Goremykin wegen der Frage der Einführung der Semstwo-Institutionen in den Randgebieten überworfen hatte, sich entschloss, seinen Scharfsinn und seine Treue für den Absolutismus durch die Abfassung einer Anklageschrift gegen das Semstwo besonders zu bekundenB.

Gegen das Semstwo wird die Anklage erhoben, dass es mit dem Absolutismus unvereinbar sei, das es seinem Charakter nach konstitutionell sei, dass seine Existenz unvermeidlich Reibungen und Zusammenstöße zwischen den Vertretern der Gesellschaft und der Regierung erzeugen müsse. Die Anklageschrift ist auf Grund eines (verhältnismäßig) sehr umfangreichen und gar nicht schlecht bearbeiteten Materials abgefasst, und da es eine Anklageschrift in politischer Angelegenheit ist (und zwar in einer ziemlich eigenartigen), so kann man überzeugt sein, dass sie mit nicht geringerem Interesse und mit nicht geringerem Nutzen gelesen werden wird als die Anklageschriften der politischen Prozesse, die einst von unseren Zeitungen veröffentlicht wurden.

I.

Versuchen wir zu analysieren, ob die Behauptung, dass unser Semstwo eine konstitutionelle Institution sei, durch die Tatsachen bestätigt wird, und wenn ja, in welchem Grade und in welchem Sinne.

Für diese Frage ist die Epoche der Einführung des Semstwo von besonders großer Bedeutung. Die Aufhebung der Leibeigenschaft war ein gewaltiger geschichtlicher Umschwung, der notgedrungen den die Klassengegensätze verhüllenden Polizeivorhang wegreißen musste. Die am festesten zusammengefügte, gebildetste und an den Besitz der politischen Macht am meisten gewöhnte Klasse – der Adel – offenbarte mit absoluter Bestimmtheit das Bestreben, die absolutistische Macht durch Repräsentativkörperschaften zu beschränken. Die Erwähnung dieser Tatsache in der Denkschrift Wittes ist außerordentlich lehrreich. „Erklärungen über die Notwendigkeit einer allgemeinen Adels-,Vertretung', über ,das Recht des russischen Volkes, seine gewählten Vertreter im Rat der obersten Gewalt zu haben', sind bereits in den Adelsversammlungen der Jahre 1859/60 gemacht worden". „Sogar das Wort ,Verfassung' ist gefallenC." „Auf die Notwendigkeit, die Gesellschaft zur Teilnahme an der Verwaltung aufzufordern, haben sowohl verschiedene Gouvernements-Komitees für Bauernangelegenheiten hingewiesen als auch Mitglieder der Komitees, die in die Redaktionskommissionen berufen wurden. ,Die Delegierten streben offen nach einer Verfassung', schrieb Nikitenko im Jahre 1859 in seinem Tagebuch."

Als nach der Veröffentlichung der Verordnung vom 19. Februar 1861 diese Hoffnungen auf den Absolutismus sich bei weitem nicht als verwirklicht erwiesen, und außerdem bei der Durchführung dieses Erlasses alle ,radikaleren' Elemente (wie N. Miljutin) aus der Verwaltung entfernt wurden, da nahm die Bewegung zugunsten der ,Repräsentativkörperschaft' einen einmütigeren Charakter an. Sie fand ihren Ausdruck in Anträgen, die in vielen Adelsversammlungen im Jahre 1862 eingebracht wurden, und in ganzen Adressen dieser Versammlungen in Nowgorod, Tula, Smolensk, Moskau, Petersburg, Twer. Von den Adressen ist die bemerkenswerteste die Moskauer Adresse, die um lokale Selbstverwaltung, öffentliches Gerichtsverfahren, obligatorischen Loskauf des bäuerlichen Bodens, Veröffentlichung des Budgets, Pressefreiheit und Einberufung einer Semskaja Duma (Landesversammlung) aus allen Klassen nach Moskau zur Vorbereitung eines einheitlichen Entwurfes der Reformen bat. Am schärfsten waren die Beschlüsse und die Adresse des Adels von Twer vom 2. Februar über die Notwendigkeit einer Reihe von zivilrechtlichen und wirtschaftlichen Reformen (z. B. Gleichberechtigung der Stände, obligatorischer Loskauf des bäuerlichen Bodens) und die Berufung von gewählten Vertretern des gesamten russischen Landes, als einziges Mittel zur befriedigenden Lösung der Fragen, die die Verordnung vom 19. Februar aufgeworfen, aber nicht gelöst hatD."

Trotz der administrativen und gerichtlichen Strafen, die über die Initiatoren der Adresse von Twer verhängt wurdenE – fährt Dragomanow fort – (übrigens nicht direkt wegen der Adresse, sondern wegen der scharf formulierten Motivierung des kollektiven Verlassens ihrer Posten als Schiedsrichter), wurden in verschiedenen Adelsversammlungen im Jahre 1862 und Anfang 1863 Erklärungen im gleichen Geiste abgegeben; in diesen Adelsversammlungen wurden gleichzeitig auch Entwürfe für die örtliche Selbstverwaltung ausgearbeitet."

In dieser Zeit ging auch unter den „Rasnotschinzy"3 eine konstitutionelle Bewegung vor sich und kam hier zum Ausdruck in geheimen Gesellschaften und in mehr oder minder revolutionären Flugschriften: „Welikoruss"4 (erschien vom August bis November 1861; an der Zeitschrift arbeiteten Offiziere mit, wie z. B. Obrutschew u. a.), „Semskaja Duma"5 (1862), „Semlja i Wolja" (1862/636) Dem „Welikoruss" wurde der Entwurf einer Adresse beigelegt, die, wie viele behaupteten, dem Kaiser zur Tausendjahrfeier Russlands im August 1862 überreicht werden sollte. In diesem Adressenentwurf hieß es u. a.: ,Möge Eure Majestät geruhen, in einer der Hauptstädte unseres russischen Vaterlandes, in Moskau oder Petersburg, die Vertreter der russischen Nation zusammenzuberufen, damit sie eine Verfassung für Russland ausarbeiten'…G"

Wenn wir uns noch den Aufruf des „Jungen Russland"7, die zahlreichen Verhaftungen und drakonischen Strafen gegen „politische" Verbrecher (Obrutschew, Michailow u. a.) in Erinnerung rufen, die gekrönt wurden durch die ungesetzliche und auf Grund von Fälschungen herbeigeführte Verurteilung Tschernyschewskis zu Zwangsarbeit, dann wird uns die gesellschaftliche Situation klar, durch die die Semstworeform erzeugt wurde. Wenn Witte in seiner „Denkschrift" sagt, dass „(bei der Schaffung der Semstwo-Institution zweifellos ein politischer Gedanke leitend war", dass man der liberalen und konstitutionellen Stimmung der Gesellschaft in den herrschenden Sphären „zweifellos Rechnung trug", so sagt er damit nur die halbe Wahrheit. Die offizielle, bürokratische Auffassung von den gesellschaftlichen Erscheinungen, die der Verfasser der „Denkschrift" überall offenbart, äußert sich auch hier, äußert sich in der Ignorierung der revolutionären Bewegung, in der Vertuschung der drakonischen Unterdrückungsmaßnahmen, mit denen die Regierung sich gegen den Ansturm der revolutionären „Partei" verteidigte. Von unserem jetzigen Standpunkt aus erscheint es allerdings etwas seltsam, von einer revolutionären „Partei" und ihrem Ansturm zu Beginn der sechziger Jahre zu sprechen. Die vierzigjährige geschichtliche Erfahrung hat unsere Anforderungen in Bezug auf das, was man als revolutionäre Bewegung und revolutionären Ansturm bezeichnen kann, stark erhöht. Man darf aber nicht vergessen, dass damals, nach dreißigjährigem Nikolausschen Regime niemand imstande war, den weiteren Gang der Ereignisse vorauszusehen, niemand die wirkliche Stärke des Widerstands der Regierung, die wirkliche Stärke der Volksempörung bestimmen konnte. Die Belebung der demokratischen Bewegung in Europa, die Gärung in Polen, die Unzufriedenheit in Finnland, die Forderung der gesamten Presse und des gesamten Adels nach politischen Reformen, die Verbreitung des „Kolokol" in ganz Russland, die machtvolle Propaganda Tschernyschewskis, der es verstand, auch mit zensurierten Aufsätzen wirkliche Revolutionäre zu erziehen, das Erscheinen von Flugblättern, die Erregung unter den Bauern, die „sehr oft"H mit Hilfe von Militär und unter Blutvergießen gezwungen wurden, die „Verordnung", die sie vollkommen ausplünderte, anzunehmen, die kollektiven Weigerungen der adligen Schiedsrichter, eine solche „Verordnung" durchzuführen, die Studentenunruhen – unter solchen Verhältnissen musste selbst der vorsichtigste und nüchternste Politiker einen revolutionären Ausbruch für vollkommen möglich und einen Bauernaufstand für eine sehr ernste Gefahr halten. Unter solchen Bedingungen konnte die absolutistische Regierung, die ihre höchste Berufung darin sah, einerseits die Allmacht und Unverantwortlichkeit der Hofkamarilla und des Schmarotzerheeres von Beamten zu verteidigen, andererseits die schlechtesten Repräsentanten der Ausbeuterklasse zu unterstützen – nicht anders handeln, als durch rücksichtslose Ausrottung einzelner Personen, der bewussten und unerbittlichen Feinde der Tyrannei und der Ausbeutung (d. h. der „Rädelsführer" der „revolutionären Partei"), die Masse der Unzufriedenen einzuschüchtern und durch kleine Zugeständnisse zu bestechen. Zwangsarbeit für diejenigen, die es vorzogen zu schweigen, anstatt stumpfsinnige oder heuchlerische Lobgesänge auf die „große Befreiung" anzustimmen; Reformen (die unschädlich sind für den Absolutismus und die Ausbeuterklassen) für diejenigen, die überschäumten vor Begeisterung über den Liberalismus der Regierung und die Ära des Fortschritts.

Wir wollen nicht sagen, dass diese berechnete reaktionäre Polizeitaktik von allen oder auch nur einigen Mitgliedern der herrschenden Clique klar erkannt und systematisch durchgeführt wurde. Einzelne Mitglieder dieser Clique waren infolge ihrer Beschränktheit natürlich nicht imstande, über diese Taktik in ihrer Gesamtheit nachzudenken, und konnten sich naiv für den „Liberalismus" begeistern, ohne dessen polizeiliche Hülle zu merken. Im Großen und Ganzen aber ist nicht daran zu zweifeln, dass die kollektive Erfahrung und der kollektive Verstand der Herrschenden sie zwang, diese Taktik konsequent durchzuführen. Nicht umsonst hatten die meisten Aristokraten und Würdenträger die lange Schule des Dienstes unter Nikolausschem Regime und der Polizeidressur durchgemacht, waren sozusagen mit allen Wassern gewaschen. Sie wussten noch, wie die Monarchen bald mit dem Liberalismus liebäugelten, bald zu Henkern der Radischtschews wurden und die Araktschejews auf die treuen Untertanen „losließen"; sie erinnerten sich des 14. Dezembers 1825 und erfüllten die Funktion des europäischen Gendarmen, die die russische Regierung in den Jahren 1848/49 erfüllt hatte. Die historische Erfahrung des Absolutismus zwang nicht nur die Regierung, die Taktik der Einschüchterung und der Korruption zu befolgen, sondern veranlasste auch viele unabhängige Liberale, der Regierung diese Taktik zu empfehlen. Als Beweis für die Richtigkeit dieser Ansicht können wir die Äußerungen Koschelows und Kawelins anführen. A. Koschelow spricht sich in seiner Broschüre: „Verfassung, Absolutismus und Semskaja Duma" (Leipzig 1862) gegen eine Verfassung und für eine beratende Semskaja Duma aus, und sieht folgenden Einwand voraus:

Die Semskaja Duma einberufen, heiße Russland zur Revolution führen, d. h. zu einer Wiederholung der Etats généraux8 bei uns, die sich in den Konvent verwandelten und ihr Wirken mit den Ereignissen des Jahres 1792, mit Proskriptionen, mit der Guillotine, mit Noyades9 usw. abschlossen." „Nein, Herrschaften – antwortet Koschelow –, nicht die Einberufung der Semskaja Duma eröffnet, bereitet den Boden vor für die Revolution, wie ihr sie auffasst, sondern rascher und sicherer führen dazu die unentschlossenen und widerspruchsvollen Handlungen der Regierung, die einen Schritt vorwärts und einen Schritt rückwärts macht, die schwer ausführbare Erlasse und Gesetze, die Fesseln, die jedem Gedanken und jedem Wort angelegt werden; die polizeiliche Bespitzelung (die offene und die noch schlimmere geheime) der Handlungen der Stände und Privatpersonen, die kleinlichen Verfolgungen gewisser Personen, die Ausplünderung der Staatskasse, ihre übermäßig großen und unvernünftigen Ausgaben und Belohnungen, die Unfähigkeit der Staatsmänner, die dem Lande entfremdet sind, usw. usw. Noch sicherer können die Militärexekutionen, Kasematten und Verbannungen das Land, das eben erst aus langjähriger Unterdrückung erwacht ist, zur Revolution (wiederum in eurem Sinne) bringen: denn Wunden, die seit langem schmerzen, sind viel empfindlicher und leichter reizbar als frische Wunden. Aber nur keine Furcht: eine Revolution, wie sie in Frankreich, wie ihr glaubt, von Journalisten und anderen Schriftstellern gemacht worden ist, wird es bei uns nicht geben. Hoffen wir auch, dass in Russland keine Gesellschaft hitziger Tollköpfe gegründet wird (allerdings ist es schon schwerer, hierfür die Garantie zu übernehmen), die den Mord als Mittel zur Erreichung ihrer Ziele wählen. Aber viel wahrscheinlicher und gefährlicher ist, dass, unbemerkt für die Land-, Stadt- und Geheimpolizei, unter dem Einfluss der Spaltung, ein Einvernehmen zwischen Bauern und Kleinbürgern zustande kommt, denen sich junge und alte Leute, die Mitarbeiter und Anhänger der Zeitschriften „Welikoruss", des „Jungen Russland" usw. anschließen werden. Ein solches Einvernehmen, das alles zermalmt und nicht die Gleichheit vor dem Gesetz predigt, sondern die Gleichheit gegen das Gesetz (was für ein unvergleichlicher Liberalismus! Wir sind natürlich für die Gleichheit, doch für die Gleichheit nicht gegen das Gesetz – das Gesetz, das die Gleichheit vernichtet!), nicht die völkische, historische Dorfgemeinde, sondern ihre krankhafte Ausgeburt, und nicht die Macht der Vernunft, die manche Staatsmänner so fürchten, sondern die Macht der brutalen Gewalt, zu der diese Staatsmänner selber so gern ihre Zuflucht nehmen, – ein solches Einvernehmen, sage ich, ist bei uns viel eher möglich und kann viel stärker sein als eine gemäßigte, wohlgesinnte und selbständige Opposition gegen die Regierung, die unseren Bürokraten so sehr zuwider ist und die sie auf jede Art und Weise zu beengen und zu erdrosseln versuchen. Glaubt nicht, dass die Partei der inneren, geheimen, anonymen Presse zahlenmäßig gering und schwach sei, und bildet euch nicht ein, dass ihr alle Verzweigungen und Wurzeln erfasst habt, nein! Dadurch, dass ihr die Jugend behindert, ihre Studien zu Ende zu führen, dass ihr Jugendstreiche zu Staatsverbrechen erhebt, kleinliche Verfolgungen und Bespitzelungen einleitet, habt ihr die Stärke dieser Partei verzehnfacht, sie über das ganze Reich verstreut und vermehrt. Und kommt es zur Explosion infolge eines solchen Einvernehmens – wozu werden dann unsere Staatsmänner ihre Zuflucht nehmen? – Zur Militärgewalt? Wird man aber mit Sicherheit auf das Militär rechnen können?" (S. 49-51.)

Ergibt sich aus den schwülstigen Phrasen dieser Tirade nicht vollkommen klar die Taktik: die „Tollköpfe" und die Anhänger des „Einvernehmens zwischen den Bauern und den Kleinbürgern" auszurotten, die „wohlgesinnte, mäßige Opposition" dagegen zufriedenzustellen und durch Zugeständnisse zu zersetzen? Die Regierung hat sich aber als klüger und geschickter erwiesen, als die Herren Koschelow glaubten, und sie kam mit geringeren Zugeständnissen davon, als mit einer „beratenden" Semskaja Duma.

Und nun ein Privatbrief K. D. Kawelins an Herzen vom 6. August 1862:

Die Nachrichten aus Russland sind von meinem Standpunkt aus nicht so schlimm. Verhaftet ist nicht Nikolai, sondern Alexander Solowjewitsch. Die Verhaftungen wundern mich nicht und, ich gestehe Dir, sie erscheinen mir nicht empörend. Die revolutionäre Partei findet alle Mittel für gut, um die Regierung zu stürzen, und die letztere wehrt sich mit allen Mitteln. Anders waren die Verhaftungen und Verbannungen unter dem niederträchtigen Nikolaus. Menschen gingen zugrunde für ihre Gedanken, Überzeugungen, Glauben und Worte. Ich wollte, Du wärst die Regierung, und ich möchte dann sehen, wie Du gegen Parteien handeln würdest, welche im Geheimen und offen gegen Dich arbeiteten. Ich liebe Tschernyschewski sehr, sehr, aber einen solchen brouillon (zanksüchtiger, streitsüchtiger, unverträglicher Mensch der Zwietracht sät), einen so taktlosen, selbstbewussten Menschen sah ich noch nie. Für nichts und wieder nichts zu Grunde zu gehen! Dass die Feuersbrünste mit den Proklamationen im Zusammenhange stehen, das ist jetzt ganz zweifellosI."

Da haben wir ein Musterbild des lakaienhaften Professorenscharfsinns! Schuld an allem sind diese Revolutionäre, die so selbstbewusst sind, dass sie die phrasendreschenden Liberalen auspfeifen, die so streitsüchtig sind, dass sie offen und geheim gegen die Regierung arbeiten, die so ungeschickt sind, dass sie in die Peter-Paul-Festung geraten. Mit solchen Leuten würde auch er, der liberale Professor, mit „allen Mitteln" abrechnen, wenn er an der Macht stände.

II.

Die Semstwo-Reform war also eines jener Zugeständnisse, die die Welle der Volksempörung und des revolutionären Ansturms der absolutistischen Regierung entrissen hat. Wir haben uns mit der Charakteristik dieses Ansturms besonders ausführlich beschäftigt, um die Darstellung der „Denkschrift", deren der Bürokratie angehörende Verfasser den Kampf, der zu diesem Zugeständnis führte, vertuscht hat, zu ergänzen und zu berichtigen. Aber der halbe, feige Charakter dieses Zugeständnisses geht auch aus der „Denkschrift" ziemlich klar hervor:

Zu Anfang, als man eben erst an die Semstwo-Reform herangegangen war, halte man zweifellos die Absicht, den ersten Schritt auf dem Wege zur Einführung von Repräsentativkörperschaften zu tunJ; später aber, als Graf Lanskoj und N. A. Miljutin durch den Grafen Walujew abgelöst wurden, trat sehr klar der Wunsch zutage – den auch der ehemalige Innenminister10 nicht leugnete –, in ,versöhnlichem' Geiste, ,milde und ausweichend' zu handeln. ,Die Regierung ist sich selbst noch nicht klar über ihre Absichten,' sagte er damals. Mit einem Wort, es wurde der Versuch gemacht, der leider sehr oft von den Staatsmännern wiederholt wird und stets für alle nur negative Resultate zeitigt – der Versuch, zwischen zwei entgegengesetzten Meinungen ausweichend zu handeln, die liberalen Bestrebungen zu befriedigen, dabei aber das bestehende Regime aufrechtzuerhalten…"

Außerordentlich amüsant klingt hier das pharisäerhafte „leider"! Der Minister der Polizeiregierung stellt hier als einen Zufall die Taktik hin, die diese Regierung notgedrungen verfolgen muss, die sie bei der Verkündung der Gesetze über die Fabrikinspektion, des Gesetzes über die Verkürzung des Arbeitstages (2. Juni 1897) durchgeführt hat und die sie auch jetzt (1901) mit Hilfe des Generals Wannowski, der mit der „Gesellschaft" liebäugelt, durchführt.

Einerseits, hieß es in der Erläuterung zu der Verordnung über die Semstwo-Institutionen, bestehe die Aufgabe des geplanten Gesetzes in der möglichst vollkommenen und konsequenten Entwicklung der Prinzipien der lokalen Selbstverwaltung: ,die Semstwo-Verwaltung sei nur ein besonderes Organ ein und derselben Staatsgewalt'… Das damalige Organ des Innenministeriums, die „Sewernaja Potschta"11, machte in ihren Artikeln sehr deutliche Anspielungen darauf, dass die im Entstehen begriffenen Institutionen eine Schule der Repräsentativkörperschaften sein werden.

Andererseits… werden die Semstwo-Institutionen in der Erläuterung als private und gesellschaftliche Institutionen bezeichnet, die auf derselben Grundlage den allgemeinen Gesetzen unterstehen, wie einzelne Vereinigungen und Privatpersonen…

Wie die Bestimmungen der Verordnung von 1864 selbst, so sind insbesondere alle späteren Maßnahmen des Innenministeriums in Bezug auf die Semstwo-Institutionen ein genügend klarer Beweis dafür, dass man große Angst hatte vor der Selbständigkeit der Semstwo-Institutionen und der ungehemmten Entfaltung dieser Körperschaften, weil man sehr wohl verstand, wozu das führen würde." (Überall von uns gesperrt.) … „Es besteht kein Zweifel, dass diejenigen, die die Semstwo-Reform zu vollenden hatten, diese Reform nur als Zugeständnis an die öffentliche Meinung durchführten, um, wie es in der Erläuterung hieß, ,den durch die Gründung der Semstwo-Körperschaften geweckten unerfüllbaren Erwartungen und freien Bestrebungen der verschiedenen Stände eine Grenze zu setzen'; gleichzeitig aber hatten diese Leute eine klare Vorstellung von ihr (der Reform?), und ihr Streben ging dahin, die freie Entwicklungsmöglichkeit des Semstwos zu unterbinden, ihm einen privaten Charakter zu verleihen, seine Kompetenzen zu beschränken usw. Graf Walujew, der die Liberalen mit der Versprechung zu beruhigen suchte, dass der erste Schritt nicht der letzte sein werde, der den Anhängern der liberalen Richtung erklärte, oder vielmehr immer wiederholte, es sei notwendig, den Semstwo-Institutionen eine wirkliche und selbständige Macht einzuräumen, war bereits bei der Ausarbeitung der Verordnung vom Jahre 1864 in jeder Weise bemüht, diese Macht zu beschränken und die Semstwo-Institutionen unter eine strenge administrative Vormundschaft zu stellen…

Als man begann, die Semstwos einzuführen, da erwies es sich, dass diese Institutionen – die von keinem leitenden Gedanken durchdrungen waren, die ein Kompromiss zweier entgegengesetzter Richtungen waren – in jener Form, die ihnen die Verordnung von 1864 gegeben hatte, weder der ihnen als Basis dienenden Grundidee der Selbstverwaltung entsprachen noch der administrativen Ordnung, in die sie mechanisch hineingestellt worden waren und die man außerdem nicht reformiert und den neuen Lebensverhältnissen angepasst hatte. Die Verordnung von 1864 versuchte unvereinbare Dinge miteinander zu vereinigen und dadurch gleichzeitig Anhänger und Gegner der Semstwo-Selbstverwaltung zufriedenzustellen. Ersteren bot man äußerliche Dinge und Hoffnungen auf die Zukunft an, letzteren zu Gefallen wurde die Kompetenz der Semstwo-Institutionen außerordentlich elastisch festgelegt…"

Welch treffende Worte unsere Minister mitunter unvermutet gebrauchen, wenn sie irgendeinem Kollegen ein Bein stellen und ihren Scharfsinn demonstrieren wollen, und wie nützlich wäre es doch für alle gutmütigen russischen Spießer und alle Verehrer der „großen" Reformen, sich die erhabenen Lehren der Polizeiweisheit in goldenem Rahmen an die Wand zu hängen: „Die Liberalen beruhigen mit der Versprechung, dass der erste Schritt nicht der letzte sein werde", ihnen „äußerliche Dinge und Hoffnungen auf die Zukunft anbieten"! Besonders jetzt wäre es von Nutzen, beim Lesen irgendeines Zeitungsartikels oder einer Notiz über die „liebevolle Fürsorge" des Generals Wannowski sich dieser Lehren zu erinnern.

Also das Semstwo war von Anfang an dazu verurteilt, das fünfte Rad am Wagen der russischen Staatsverwaltung zu sein, ein Rad, das von der Bürokratie nur geduldet wurde insofern, als es deren Allmacht nicht störte und die Rolle der Abgeordneten der Bevölkerung beschränkte auf die bloße Praxis, auf die einfache technische Durchführung des Aufgabenkreises, der von eben derselben Beamtenschaft vorgezeichnet wurde. Die Semstwos hatten keine eigenen Exekutivorgane, sie mussten ihre Tätigkeit unter Zuhilfenahme der Polizei ausüben, die Semstwos waren nicht miteinander verbunden, sie wurden sofort unter die Kontrolle der Verwaltungsbehörden gestellt. Und nachdem die Regierung dieses für sie ungefährliche Zugeständnis gemacht hatte, ging sie unmittelbar nach Einführung der Semstwos daran, diese systematisch zu beengen und zu beschränken: die allmächtige Beamtenclique konnte sich mit einer gesamtständischen Vertretung nicht vertragen und begann, auf jede Art und Weise gegen sie zu hetzen. Die Zusammenstellung der Tatsachen über diese Hetze ist trotz ihrer offenbaren Unvollständigkeit ein sehr interessanter Abschnitt der „Denkschrift".

Wir haben gesehen, wie feige und unvernünftig die Liberalen in Bezug auf die revolutionäre Bewegung zu Anfang der sechziger Jahre handelten. Anstatt das „Einvernehmen der Kleinbürger und Bauern mit den Anhängern des Welikoruss" zu unterstützen, hatten sie Angst vor diesem „Einvernehmen" und schreckten damit die Regierung. Anstatt die von der Regierung verfolgten Rädelsführer der demokratischen Bewegung zu verteidigen, wuschen sie sich pharisäerhaft die Hände in Unschuld und rechtfertigten die Regierung. Und sie erhielten ihre gerechte Strafe für diese verräterische Politik der hochtrabenden Schönrednerei und schmachvollen Schwäche. Nachdem die Regierung mit den Leuten abgerechnet hatte, die nicht nur zu schwätzen, sondern auch für die Freiheit zu kämpfen fähig waren, fühlte sie sich stark genug, um die Liberalen auch aus den bescheidenen und unbedeutenden Positionen hinauszudrängen, die sie „mit Genehmigung der Obrigkeit" eingenommen hatten. Solange die ernste Gefahr eines „Einvernehmens der Kleinbürger und Bauern" mit den Revolutionären drohte, faselte das Innenministerium selbst von einer „Schule der Repräsentativkörperschaften", als aber die „taktlosen und überheblichen Schreier" und „Streithähne" beseitigt waren, da wurden die „Schulbuben" ohne Umstände in strenge Zucht genommen. Es beginnt eine tragikomische Epopöe: das Semstwo bittet um Erweiterung der Rechte und man nimmt ihm unerbittlich ein Recht nach dem anderen und beantwortet die Gesuche mit „väterlichen" Belehrungen. Doch lassen wir die geschichtlichen Daten sprechen, wenn auch nur die in der „Denkschrift" angeführten.

Am 12. Oktober 1866 stellt ein Rundschreiben des Innenministeriums die Semstwo-Angestellten in vollkommene Abhängigkeit von den Regierungsinstitutionen. Am 21. Oktober 1866 wird ein Gesetz erlassen, das das Recht der Semstwos auf Besteuerung der Handels- und Industrieunternehmen einschränkt. In der Petersburger Semstwo-Versammlung vom Jahre 1867 wird dieses Gesetz scharf kritisiert und (auf Vorschlag des Grafen A. P. Schuwalow) der Beschluss gefasst, bei der Regierung vorstellig zu werden, damit die durch dieses Gesetz berührten Fragen „durch gemeinsame Anstrengungen und Zusammenarbeit der Zentralbehörden und der Semstwos" geprüft werden. Dieses Gesuch beantwortet die Regierung mit der Schließung der Petersburger Semstwo-Institutionen und mit Repressalien: der Vorsitzende des Petersburger Semstwo-Amtes, Kruse, wird nach Orenburg, Graf Schuwalow – nach Paris verbannt, dem Senator Luboschtschinski wird befohlen, seinen Abschied einzureichen. Das Organ des Innenministeriums, die „Sewernaja Potschta"12, bringt einen Artikel, in dem eine so strenge Strafmaßnahme damit erklärt wurde, dass „die Semstwo-Versammlungen seit Eröffnung ihrer Sitzungen nicht in Übereinstimmung mit dem Gesetz gehandelt hätten" (mit welchem Gesetz? und warum hat man die Schuldigen nicht vor Gericht gestellt? Man hatte doch soeben ein schnelles, gerechtes und mildes Gericht eingeführt?) „und anstatt die Semstwo-Versammlungen anderer Gouvernements zu unterstützen und die ihnen allerhöchst verliehenen Rechte zu benutzen für eine wirkliche Pflege der ihnen anvertrauten lokalen wirtschaftlichen Semstwo-Interessen" (d. h. anstatt sich demütig unterzuordnen und den „Intentionen" der Beamtenschaft zu folgen) „unaufhörlich das Bestreben an den Tag legten, durch ungenaue Darlegung der Dinge und durch falsche Auslegung der Gesetze Gefühle des Misstrauens und der Missachtung zur Regierung zu erregen13." Es ist nicht verwunderlich, dass nach dieser erbaulichen Epistel „die anderen Semstwos das Petersburger Semstwo nicht unterstützten, obgleich das Gesetz vom 21. November 1866 überall heftige Unzufriedenheit hervorgerufen hatte, viele bezeichneten es in den Semstwo-Versammlungen als gleichbedeutend mit der Aufhebung der Semstwos".

Am 16. Dezember 1866 erscheint eine „Erläuterung" des Senats, die den Gouverneuren das Recht einräumt, jeder von der Semstwo-Versammlung gewählten Person, die er – der Gouverneur – für unzuverlässig hält, die Bestätigung zu versagen. Am 4. Mai 1867 erscheint eine weitere Erläuterung des Senats: die Mitteilung beabsichtigter Maßnahmen der Semstwos an die anderen Gouvernements ist ungesetzlich, denn die Semstwo-Institutionen haben sich nur mit örtlichen Angelegenheiten zu befassen. Am 13. Juni 1867 erließ der Staatsrat eine allerhöchst bestätigte Verfügung, die die Veröffentlichung der Beschlüsse der Semstwo-, Städte- und Ständeversammlungen, der Berichte über Sitzungen, Diskussionen in den Sitzungen usw. ohne Erlaubnis der örtlichen Gouvernementsbehörden verbot. Ferner erweitert dasselbe Gesetz die Befugnisse der Vorsitzenden der Semstwo-Versammlungen, es räumt ihnen das Recht ein, die Versammlungen aufzuheben und macht es ihnen unter Androhung von Strafe zur Pflicht, Versammlungen aufzuheben, die im Widerspruch zum Gesetz stehende Fragen behandeln. Diese Maßnahme wurde von der Gesellschaft überaus feindselig aufgenommen, sie betrachtete sie als eine ernste Einschränkung der Semstwo-Tätigkeit.

Alle wissen – schrieb Nikitenko in seinem Tagebuch –, dass das Semstwo an Händen und Füßen gefesselt wird durch die neue Verordnung, auf Grund deren die Vorsitzenden der Semstwo-Versammlungen und die Gouverneure eine fast unbeschränkte Gewalt über das Semstwo bekommen."

Das Zirkular vom 8. Oktober 1868 ordnet sogar die Veröffentlichung von Berichten der Semstwo-Ämter der Erlaubnis der Gouverneure unter und begrenzt den Verkehr der Semstwos miteinander. Im Jahre 1869 wird eine Inspektion für die Volksschulen geschaffen, um das Semstwo von der wirklichen Verwaltung des Volksbildungswesens zurückzudrängen. Die am 19. September 1869 durch allerhöchsten Erlass bestätigte Verordnung des Ministerkomitees stellt fest, dass „die Semstwo-Institutionen weder ihrer Zusammensetzung noch ihren grundlegenden Prinzipien nach Regierungsbehörden sind". Das Gesetz vom 4. Juli 1870 und ein Zirkular vom 22. Oktober 1870 bestätigen und verschärfen die Abhängigkeit der Semstwoangestellten von den Gouverneuren. In einer Instruktion vom Jahre 1871 wird den Inspektoren der Volksschulen das Recht eingeräumt, Lehrer, die als unzuverlässig gelten, von ihren Posten zu entfernen, jeden Beschluss des Schulrats außer Kraft zu setzen und die betreffende Angelegenheit dem Kurator zur Entscheidung zu übergeben. Am 25. Dezember 1873 äußert Alexander II. in einem Erlass an den Minister für Volksbildung die Befürchtung, die Volksschule könne bei nicht genügend sorgfältiger Beaufsichtigung „in ein Werkzeug der sittlichen Zersetzung des Volkes verwandelt werden, wozu bereits gewisse Versuche gemacht worden sind", und befiehlt den Adelsmarschällen, durch aktivste Mitarbeit den moralischen Einfluss dieser Schulen zu fördern. Dann erscheint im Jahre 1874 eine neue Verordnung über die Volksschulen, die die gesamte Verwaltung des Schulwesens in die Hände der Volksschuldirektoren legt. Das Semstwo „protestiert", wenn man ohne Ironie das Ersuchen um Revision des Gesetzes unter Hinzuziehung von Semstwovertretern als Protest bezeichnen kann (Eingabe des Semstwo von Kasan im Jahre 1874). Die Petition wurde natürlich abgelehnt. Usw. usw.

III.

Das war der erste Unterrichtskursus, der den russischen Bürgern in der vom Innenministerium geschaffenen „Schule der Repräsentativkörperschaften" erteilt wurde. Glücklicherweise gab es außer den politischen Schulbuben, die aus Anlass der konstitutionellen Erklärungen der sechziger Jahre schrieben: „Es ist an der Zeit, mit den Dummheiten aufzuhören und endlich an die praktische Arbeit zu gehen, praktische Arbeit aber kann jetzt nur in den Semstwo-Institutionen geleistet werden, sonst nirgendsK" – in Russland auch „Streithähne", die sich mit einem solchen „Taktgefühl" nicht zufrieden gaben und mit ihrer revolutionären Propaganda ins Volk gingen. Obgleich sie unter dem Banner einer Theorie marschierten, die ihrem Wesen nach nicht revolutionär war, so weckte ihre Propaganda dennoch in breiten Schichten der gebildeten Jugend ein Gefühl der Unzufriedenheit und des Protestes. Trotz der utopischen Theorie, die den politischen Kampf ablehnte, führte die Bewegung zum verzweifelten Kampf eines kleinen Häufleins von Helden gegen die Regierung, zu einem Kampfe um politische Freiheit. Dank diesem Kampfe und nur dank ihm änderte sich die Lage der Dinge noch einmal, die Regierung sah sich noch einmal gezwungen, Zugeständnisse zu machen, – und die liberale Gesellschaft erbrachte wiederum den Beweis ihrer politischen Unreife, ihrer Unfähigkeit, die Kämpfer zu unterstützen und einen wirklichen Druck auf die Regierung auszuüben. Die konstitutionellen Bestrebungen der Semstwos traten klar zu Tage, erwiesen sich aber als ohnmächtige „Aufwallung". Und das, obwohl der Semstwoliberalismus an sich in politischer Hinsicht einen merklichen Schritt vorwärts tat. Besonders bemerkenswert ist sein Versuch, eine illegale Partei zu bilden und ein eigenes politisches Organ zu schaffen. Die „Denkschrift" Wittes stellt aus mehreren illegalen Schriften (Kennan, Dragomanow, Tichomirow) Material zusammen, um jenen „schlüpfrigen Weg" (Seite 98) zu kennzeichnen, den die Semstwos betreten hatten. Ende der siebziger Jahre fanden einige Kongresse der Semstwo-Liberalen statt. Die Liberalen beschlossen, „Maßnahmen zu einer wenigstens vorübergehenden Einstellung der zerstörenden Tätigkeit der extremen revolutionären Partei zu ergreifen, denn sie waren überzeugt, dass man mit friedlichen Mitteln nichts erreichen könne, solange die Terroristen die Regierung durch Drohungen und Gewaltakte reizen und beunruhigen." (Seite 99.) Also, anstatt für die Ausbreitung des Kampfes, für die Unterstützung der einzelnen Revolutionäre durch eine mehr oder minder breite Gesellschaftsschicht, für die Organisation eines allgemeinen Ansturms (in Form von Demonstrationen, von Einstellung der Zahlung der den Semstwos vorgeschriebenen Abgaben usw.) zu sorgen, fangen die Liberalen wiederum an, von „Taktgefühl" zu sprechen: die Regierung dürfe nicht „gereizt" werden, „friedliche Mittel" müsse man anwenden, obwohl diese friedlichen Mittel in den sechziger Jahren so glänzend ihre Unzulänglichkeit erwiesen hatten!L Es versteht sich, dass die Revolutionäre sich auf irgendeine endgültige Einstellung oder auf eine Unterbrechung der Kampfaktionen nicht eingelassen haben. Die Semstwoleute bildeten daraufhin eine „Liga der oppositionellen Elemente", die sich später in die „Gesellschaft des Semstwo-Verbandes und der Selbstverwaltung" oder „Semstwoverband" verwandelte14. Das Programm des Semstwo-Verbandes forderte:

1. Rede- und Pressefreiheit; 2. Garantien der Person und 3. Einberufung einer konstituierenden Versammlung.

Der Versuch, illegale Broschüren in Galizien herauszugeben, misslang (die österreichische Polizei beschlagnahmte die Manuskripte und verhaftete die Personen, die diese Manuskripte drucken wollten), und zum Organ des „Semstwo-Verbandes" wurde von August 1881 ab die Zeitschrift „Wolnoje Slowo" („Das freie Wort"15), die unter der Redaktion Dragomanows (eines ehemaligen Professors der Kiewer Universität) in Genf erschien.

Letzten Endes – schrieb Dragomanow selbst im Jahre 1888 kann man den Versuch der Herausgabe eines Semstwo-Organs in Gestalt des Wolnoje Slowo" nicht als gelungen bezeichnen, schon allein deshalb, weil die Redaktion Semstwo-Materialien eigentlich erst seit Ende 1882 regelmäßig zu erhalten begann, während bereits im Mai 1883 die Zeitschrift ihr Erscheinen einstellte." (Seite 40 des erwähnten Buches.)

Der Misserfolg des liberalen Organs war das natürliche Ergebnis der Schwäche der liberalen Bewegung. Am 20. November 1878 wandte sich Alexander II. in Moskau an die Stände-Vertreter mit einer Rede, in der er die Hoffnung aussprach, dass sie „dazu beitragen würden, die verirrte Jugend von jenem verderblichen Wege abzuhalten, auf den unzuverlässige Leute sie zu drängen versuchen". Dann erschien auch im „Prawitelstwenny Wjestnik" („Regierungsanzeiger") (1878, Nr. 186) ein Aufruf, der die Gesellschaft zur Mitwirkung aufforderte. Als Antwort darauf erklärten fünf Semstwo-Versammlungen (Charkow, Poltawa, Tschernigow, Samara und Twer), dass die Einberufung eines Semski Sobor notwendig sei.

Man kann auch annehmen" – schreibt der Verfasser der „Denkschrift", Witte, der den Inhalt dieser Adressen, von denen nur drei vollständig in die Presse gelangten, ausführlich wiedergibt –, „dass die Erklärungen der Semstwos über die Einberufung eines Semski Sobor viel zahlreicher gewesen wären, wenn das Innenministerium nicht rechtzeitig Maßnahmen ergriffen hätte, um solche Erklärungen zu verhindern. An die Adelsmarschälle, die in den Gouvernementsversammlungen der Semstwos den Vorsitz führten, wurde ein Zirkular gesandt, das ihnen vorschrieb, selbst die Verlesung solcher Adressen in den Versammlungen zu verhindern. An einigen Orten wurden Semstwo-Abgeordnete verhaftet und ausgewiesen und in Tschernigow wurden sogar Gendarmen in den Sitzungssaal gebracht, die den Saal gewaltsam räumten." (S. 104.)

Die liberalen Zeitschriften und Zeitungen unterstützten diese Bewegung. Die an Loris-Melikow gerichtete Petition der „25 namhaften Moskauer Bürger" verlangte die Einberufung einer unabhängigen Versammlung von Semstwo-Vertretern, die aufgefordert werden sollte, an der Verwaltung des Landes teilzunehmen. Und die Ernennung Loris-Melikows zum Innenminister war scheinbar ein Zugeständnis der Regierung. Aber eben nur scheinbar, denn es wurden nicht nur keine energischen Schritte unternommen, sondern nicht einmal irgendwelche positiven und keine Missdeutungen zulassenden Erklärungen abgegeben. Loris-Melikow berief die Redakteure der Petersburger periodischen Presse zu sich und setzte ihnen sein „Programm" auseinander: die Wünsche, Nöte usw. der Bevölkerung in Erfahrung bringen, dem Semstwo u. a. die Möglichkeit geben, ihre gesetzlichen Rechte auszunützen (das liberale Programm sichert den Semstwos die „Rechte", die das Gesetz ihnen systematisch beschneidet!) usw. Der Verfasser der „Denkschrift" schreibt:

Durch die Teilnehmer an der Unterhaltung – zu diesem Zwecke waren sie ja eingeladen worden – wurde das Programm des Ministers in ganz Russland verkündet. Im Grunde genommen versprach es nichts Bestimmtes. Jeder konnte aus ihm herauslesen, was ihm passte, d. h. alles oder nichts. Recht hatte auf seine Weise (nur auf ,seine Weise' und nicht unbedingt auf ,jede Weise'?) eines der illegalen Flugblätter jener Zeit, das über dieses Programm äußerte, in ihm sei ein ,Fuchsschwanz' zu sehen und gleichzeitig fletsche es mit ,Wolfszähnen'16."

Ein solcher Ausfall gegen das Programm und seinen Verfasser ist um so begreiflicher, als der Graf, während er es den Pressevertretern mitteilte, diesen eindringlich empfahl, „die öffentliche Meinung nicht umsonst mit fantastischen Illusionen zu verwirren und zu erregen". Doch die liberalen Semstwoleute hörten nicht auf diese Wahrheit des illegalen Flugblattes und hielten das Wedeln mit dem „Fuchsschwanz" für einen „neuen Kurs", dem man sich anvertrauen durfte. „Das Semstwo glaubte an die Regierung und sympathisierte mit ihr" – wiederholt die „Denkschrift" Wittes die Worte der illegalen Broschüre „Die Ansichten der Semstwo-Versammlungen über die gegenwärtige Lage Russlands", – „gleichsam als fürchtete es, zu weit vorauszueilen und übermäßige Forderungen an die Regierung zu stellen". Ein charakteristisches Bekenntnis der frei ihre Meinung äußernden Semstwo-Anhänger. Der Semstwo-Verband hatte soeben auf dem Kongress im Jahre 1880 beschlossen, „sich für eine zentrale Volksvertretung mit unbedingt nur einer Kammer und allgemeinem Stimmrecht einzusetzen", und nun wird dieser Beschluss, sich einzusetzen, verwirklicht durch die Taktik „Nicht-zu-weit-vorauseilen", „glauben und Sympathie haben" für die zweideutigen und zu nichts verpflichtenden Erklärungen! Mit unverzeihlicher Naivität bildeten die Semstwo-Politiker sich ein, dass die Überreichung von Petitionen „sich einzusetzen" bedeute – und es „regnete Petitionen der Semstwos in Hülle und Fülle". Loris-Melikow machte am 28. Januar 1881 in einem alleruntertänigsten Immediatbericht den Vorschlag, eine Kommission aus gewählten Vertretern der Semstwos zu bilden, um Gesetzentwürfe auszuarbeiten, die durch den „allerhöchsten Willen" vorgeschrieben werden – und zwar lediglich mit Beratungsrecht. Eine besondere, von Alexander II. eingesetzte Kommission billigte diese Maßnahme, das Gutachten der Kommission vom 17. Februar 1881 wurde vom Zaren bestätigt, der auch den von Loris-Melikow vorgeschlagenen Text einer Regierungserklärung guthieß.

Zweifellos – schreibt der Verfasser der ,Denkschrift\ Witte –, hat die Errichtung einer solchen rein beratenden Kommission noch keine Verfassung geschaffen." „Aber – fährt er fort – es kann wohl kaum bestritten werden, dass das ein weiterer Schritt (nach den Reformen der sechziger Jahre) zur Verfassung und zu nichts anderem war." Und der Verfasser wiederholt die Meldung der ausländischen Presse, wonach Alexander II. über den Bericht Loris-Melikows geäußert haben soll: „Das sind ja die Etats généraux …" „Man empfiehlt uns nichts anderes, als eine Notablenversammlung Ludwigs XVI …"

Wir unsererseits bemerken, dass die Durchführung des Entwurfs Loris-Melikows unter bestimmten Bedingungen ein Schritt zur Verfassung hätte sein können, es aber nicht zu sein brauchte: alles hing davon ab, was stärker war – der Druck der revolutionären Partei und der liberalen Gesellschaft oder der Gegendruck der sehr mächtigen, geschlossenen und in ihren Mitteln nicht wählerischen Partei der unentwegten Anhänger des Absolutismus. Wenn man reden will nicht davon, was hätte sein können, sondern was in Wirklichkeit war, so muss man die unbestreitbare Tatsache des Schwankens der Regierung feststellen. Die einen waren für den entschiedenen Kampf gegen den Liberalismus, die anderen – für Zugeständnisse. Aber – und das ist besonders wichtig – auch diese letzten schwankten, sie hatten kein vollkommen klares Programm und überragten kaum das Niveau gerissener Bürokraten.

Es hatte den Anschein – sagt der Verfasser der ,Denkschrift', Witte –, als fürchtete sich Graf Loris-Melikow, der Sache gerade ins Antlitz zu schauen, als fürchtete er sich davor, sein Programm ganz genau festzulegen; er setzte vielmehr – allerdings in anderer Richtung – die frühere ausweichende Politik fort, die bereits Graf Walujew in Bezug auf die Semstwo-Institutionen verfolgt hatte.

Wie schon in der damaligen legalen Presse richtig festgestellt worden war, zeichnete sich das Programm Loris-Melikows durch große Unbestimmtheit aus. Diese Unbestimmtheit ist auch in allen späteren Handlungen und Äußerungen des Grafen zutage getreten. Einerseits erklärt er, der Absolutismus sei ,von der Bevölkerung isoliert', ,er betrachte die Unterstützung der Gesellschaft als die Hauptkraft'… die geplante Reform ,habe er nicht als etwas Endgültiges betrachtet, sondern er habe in ihr nur den ersten Schritt gesehen' usw. Andererseits erklärte der Graf gleichzeitig den Vertretern der Presse, dass ,… die in der Gesellschaft erwachten Hoffnungen nichts anderes seien als fantastische Illusionen …', und in seinem Immediatbericht an den Kaiser erklärte er kategorisch, dass der Semski Sobor ein ,gefährliches Experiment der Rückkehr zur Vergangenheit sein würde…', dass die von ihm geplante Maßnahme keine Bedeutung im Sinne einer Beschränkung des Absolutismus haben werde, denn sie habe nichts gemein mit den konstitutionellen Formen des Westens. Überhaupt zeichnet sich, wie L. Tichomirow richtig bemerkt, der Bericht selbst durch eine merkwürdig verworrene Form aus." (S. 117.)

Gegenüber den Freiheitskämpfern aber trieb dieser berüchtigte Held der „Diktatur des Herzens", Loris-Melikow, „die Grausamkeit bis zu der noch nie dagewesenen Tatsache der Hinrichtung eines siebzehnjährigen Knaben wegen eines bei ihm gefundenen Flugblattes. Loris-Melikow vergaß auch die entlegensten Winkel Sibiriens nicht, um dort die Lage der Menschen zu verschlimmern, die ihrer Propaganda wegen litten." (V. Sassulitsch in Nr. 1 des „Sozialdemokrat", S. 8417.) Bei einem solchen Schwanken der Regierung hätte nur eine Kraft, die zu ernstem Kampfe fähig war, die Verfassung erringen können, aber diese Kraft war nicht vorhanden: die Revolutionäre erschöpften sich durch den 1. März18, in der Arbeiterklasse aber gab es weder eine breite Bewegung noch eine feste Organisation; die liberale Gesellschaft erwies sich auch diesmal politisch so unreif, dass sie sich auch nach der Ermordung Alexanders II. lediglich auf Petitionen beschränkte. Es petitionierten die Semstwos und die Städte, es petitionierte die liberale Presse, „Porjadok" („Ordnung")19, „Strana" („Das Land")20, „Golos" („Die Stimme")21, es petitionierten in besonders gutgesinnter, schlau abgefasster und nebelhafter Form die liberalen Verfasser von Denkschriften (Marquis Welepolski, Prof. Tschitscherin und Prof. Gradowski – die „Denkschrift" Wittes schildert ihren Inhalt auf Grund der Londoner BroschüreM: „Die Verfassung des Grafen Loris-Melikow", herausgegeben vom Fond der Freien russischen Presse, London 1893) – indem sie „geistreiche Versuche, den Monarchen auf eine solche Weise über den Rubikon hinüber zu ziehen, dass er selber nichts davon merkt", ausheckten22. Alle diese vorsichtigen Bittschriften und schlauen Erfindungen besaßen selbstverständlich keine revolutionäre Kraft, waren ein Nichts, und die Partei des Absolutismus siegte, sie siegte, obgleich am 8. März 1881 die Mehrheit des Ministerrats sich (mit 7 gegen 5 Stimmen) für das Projekt Loris-Melikows aussprach. So heißt es in der gleichen Broschüre, aber der Verfasser der „Denkschrift", Witte, der sie eifrig abschreibt, erklärt hier aus irgendeinem Grunde: „Was in dieser Beratung – vom 8. März – vor sich ging und welches ihr Resultat war, ist authentisch nicht bekanntgeworden, sich auf die Gerüchte zu verlassen, die in die ausländische Presse gelangen, wäre unvorsichtig." (S. 124.)

Am 29. April 1881 erschien ein Manifest, das Katkow als „Manna vom Himmel" bezeichnete – ein Manifest über die Aufrechterhaltung und den Schutz des Absolutismus.

Ein zweites Mal, nach der Befreiung der Bauern, war der revolutionäre Ansturm zurückgeschlagen worden, die liberale Bewegung wurde gleich darauf und als Folge dieser Tatsache ein zweites Mal durch die Reaktion abgelöst, die die russischen fortschrittlichen Kreise natürlich bitterlich zu beklagen begannen. Was sind wir doch für Meister im Klagen: wir beklagen die Taktlosigkeit und die Überheblichkeit der Revolutionäre, wenn sie die Regierung angreifen; wir beklagen die Unentschlossenheit der Regierung, wenn sie, da sie sich keiner wirklichen Kraft gegenübergestellt sieht, Scheinkonzessionen macht und mit der einen Hand nimmt, was sie mit der anderen gegeben hat; wir beklagen die „Zeit ohne Ideen und ohne Ideale", während die Regierung, nachdem sie mit den vom Volke nicht unterstützten Revolutionären abgerechnet hat, bemüht ist, das Verlorene zurückzuholen, und zu neuen Kämpfen rüstet.

IV.

Die Epoche der Diktatur des Herzens, wie das Ministerium Loris-Melikow genannt wurde, hat unseren Liberalen gezeigt, dass sogar der „Konstitutionalismus" eines Ministers, selbst der des Ministerpräsidenten, auch bei völligem Schwanken der Regierung, auch wenn der „erste Schritt zur Reform" von der Mehrheit des Ministerrats gebilligt wird, absolut nichts garantiert, wenn keine ernste gesellschaftliche Kraft vorhanden ist, die die Regierung zur Kapitulation zu zwingen vermag. Interessant ist ferner, dass auch die Regierung Alexanders III. sogar nach der Verkündung des Manifestes über die Aufrechterhaltung des Absolutismus nicht sofort alle ihre Krallen zu zeigen begann, sondern es eine Zeitlang für notwendig hielt, den Versuch zu machen, die „Gesellschaft" an der Nase herumzuführen. Wenn wir sagen „an der Nase herumführen", so wollen wir damit die Politik der Regierung nicht irgendeinem machiavellistischen Plan23 dieses oder jenes Ministers oder Würdenträgers usw. zuschreiben. Man kann nicht stark genug betonen, dass das System der Scheinzugeständnisse und einiger scheinbar wichtiger Schritte des „Entgegenkommens" gegenüber der öffentlichen Meinung allen heutigen Regierungen, auch der russischen, in Fleisch und Blut übergegangen ist, denn auch die russische Regierung hat im Laufe vieler Generationen die Notwendigkeit erkannt, der öffentlichen Meinung in dieser oder jener Weise Rechnung zu tragen, sie hat bereits viele Generationen hindurch Staatsmänner erzogen, die die Kunst der inneren Diplomatie meisterhaft beherrschen. Ein solcher Diplomat, der die Mission hatte, die Rückkehr der Regierung zur offenen Reaktion zu verschleiern, war der Innenminister Graf Ignatjew, der Loris-Melikow ablöste. Ignatjew entpuppte sich mehr als einmal als Betrüger und Demagoge reinsten Wassers, und es gehört schon die „Harmlosigkeit" eines Polizisten dazu, wenn der Verfasser der „Denkschrift", Witte, die Periode dieses Ministeriums als einen „misslungenen Versuch bezeichnet, ein lokal sich selbst verwaltendes Land mit einem absoluten Zaren an der Spitze zu schaffen". Allerdings war damals gerade eine solche „Formel" von I. S. Aksakow aufgestellt worden, sie wurde von der Regierung für ihre Manöver benutzt, Katkow ging damit hausieren, indem er mit aller Gründlichkeit den notwendigen Zusammenhang zwischen der örtlichen Selbstverwaltung und der Verfassung nachzuweisen suchte. Es wäre aber kurzsichtig, die bekannte Taktik der Polizeiregierung (eine Taktik, die ihrer ganzen Natur notwendig eigen ist) durch das Vorherrschen dieser oder jener politischen Anschauungen im damaligen Moment erklären zu wollen.

Ignatjew erließ ein Zirkular, in dem er versprach, die Regierung werde „unverzüglich Maßnahmen ergreifen, um richtige Methoden festzulegen, die der lebendigen Mitarbeit der Vertreter der lokalen Organisationen bei der Durchführung der allerhöchsten Pläne den größten Erfolg sichern würden". Die Semstwos beantworteten diese „Aufforderung" mit Petitionen über die „Einberufung von Volksvertretern" (aus der „Denkschrift" des Abgeordneten des Tscherepowetzer Semstwos; die Veröffentlichung der Ansichten des Abgeordneten des Semstwo von Kyrillowsk wurde vom Gouverneur sogar verboten). Die Regierung empfahl den Gouverneuren, solche Petitionen „nicht weiterzuleiten", und „gleichzeitig wurden offenbar Maßnahmen getroffen, um das Zustandekommen ähnlicher Petitionen in anderen Semstwo-Versammlungen zu verhindern". Es wird der berüchtigte Versuch unternommen, von den Ministern ausgewählte „Sachverständige" zusammenzuberufen (zur Erörterung der Frage einer Herabsetzung der Ablösungszahlungen, einer Regelung der Umsiedlungen, einer Reform der örtlichen Verwaltung usw.). „Die Arbeiten der Sachverständigen-Kommissionen fanden keinen Anklang in der Gesellschaft, in den Semstwos aber riefen sie trotz aller Vorbeugungsmaßnahmen sogar einen direkten Protest hervor. Zwölf Semstwo-Versammlungen reichten Petitionen ein, in denen sie verlangten, dass die Semstwo-Vertreter nicht nur in einzelnen Fällen und nicht durch Ernennung der Regierung, sondern ständig und durch Wahl der Semstwos zur Teilnahme an der gesetzgebenden Tätigkeit herangezogen werden." Im Semstwo von Samara wurde ein solcher Antrag von dem Vorsitzenden unterbunden, „worauf die Versammlung zum Protest auseinanderging" (Dragomanow, S. 29 des erwähnten Werkes; „Denkschrift", S. 131). Dass Graf Ignatjew die Semstwoleute prellte, kann man z. B. aus folgender Tatsache ersehen: „Der Adelsmarschall von Poltawa, Herr Ustimowitsch, der Verfasser des Entwurfs der Konstitutionsadresse vom Jahre 1879, erklärte offen in der Gouvernements-Adelsversammlung, er habe vom Grafen Ignatjew die positive Zusicherung (sic!) erhalten, dass die Regierung die Vertreter des Landes zur Teilnahme an der gesetzgebenden Arbeit einberufen werde." (Dragomanow, ebenda.)

Die Verschleierung des Übergangs der Regierung zu einem entschieden neuen Kurs fand durch diese Machenschaften Ignatjews ein Ende, und der am 30. Mai 1882 zum Innenminister ernannte D. A. Tolstoi erwarb sich nicht umsonst den Beinamen eines „Kampfministers". Sogar Gesuche der Semstwos um Erlaubnis zur Abhaltung irgendwelcher privaten Kongresse wurden ohne Umstände abgelehnt, und es ist sogar vorgekommen, dass auf die Beschwerde des Gouverneurs hin wegen „systematischer Opposition" eines Semstwos (von Tscherepowetz) das Semstwo-Amt durch eine Regierungskommission ersetzt und die Mitglieder des Semstwo-Amtes auf administrativem Wege verbannt wurden. D. A. Tolstoi, ein treuer Schüler und Nachfolger Katkows, beschloss schon direkt eine „Reform" der Semstwo-Institutionen vorzunehmen, von dem Grundgedanken ausgehend (der, wie wir gesehen haben, wirklich von der Geschichte bestätigt wurde), dass „die Opposition gegen die Regierung sich im Semstwo ein festes Nest gebaut hat". (Seite 139 der „Denkschrift": aus dem ursprünglichen Projekt der Semstwo-Reform.) D. A. Tolstoi plante, die Semstwo-Ämter durch dem Gouverneur unterstellte Ämter zu ersetzen und alle Beschlüsse der Semstwo-Versammlungen vom Gouverneur bestätigen zu lassen. Das wäre wirklich eine „radikale" Reform gewesen, aber es ist im höchsten Grade interessant, dass auch selbst dieser Schüler Katkows, der „Kampfminister" – wie der Verfasser der „Denkschrift" selbst sagt –

von der hergebrachten Politik des Innenministeriums in Bezug auf die Semstwo-Institutionen nicht abgewichen ist. Seinen Gedanken – die Semstwos im Grunde genommen zu beseitigen – hat er in seinem Projekt nicht direkt zum Ausdruck gebracht; unter dem Schein einer richtigen Entwicklung des Selbstverwaltungsprinzips wollte er die äußere Form des Semstwos erhalten, ihm aber jeden wirklichen Inhalt nehmen."

Im Staatsrat wurde diese weise „Fuchsschwanzpolitik" noch ergänzt und weiter entwickelt; infolgedessen erwies sich der Semstwo-Erlass von 1890

als eine neue halbe Maßnahme in der Geschichte der Semstwo-Institutionen Er beseitigte die Semstwos nicht, nahm ihnen aber jede Kraft und Farbe; er hat auch das Prinzip der Vertretung aller Stände nicht beseitigt, gab ihm aber einen ständischen Anstrich …, er machte die Semstwo-Institutionen nicht zu wirklichen Regierungsorganen, erhöhte aber ihre Bevormundung durch die Gouverneure…, er verstärkte das Vetorecht der Gouverneure." „Der Erlass vom 12. Juli 1890 war, nach der Absicht seines Verfassers, ein Schritt auf dem Wege zur Beseitigung der Semstwo-Institutionen, keineswegs aber eine radikale Umgestaltung der Semstwo-Selbstverwaltung."

Die neue „halbe Maßnahme" – führt die „Denkschrift" weiter aus – vernichtete nicht die Opposition gegen die Regierung (die Opposition gegen die reaktionäre Regierung konnte selbstverständlich auch durch eine Steigerung dieser Reaktion nicht vernichtet werden), sondern sie verursachte nur, dass manche Äußerungen dieser Opposition sich nunmehr im Verborgenen abspielten. Die Opposition äußerte sich erstens darin, dass einige, wenn man so sagen darf, semstwofeindliche Gesetze auf Widerstand stießen und de facto nicht durchgeführt wurden; zweitens kam sie wiederum in Petitionen, die die Konstitution verlangten (oder zumindest nach Konstitutionalismus rochen), zum Ausdruck. Auf die erstgenannte Art von Opposition stieß z. B. das Gesetz vom 10. Juni 1893, das die Semstwo-Organisation des Ärztewesens einer genauen Reglementierung unterordnete.

Die Semstwo-Institutionen setzten dem Innenministerium einmütigen Widerstand entgegen, und das Innenministerium musste den Rückzug antreten. Das Inkrafttreten des bereits fertiggestellten Statuts musste suspendiert und beiseite gelegt werden für die vollständige Sammlung der Gesetze, und man musste einen neuen Entwurf ausarbeiten, der auf ganz entgegengesetzten (d. h. für die Semstwos günstigeren) Prinzipien aufgebaut war."

Das Gesetz vom 8. Juni 1893 über die Taxierung von Immobilien, das ebenfalls das Prinzip der Reglementierung einführte und die Rechte der Semstwos in Bezug auf die Besteuerung beschränkte, wurde ebenfalls missliebig aufgenommen und in vielen Fällen „in der Praxis überhaupt nicht angewandt". Die Stärke der von den Semstwos geschaffenen ärztlichen und statistischen Einrichtungen, die für die Bevölkerung von großem Nutzen waren (im Vergleich mit der Bürokratie natürlich), erweist sich als hinreichend, um die in den Petersburger Kanzleistuben fabrizierten Statuten zu paralysieren.

Die zweite Art Opposition kam auch im neuen Semstwo im Jahre 1894 zum Ausdruck, als die Adressen der Semstwos an Nikolaus II. von Neuem in ganz bestimmter Weise auf ihre Forderungen anspielten, die Selbstverwaltung zu erweitern, und die „berühmten" Worte über sinnlose Illusionen hervorriefen.

Die „politischen Tendenzen" der Semstwos waren, zum Schrecken der Herren Minister, nicht verschwunden. Der Verfasser der „Denkschrift" zitiert die bitteren Klagen des Gouverneurs von Twer (aus seinem Bericht für das Jahr 1898) über den „eng geschlossenen Kreis von Leuten liberaler Richtung", der die ganze Verwaltung der Angelegenheiten des Gouvernements-Semstwos in seinen Händen konzentriert.

Aus dem Bericht desselben Gouverneurs für das Jahr 1895 geht hervor, dass der Kampf gegen die Semstwoopposition eine schwere Aufgabe für die örtliche Administration darstellt und dass von den Adelsmarschällen, die den Vorsitz in den Semstwo-Versammlungen führen, mitunter sogar ,Bürgermut' (ach so!) verlangt wird, den sie brauchen, um die vertraulichen Zirkulare des Innenministeriums über Dinge, die die Semstwos nicht zu behandeln haben, durchzuführen."

Weiter wird dann erzählt, wie der Gouvernements-Adelsmarschall vor der Versammlung sein Amt dem Kreis-Adelsmarschall (von Twer) übergab, dieser übergab es dem Adelsmarschall vom Kreis Nowotorschok, der vom Kreis Nowotorschok wurde ebenfalls krank und übergab den Vorsitz dem Adelsmarschall des Kreises Staritza. Also selbst die Adelsmarschälle ergreifen die Flucht, um keine Polizeipflichten erfüllen zu müssen.

Durch das Gesetz von 1890 klagt der Verfasser der ,Denkschrift' – wurde dem Semstwo ein ständischer Anstrich gegeben, das Regierungselement in den Versammlungen wurde gestärkt, alle Kreis-Adelsmarschälle und die Landhauptleute wurden in die Semstwo-Versammlungen der Gouvernements aufgenommen, und wenn ein derart entpersönlichtes, ständisch-bürokratisches Semstwo nichtsdestoweniger auch weiterhin politische Tendenzen an den Tag legt, so sollte man darüber nachdenken…" „Der Widerstand ist nicht gebrochen: dumpfe Unzufriedenheit, schweigende Opposition leben zweifellos weiter und werden leben, solange das Semstwo als Vertretung aller Stände nicht verschwunden sein wird."

Das ist das letzte Wort der bürokratischen Weisheit; wenn die in ihren Rechten beschnittene Repräsentativkörperschaft Unzufriedenheit hervorruft, so wird die Beseitigung jeder Repräsentativkörperschaft – nach der einfachen menschlichen Logik – diese Unzufriedenheit und Opposition noch verstärken. Herr Witte bildet sich ein, die Unzufriedenheit werde verschwinden, wenn man eine der Institutionen, die auch nur einen Teil der Unzufriedenheit nach außen trägt, schließt. Aber glaubt man vielleicht, dass Witte darum irgendwelche energischen Maßnahmen, etwa die Beseitigung der Semstwos, vorschlägt? Nein, mitnichten. Witte, der um der schönen Phrase willen die Politik des Ausweichens angreift, schlägt nichts anderes vor als dieselbe Politik – ja, er kann auch nichts anderes vorschlagen, ohne aus seiner Haut eines Ministers der absolutistischen Regierung herauszukriechen. Witte stammelt ganz sinnloses Zeug von einem „dritten Weg": weder Herrschaft der Bürokratie noch Selbstverwaltung, sondern administrative Reform, die die „Teilnahme von gesellschaftlichen Elementen an den Regierungsinstitutionen" „richtig organisiert". Einen solchen Unsinn auszusprechen, ist leicht, nur wird diese Erfindung jetzt – nach den Experimenten mit den „Sachverständigen" – niemand mehr irreführen: es ist zu offensichtlich, dass ohne Verfassung jede „Teilnahme von gesellschaftlichen Elementen" eine Fiktion, eine Unterordnung der Gesellschaft (oder dieser oder jener „Berufenen" der Gesellschaft) unter die Bürokratie sein wird. Indem Witte eine Teilmaßnahme des Innenministeriums – die Einführung der Semstwos in den Randgebieten – kritisiert, kann er in der allgemeinen, von ihm selbst aufgeworfenen Frage, irgend etwas Neues nicht sagen, er wärmt nur die alten Methoden der halben Maßnahmen, der Scheinzugeständnisse, des Versprechens aller möglichen Wohltaten und der Nichtdurchführung dieser Versprechungen wieder auf. Es kann nicht genügend betont werden, dass Witte und Goremykin in der allgemeinen Frage der „Richtung der Innenpolitik" vollkommen einer Meinung sind, und der Streit zwischen ihnen ist ein Familienstreit, ein häuslicher Streit innerhalb ein und derselben Clique. Einerseits beeilt sich auch Witte, zu erklären, dass er „weder eine Beseitigung der Semstwo-Institutionen noch irgendeinen Bruch in der bestehenden Ordnung vorgeschlagen habe oder vorzuschlagen beabsichtige – von ihrer (der bestehenden Semstwos) Beseitigung könne unter den jetzigen Bedingungen wohl kaum die Rede sein." Witte „seinerseits glaubt, dass man, wenn überall eine starke Regierungsgewalt besteht, imstande sein werde, den Semstwos mehr Vertrauen entgegenzubringen" usw. Wenn man also ein starkes bürokratisches Gegengewicht gegen die Semstwo-Selbstverwaltung geschaffen hat (d. h. der Selbstverwaltung jede Macht nimmt), dann kann man dem Semstwo mehr „Vertrauen schenken". Ein altes Lied ist das! Herr Witte fürchtet nur „Vertretungsinstitutionen aller Stände", er „wollte keineswegs sagen und war nicht der Auffassung, dass die Tätigkeit verschiedener Korporationen, Gesellschaften, ständischer oder beruflicher Vereinigungen für den Absolutismus gefährlich sei".

In Bezug auf die „Dorfgemeinden" z. B. zweifelt Herr Witte nicht im Geringsten an ihrer Ungefährlichkeit für die Selbstherrschaft infolge ihrer „Verknöcherung".

Das Überwiegen der Landbeziehungen und der damit verbundenen Interessen verleiht der Landbevölkerung solche geistige Eigentümlichkeit, die sie gleichgültig machen gegen alles, was über die Politik des eigenen Kirchturms hinausgeht… Unser Bauer befasst sich in den Dorfversammlungen mit der Umlage der Steuern…, mit der Verteilung der Bodenstücke usw. Außerdem ist er Analphabet oder halber Analphabet – was kann es da schon für Politik geben?"

Herr Witte ist, wie man sieht, sehr nüchtern. Gegenüber den Ständevereinigungen erklärt er, dass in Bezug auf ihre Gefährlichkeit für die Zentralgewalt „die Verschiedenartigkeit ihrer Interessen von wesentlicher Bedeutung sei. Diese Verschiedenartigkeit der Interessen ausnutzend, kann die Regierung gegen die politischen Ansprüche des einen Standes stets in den anderen Ständen eine Stütze und ein Gegengewicht finden." Auch das „Programm" Wittes: „die richtig organisierte Teilnahme von gesellschaftlichen Elementen an den Regierungsinstitutionen" – ist nichts anderes als einer der zahllosen Versuche des Polizeistaates, die Bevölkerung zu „entzweien".

Andererseits treibt auch Herr Goremykin, gegen den Herr Witte so heftig polemisiert, die gleiche systematische Politik der Entzweiung und Bedrängung. Er sucht (in seiner Denkschrift, auf die Witte antwortet), die Notwendigkeit der Schaffung neuer Beamtenposten zur Überwachung des Semstwos nachzuweisen, er ist gegen die Genehmigung selbst einfacher örtlicher Semstwo-Tagungen, er setzt sich voll und ganz für den Erlass vom Jahre 1890, diesen Schritt zur Beseitigung der Semstwos, ein, er fürchtet, dass die Semstwos in das Programm der Taxierungsarbeiten „tendenziöse Fragen" aufnehmen könnten, er fürchtet die Semstwostatistik überhaupt, er ist dafür, dass man die Volksschule aus den Händen der Semstwos nimmt und sie der Kompetenz der Regierungsinstitutionen unterstellt, er sucht zu beweisen, dass die Semstwos zur Leitung des Ernährungswesens unfähig sind (die Semstwo-Vertreter sollen angeblich „übertriebene Vorstellungen vom Umfang der Not und den Bedürfnissen der von der Missernte betroffenen Bevölkerung wecken"!!); er verteidigt die Bestimmungen über die Höchstgrenze der Besteuerung durch die Semstwos „zum Schutze des Grundbesitzes gegen übermäßige Erhöhung der Semstwo-Abgaben". Witte hat also vollkommen recht, wenn er erklärt:

Die ganze Politik des Innenministeriums in Bezug auf die Semstwos besteht in einer langsamen, aber ständigen Unterhöhlung ihrer Organe, in einer allmählichen Verringerung ihrer Bedeutung und in einer allmählichen Konzentrierung ihrer Funktionen in Regierungsämtern. Ohne irgendwie zu übertreiben, kann man sagen, dass, sobald die in der Denkschrift (Goremykins) erwähnten ,Maßnahmen, die in der letzten Zeit zum Zwecke der Regelung der einzelnen Zweige der Semstwo Wirtschaft und -verwaltung' ergriffen worden sind, glücklich durchgeführt sein werden, es in Wirklichkeit keine Selbstverwaltung mehr bei uns geben wird – von den Semstwoinstitutionen wird nur die Idee und die äußere Hülle, ohne jeden sachlichen Inhalt, übrigbleiben."

Die Politik Goremykins (und noch mehr die Sipjagins) und die Politik Wittes laufen folglich auf ein und dasselbe hinaus, und ihr Wettkampf in der Frage der Semstwos und des Konstitutionalismus ist, wir wiederholen es, nichts als ein Familienstreit. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Das ist das Fazit des „Kampfes" der Herren Witte und Goremykin. Was unsere Bilanz in der allgemeinen Frage des Absolutismus und der Semstwos betrifft, so wird man sie am zweckmäßigsten in Zusammenhang mit einer Analyse des Vorworts des Herrn R. N. S. ziehen24.

V.

Das Vorwort des Herrn R. N. S. ist in vieler Hinsicht interessant. Es werden darin in umfassendster Weise die Fragen der politischen Umgestaltung Russlands, der verschiedenartigen Methoden dieser Umgestaltung, der Bedeutung dieser oder jener Kräfte, die zur Umgestaltung führen, behandelt. Außerdem stellt Herr R. N. S., der offenbar in engen Beziehungen zu den liberalen Kreisen überhaupt und zu den Kreisen der Semstwo-Liberalen insbesondere steht, im Chor unserer „unterirdischen" Literatur zweifellos etwas Neues dar. Darum ist es, wenn man die prinzipielle Frage der politischen Bedeutung des Semstwos klären und die Strömungen und … ich will nicht sagen: Richtungen, sondern Stimmungen in den den Liberalen nahestehenden Kreisen kennenlernen will, sehr lohnend, auf dieses Vorwort ausführlich einzugehen, zu analysieren, ob dieses Neue etwas Positives oder Negatives, inwieweit es positiv, inwieweit und warum es negativ ist.

Die grundlegende Eigenart der Anschauungen des Herrn R. N. S. besteht in folgendem. Wie aus sehr vielen, von uns weiter unten zitierten Stellen seines Aufsatzes hervorgeht, ist er Anhänger einer friedlichen, stetigen, streng-legalen Entwicklung. Er rebelliert aber andererseits aus ganzer Seele gegen den Absolutismus und ersehnt politische Freiheit. Aber der Absolutismus ist gerade darum Absolutismus, weil er jede „Entwicklung" zur Freiheit verbietet und verfolgt. Dieser Widerspruch geht durch den ganzen Aufsatz des Herrn R. N. S. und verleiht seinen Erörterungen einen außerordentlich inkonsequenten, schwankenden, unsicheren Charakter. Man kann den Konstitutionalismus mit der Sorge um eine streng legale Entwicklung des absolutistischen Russlands nur vereinbaren, wenn man voraussetzt oder zumindest annimmt, dass die absolutistische Regierung selbst begreifen, ermüden, Zugeständnisse machen wird usw. Und Herr R. N. S. sinkt tatsächlich zuweilen von der Höhe seines Bürgerzorns zu diesem vulgären Standpunkt eines ganz unreifen Liberalismus herab. Hier ein Beispiel. Herr R. N. S. sagt von sich: „… Wir, die wir sehen, dass der Kampf um die politische Freiheit für die zielbewussten modernen Menschen Russlands ihren Hannibalschwur bedeutet, der ihnen ebenso heilig ist, wie einst der Kampf um die Befreiung der Bauern für die Menschen der vierziger Jahre …" und weiter: „… Wie schwer es uns, die wir den „Hannibalschwur" des Kampfes gegen den Absolutismus geleistet haben, auch fallen mag" usw. Schön gesagt, stark gesagt! Diese starken Worte könnten eine Zierde des Aufsatzes sein, wenn er durchweg von demselben Geiste des unbeugsamen, unversöhnlichen Kampfes („Hannibalschwur"!) durchdrungen wäre. Diese starken Worte – eben, weil sie so stark sind – müssen falsch klingen, wenn daneben der Ton einer künstlichen Versöhnung und Beruhigung einhergeht, der Versuch, mit Hilfe von allerhand schlecht begründeten Behauptungen die Konzeption einer friedlichen, streng legalen Entwicklung zu vertreten. Bei Herrn R. N. S. aber finden wir leider allzu viel solcher Töne und solcher Versuche. Er verwendet z. B. volle anderthalb Seiten auf die ausführliche „Begründung" des Gedankens, dass „die Staatspolitik unter der Regierung Nikolaus II. vom moralischen und politischen Standpunkt aus eine noch schärfere (von uns gesperrt) Verurteilung verdiene als der verhängnisvolle Eingriff in die Reformen Alexanders II. unter Alexander III. Warum eine schärfere Verurteilung? Weil Alexander III. gegen die Revolution kämpfte, Nikolaus II. aber – gegen die legalen Bestrebungen der russischen Gesellschaft, der erste – gegen politisch klar bewusste, der zweite – „gegen vollkommen friedliche und mitunter sogar ohne jeden klaren politischen Gedanken wirkende gesellschaftliche Kräfte" („die nicht einmal klar erkennen, dass ihre zielbewusste, kulturelle Arbeit die Staatsordnung untergrabe"). Das ist zum großen Teil faktisch unrichtig – worüber noch weiter unten die Rede sein wird. Aber auch abgesehen davon muss das Merkwürdige schon allein im Gedankengang des Verfassers festgestellt werden. Er verurteilt die Selbstherrschaft, und von zwei Selbstherrschern verurteilt er einen schärfer nicht wegen des Charakters der Politik, die die alte geblieben ist, sondern weil er es (angeblich) nicht mit „Streithähnen" zu tun habe, die „natürlicherweise" einen scharfen Widerstand hervorrufen, und weil infolgedessen auch kein Grund zu Verfolgungen bestehe. Verrät nicht schon allein eine solche Beweisführung eine offenbare Konzession an das alleruntertänigste Argument, dass unser Väterchen Zar sich nicht davor zu fürchten brauche, seine geliebten Leute zusammenzuberufen, denn alle diese geliebten Leute hätten niemals an etwas gedacht, was über den Rahmen friedlicher Bestrebungen und strenger Legalität hinausgeht? Es wundert uns nicht, wenn wir einen solchen „Gedankengang" (oder Lügengang) bei Herrn Witte finden, der in seiner „Denkschrift" schreibt: „Es möchte scheinen, dass man dort, wo es weder politische Parteien noch Revolutionen gibt, wo niemand die Rechte der obersten Gewalt bestreitet – die Verwaltungsbehörden dem Volke oder der Gesellschaft nicht gegenüberstellen könne"N … usw. Uns wundern solche Ausführungen nicht bei Herrn Tschitscherin, der in seiner Denkschrift an den Grafen Miljutin nach dem 1. März 1881 erklärte, „die Regierung müsse vor allen Dingen Energie an den Tag legen, sie müsse beweisen, dass sie vor der Drohung nicht zurückgeschreckt sei", dass „die monarchistische Ordnung nur dann mit freien Einrichtungen vereinbar sei, wenn diese die Frucht friedlicher Entwicklung, ruhiger Initiative der obersten Gewalt selber sind", und er erteilte den Rat, „eine starke und liberale" Regierung zu schaffen, die mit Hilfe „eines durch gewählte Vertreter verstärkten und erneuerten gesetzgebenden Organs arbeiten müsse"O. Wenn ein solcher Herr Tschitscherin behauptete, dass man die Politik Nikolaus II. schärfer verurteilen müsse, weil unter seiner Herrschaft die friedliche Entwicklung und ruhige Initiative der obersten Gewalt zu freien Einrichtungen führen könnten, so wäre das ganz natürlich. Aber sind solche Äußerungen natürlich, sind sie anständig im Munde eines Menschen, der den Hannibalschwur des Kampfes geleistet hat?

Auch faktisch ist Herr R. N. S. im Unrecht. Er vergleicht das jetzige Regime mit dem vorhergehenden und sagt: „Jetzt… denkt niemand mehr im Ernst an den gewaltsamen Umsturz, wie er von den Führern der ,Narodnaja Wolja' gepredigt wurde." Parlez pour vous, Monsieur! Sie sprechen nur für sich! Wir wissen sehr gut, dass die revolutionäre Bewegung in Russland unter der jetzigen Regierung nicht nur nicht abgestorben, nicht untergegangen und auch nicht schwächer geworden ist im Vergleich zur vergangenen Regierung, sondern dass sie im Gegenteil neu erstanden und um ein Vielfaches stärker geworden ist. Was wäre das auch für eine „revolutionäre" Bewegung, wenn von ihren Teilnehmern im Ernst niemand an einen gewaltsamen Umsturz denken wollte? Man wird uns vielleicht entgegnen, dass Herr R. N. S. in den angeführten Sätzen nicht einen gewaltsamen Umsturz überhaupt im Auge hat, sondern einen spezifischen „Narodnaja Wolja"-Umsturz, d.h. einen gleichzeitig politischen und sozialen Umsturz, der nicht nur zum Sturz des Absolutismus, sondern auch zur Ergreifung der Macht führt. Ein solcher Einwand wäre nicht begründet, denn, erstens ist es für den Absolutismus als solchen (d. h. für die absolutistische Regierung, nicht aber für die „Bourgeoisie" oder die „Gesellschaft") gar nicht wichtig, zu welchem Zweck man ihn stürzen will, wichtig ist für ihn die Tatsache, dass man ihn stürzen will. Und, zweitens haben auch die Führer der „Narodnaja Wolja" zu Beginn der Herrschaft Alexanders III. die Regierung vor die gleiche Alternative gestellt, wie die Sozialdemokratie Nikolaus II.: entweder Verzicht auf den Absolutismus oder revolutionärer Kampf. (Siehe den Brief des Exekutivkomitees der „Narodnaja Wolja" vom 10. März 1881 an Alexander III., in dem zwei Bedingungen gestellt wurden: 1. allgemeine Amnestie für alle politischen Verbrechen und 2. Einberufung der Vertreter des gesamten russischen Volkes auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts und der Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit25.) Herr R. N. S. weiß auch selbst sehr gut, dass nicht nur viele Intellektuelle, sondern auch viele Arbeiter „an einen gewaltsamen Umsturz im Ernst" denken: man sehe sich Seite XXXIX und folg. seines Aufsatzes an, wo von der „revolutionären Sozialdemokratie" gesprochen wird, der eine „Grundlage in den Massen und geistige Kräfte" gesichert sind, die zum „entschiedenen politischen Kampf", zum „blutigen Kampf des revolutionären Russland gegen das absolutistisch-bürokratische Regime schreitet" (XLI). Es unterliegt also keinem Zweifel, dass die „wohlmeinenden Reden" des Herrn R. N. S. nur eine besondere Methode, einen Versuch darstellen, durch Versicherung der eigenen (oder fremder) Bescheidenheit Einfluss auf die Regierung (oder auf die „öffentliche Meinung") zu gewinnen.

Herr R. N. S. glaubt übrigens, dass man den Begriff des Kampfes sehr weit auslegen kann.

Die Beseitigung der Semstwos – schreibt er – wird der revolutionären Propaganda einen gewaltigen Trumpf in die Hand geben; wir sagen das ganz objektiv (sic!), ohne irgendeinen Abscheu zu empfinden gegen das, was man gewöhnlich revolutionäre Tätigkeit nennt, aber auch ohne in Entzücken zu geraten oder uns zu begeistern gerade für diese Form (sic!) des Kampfes für den politischen und sozialen Fortschritt."

Diese Tirade ist sehr bemerkenswert. Streift man die Hülle der quasi-wissenschaftlichen Formulierung ab, die sich ganz unangebracht mit ihrer „Objektivität" brüstet (da der Verfasser selber die Frage stellt, warum er dieser oder jener Form der Tätigkeit oder des Kampfes den Vorzug gibt, so hat die Beteuerung seiner Objektivität den gleichen Wert, als wenn man sagt: zweimal zwei gleich Stearinkerze) – so erhält man die alte, uralte Argumentation: Mir, ihr Herren Regierenden, könnt ihr glauben, wenn ich euch mit der Revolution schrecke, denn ich habe nichts für sie übrig. Die Berufung auf die Objektivität ist nichts anderes als ein Feigenblatt, das die subjektive Antipathie gegen die Revolution und die revolutionäre Tätigkeit verhüllt. Herr R. N. S. aber braucht eine solche Hülle, denn mit dem Hannibalschwur des Kampfes ist eine solche Antipathie absolut unvereinbar.

Übrigens, täuschen wir uns nicht in Bezug auf diesen Hannibal selbst? Hat er tatsächlich den Schwur des Kampfes gegen die Römer geleistet oder nur des Kampfes um den Fortschritt Karthagos, um einen Fortschritt, der natürlich letzten Endes Rom geschadet hätte? Ist es möglich, das Wort Kampf nicht so „eng" aufzufassen? Herr R. N. S. glaubt, das sei möglich. Der Kampf gegen den Absolutismus – so ergibt es sich aus dem Vergleich des Hannibalschwurs mit dem Text der zitierten Tirade – äußert sich in verschiedenen „Formen": die eine Form ist der revolutionäre, illegale Kampf, die andere Form – „der Kampf für den politischen und sozialen Fortschritt" überhaupt, d. h. mit anderen Worten – die friedliche legale Tätigkeit, die in den vom Absolutismus erlaubten Grenzen kulturelle Arbeit leistet. Wir zweifeln keineswegs daran, dass auch unter dem Absolutismus eine legale Tätigkeit möglich ist, die den Fortschritt Russlands fördert: in manchen Fällen ist es ein ziemlich rascher technischer Fortschritt, in einigen wenigen Fällen ein ganz unbedeutender – sozialer Fortschritt, in äußerst seltenen Fällen und in ganz winzigem Ausmaß – ein politischer Fortschritt. Man kann darüber streiten, wie groß ein solcher winziger Fortschritt und inwieweit er eben möglich sei, inwiefern die vereinzelten Fälle eines solchen Fortschritts imstande seien, jene massenhafte politische Demoralisierung der Bevölkerung zu paralysieren, die der Absolutismus stets und überall hervorruft. Will man aber, wenn auch nur indirekt, den Begriff des Kampfes gegen den Absolutismus reduzieren auf die friedliche legale Tätigkeit, so heißt das diese Demoralisierung fördern, so heißt das beim russischen Spießer das ohnehin unendlich schwach entwickelte Bewusstsein seiner Verantwortlichkeit als Bürger für alles, was die Regierung tut, noch mehr schwächen.

Leider steht Herr R. N. S. nicht allein da unter den illegalen Schriftstellern, die den Unterschied zwischen revolutionärem Kampf und friedlicher Kulturarbeit zu verwischen suchen. Er hat einen Vorläufer, Herrn R. M., den Verfasser des Aufsatzes „Unsere Wirklichkeit" in der berühmten Sonderbeilage zur Rabotschaja Mysl" (September 1899). In seiner Polemik gegen die revolutionären Sozialdemokraten schrieb er:

Ist doch auch der Kampf für die öffentliche Selbstverwaltung der Semstwos und der Städte, der Kampf für die öffentliche Schule, der Kampf für das öffentliche Gericht, der Kampf für die öffentliche Unterstützung der hungernden Bevölkerung usw. ein Kampf gegen den Absolutismus… Dieser gesellschaftliche Kampf, der, wie wir gesehen haben, infolge eines seltsamen Missverständnisses die wohlwollende Aufmerksamkeit vieler russischer revolutionärer Schriftsteller nicht auf sich zu lenken vermag, wird, wie wir gesehen haben, von der russischen Gesellschaft bereits geführt, und nicht erst seit gestern Die wirkliche Frage ist, wie diese einzelnen Gesellschaftsschichten diesen Kampf gegen den Absolutismus möglichst erfolgreich führen können Die wichtigste Frage für uns ist aber: wie sollen diesen gesellschaftlichen Kampf gegen den Absolutismus unsere Arbeiter führen, deren Bewegung unsere Revolutionäre als das beste Mittel zum Sturz des Absolutismus ansehen." (S. 8 u. 9.)

Wie man sieht, hält Herr R. M. es gar nicht für notwendig, seine Antipathie gegen die Revolutionäre zu verhehlen; die legale Opposition und die friedliche Arbeit erklärt er direkt für den Kampf gegen die Selbstherrschaft, und die Hauptfrage ist für ihn, wie die Arbeiter „diesen" Kampf führen sollen. Herr R. N. S. ist bei weitem nicht so primitiv und nicht so offen, aber die Verwandtschaft der politischen Tendenzen bei unserem Liberalen und bei dem extremen Verehrer einer reinen Arbeiterbewegung tritt ziemlich klar zutageP.

Was den „Objektivismus" des Herrn R. N. S. anbetrifft, so müssen wir bemerken, dass er ihn manchmal ohne viel Federlesens beiseite schiebt. Er bleibt „objektiv", wenn er von der Arbeiterbewegung, ihrem organischen Wachstum, dem kommenden unvermeidlichen Kampf der revolutionären Sozialdemokratie gegen die Selbstherrschaft spricht, wenn er davon spricht, dass die Organisation der Liberalen zu einer illegalen Partei das unvermeidliche Resultat der Beseitigung der Semstwos sein würde. All das wird sehr sachlich und sehr nüchtern auseinandergesetzt, so nüchtern, dass man sich über die Verbreitung einer richtigen Auffassung von der Arbeiterbewegung Russlands in liberalen Kreisen freuen kann. Sobald aber Herr R. N. S. beginnt, nicht vom Kampf gegen den Feind, sondern von der möglichen „Unterwerfung" des Feindes zu sprechen, dann verliert er sofort seinen

Objektivismus", er macht seinen Gefühlen Luft und geht sogar vom Indikativ zum Imperativ über.

Es wird nur in dem Falle zu keinem blutigen Endkampf des revolutionären Russland gegen das absolutistisch-bürokratische Regime kommen, wenn sich unter den Machthabern Männer finden, die den Mut aufbringen, sich der Geschichte zu beugen und ihr den Selbstherrscher zu unterwerfen… Zweifellos gibt es unter der höchsten Bürokratie Personen, die keine Sympathie für die reaktionäre Politik hegen… Sie, die einzigen Personen, die Zutritt zum Thron haben, wagen es nie, ihre Überzeugungen laut auszusprechen … Doch mag es sein, dass der gewaltige Schatten der unvermeidlichen historischen Vergeltung, der Schatten großer Ereignisse Schwankungen in die Regierungskreise hinein tragen und rechtzeitig die eiserne Phalanx der reaktionären Politik zerstören wird. Dazu ist jetzt verhältnismäßig wenig notwendig … Vielleicht wird auch sie (die Regierung) nicht allzu spät die verhängnisvolle Gefahr der Aufrechterhaltung des absolutistischen Regimes mit allen Mitteln erkennen. Vielleicht wird sie noch vor dem Ausbruch der Revolution ihres Kampfes gegen die natürliche, geschichtlich notwendige Entwicklung der Freiheit müde und an ihrer „unversöhnlichen" Politik zu zweifeln beginnen. Hört sie erst einmal auf, den Kampf gegen die Freiheit konsequent zu führen, so wird sie gezwungen sein, ihr die Tür immer weiter und weiter aufzutun. Vielleicht… nein, nicht nur vielleicht, sondern: so muss es sein!" (Vom Verfasser gesperrt.)

Amen! … können wir nur zu diesem gutgesinnten und erhabenen Monolog sagen. Unser Hannibal macht so rasche Fortschritte, dass er uns bereits in einer dritten Form entgegentritt: die erste Form war der Kampf gegen den Absolutismus, die zweite – die kulturelle Arbeit, die dritte – die Aufforderungen, den Feind zur Unterwerfung zu bestimmen, und die Versuche, ihn durch einen „Schatten" einzuschüchtern. Wie schrecklich! Wir sind vollkommen einverstanden mit dem werten Herrn R. N. S., dass die Scheinheiligen aus der russischen Regierung die „Schatten" mehr als sonst etwas in der Welt fürchten. Unmittelbar vor diesem Heraufbeschwören der Schatten rief unser Verfasser, der auf das Wachstum der revolutionären Kräfte und auf die kommende revolutionäre Explosion hingewiesen hatte, aus:

Mit tiefem Kummer sehen wir die entsetzlichen Opfer an Menschen und kulturellen Kräften voraus, die diese sinnlose aggressiv-konservative Politik kosten wird, die weder einen politischen Sinn noch den Schatten einer moralischen Rechtfertigung für sich hat."

Welch bodenlosen Abgrund an doktrinärem und salbungsvollem Gerede eröffnet dieser Schluss der Betrachtungen über die revolutionäre Explosion! Der Verfasser besitzt keine Spur von Verständnis dafür, was für eine gigantische historische Bedeutung es hätte, wenn das Volk in Russland wenigstens einmal der Regierung eine gründliche Lektion erteilen wollte. Anstatt auf die „entsetzlichen Opfer", die das Volk dem Absolutismus bringt, hinzuweisen, anstatt Hass und Empörung zu wecken und die Bereitschaft und Leidenschaft für den Kampf zu entfachen – anstatt dessen beruft ihr euch auf die künftigen Opfer, um vom Kampfe abzuschrecken. Ach, ihr Herren! Es wäre schon besser, von der „revolutionären Explosion" überhaupt nicht zu reden, als diese Betrachtung durch ein solches Finale zu verderben. „Große Ereignisse" machen wollt ihr offenbar nicht, ihr wollt nur vom „Schatten großer Ereignisse" reden, und auch reden wollt ihr nur mit „Personen, die Zutritt zum Throne haben".

Ein solches Gerede mit Schatten und über Schatten füllt bekanntlich auch unsere ganze legale Presse. Um aber den Schatten Realität zu verleihen, ist es üblich, als Beispiel auf die „großen Reformen" hinzuweisen und ihnen ein Halleluja voll konventioneller Lüge zu singen. Dem unter der Kontrolle der Zensur stehenden Schriftsteller muss man mitunter diese Lüge verzeihen, denn sonst kann er sein Streben nach politischer Umgestaltung nicht zum Ausdruck bringen. Aber Herr R. N. S. war keiner Zensur unterworfen. „Die großen Reformen – schreibt er – sind nicht zum höheren Triumph der Bürokratie erdacht worden." Man sehe nur, wie ausweichend dieser apologetische Satz gehalten ist. Von wem „erdacht"? Von Herzen, Tschernyschewski, Unkowski und denen, die mit ihnen gingen? Aber diese Männer forderten ja unvergleichlich mehr als das, was die „Reformen" verwirklicht haben, und wegen ihrer Forderungen wurden sie von der Regierung, die die „großen" Reformen durchführte, verfolgt. – Von der Regierung und denen, die ihr, sie blind verherrlichend, Gefolgschaft leisteten und gegen die „Streithähne" wetterten? Aber die Regierung tat ja alles mögliche und unmögliche, um möglichst wenig Zugeständnisse zu machen, um die demokratischen Forderungen zu beschneiden, um sie gerade „zum größeren Triumph der Bürokratie" zu beschneiden. Herr R. N. S. kennt alle diese historischen Tatsachen sehr gut, er vertuscht sie nur, weil sie seine sanftmütige Theorie von der Möglichkeit einer „Unterwerfung" des Selbstherrschers vollkommen widerlegen. In der Politik ist kein Platz für eine freiwillige Unterwerfung, und nur unendliche Einfalt (sowohl eine heilige als auch eine verschlagene) kann die alte Polizeimethode: Divide et impera, teile und herrsche, gib in Kleinigkeiten nach, um das Wesentliche zu behalten, gib mit der linken Hand und nimm mit der rechten wieder fort, für Unterwerfung halten.

Die Regierung Alexanders II., die die großen Reformen ins Auge fasste und durchführte, stellte sich nicht gleichzeitig das bewusste Ziel – dem russischen Volke um jeden Preis jeden legalen Weg zur politischen Freiheit abzuschneiden, sie prüfte nicht jeden Schritt, jeden Paragraphen des Gesetzes von diesem Standpunkt aus."

Das ist nicht wahr. Die Regierung Alexanders II. stellte sich, sowohl als sie die Reformen „ins Auge fasste", als auch bei ihrer Durchführung, von Anfang an das ganz bewusste Ziel, der damals schon gestellten Forderung nach politischer Freiheit nicht nachzugeben. Von Anfang an und bis zum letzten Ende schnitt sie jeden legalen Weg zur Freiheit ab, denn selbst einfache Petitionen beantwortete sie mit Verfolgungen, denn sie erlaubte nicht einmal über die Freiheit frei zu sprechen. Um die Lobpreisungen des Herrn R. N. S. zu widerlegen, genügt es, auf die von uns angeführten Tatsachen hinzuweisen, die Witte in seiner „Denkschrift" darlegt. Über die Personen, die die Regierung Alexanders II. bildeten, äußert sich Witte selbst z. B. so:

Es muss betont werden, dass die hervorragenden Staatsmänner der Epoche der sechziger Jahre, deren ruhmvolle Namen in der dankbaren Nachwelt weiterleben werden, zu ihrer Zeit sehr viel Großes – wohl mehr als ihre Nachfolger – geleistet haben und eifrig gearbeitet haben an der Erneuerung unserer staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung, nach ihrer aufrichtigen Überzeugung und mit hingebungsvoller Treue für ihren Herrscher und nicht im Gegensatz zu dessen Bestrebungen." (S. 67 der „Denkschrift".)

Der Wahrheit die Ehre: nach aufrichtiger Überzeugung, mit hingebungsvoller Treue für den an der Spitze der Polizeibande stehenden Herrscher …

Nach dem, was wir oben gesagt haben, darf es uns nicht mehr wundern, dass Herr R. N. S. außerordentlich wenig über die so wichtige Frage der Rolle des Semstwos im Kampfe für die politische Freiheit sagt. Außer den üblichen Hinweisen auf die „praktische" und „kulturelle" Aufgabe des Semstwos, erwähnt er flüchtig seine „erzieherisch-politische Bedeutung" und erklärt, dass „das Semstwo eine politische Bedeutung habe", dass es, wie Herr Witte klar sieht, gefährlich (für die bestehende Ordnung) sei nur kraft der historischen Tendenz seiner Entwicklung „als Keim einer Konstitution". Und als Abschluss dieser gleichsam zufällig hingeworfenen Bemerkungen ein Ausfall gegen die Revolutionäre:

Wir schätzen das Werk des Herrn Witte nicht nur wegen seiner Wahrheit über die Selbstherrschaft, sondern auch als kostbares politisches Zeugnis, das dem Semstwo von der Bürokratie selbst ausgestellt worden ist. Dieses Zeugnis ist eine ausgezeichnete Antwort an alle diejenigen, die aus Mangel an politischer Bildung oder weil sie sich von der revolutionären Phrase (sic!) hinreißen lassen, die große politische Bedeutung des russischen Semstwos und seiner legalen Kulturarbeit nicht sehen wollten und wollen."

Wer ist es denn, der einen Mangel an Bildung offenbart oder sich von der Phrase hinreißen lässt? Wo und wann? Mit wem ist Herr R. N. S. nicht einverstanden und warum? Hierauf findet man keine Antwort, und der Ausfall des Verfassers ist nichts als eine Äußerung seiner Antipathie gegen die Revolutionäre, die wir bereits aus anderen Stellen seines Aufsatzes kennen. Die Sache wird keineswegs klarer durch die noch seltsamere Bemerkung:

Mit diesen Worten wollen wir keineswegs (?!) die revolutionären Führer verletzen, an denen man vor allem den moralischen Mut im Kampfe gegen die Willkür schätzen muss."

Wozu das? Was soll das? Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem moralischen Mut und der Unfähigkeit, das Semstwo richtig zu würdigen? Herr R. N. S. gerät dabei wirklich vom Regen in die Traufe: zuerst „verletzte" er die Revolutionäre durch die unbegründete und „anonyme" (d. h. man weiß nicht, gegen wen gerichtete) Beschuldigung der Unwissenheit und der Phrasendrescherei, jetzt aber „verletzt" er sie noch durch die Annahme, dass man sie veranlassen kann, die Pille des Vorwurfs der Unwissenheit zu schlucken, wenn man sie durch die Anerkennung ihres moralischen Mutes versüßt. Und um die Unklarheit zu vollenden, widerspricht Herr R. N. S. sich selber und erklärt – gewissermaßen in einem Chor mit „denen, die sich von der revolutionären Phrase hinreißen lassen" –, dass „das jetzige russische Semstwo… keine politische Größe sei, die durch ihre unmittelbare Kraft irgend jemandem imponieren, irgend jemandem Schreck einjagen könnte … Es ist kaum imstande, seine bescheidenen Positionen zu behaupten … Solche Körperschaften (wie die Semstwos) … können an und für sich dieser (absolutistischen) Gesellschaftsordnung nur in ferner Zukunft und im Zusammenhang mit der Entwicklung der gesamten Kultur des Landes gefährlich werden".

VI.

Versuchen wir, die Frage zu analysieren, von der Herr R. N. S. mit so viel Zorn und so inhaltslos redet. Die von uns oben angeführten Tatsachen zeigen, dass die „politische Bedeutung" des Semstwos, d. h. seine Bedeutung als Faktor im Kampfe für die politische Freiheit, hauptsächlich in Folgendem besteht. Erstens stellt diese Organisation der Vertreter unserer besitzenden Klassen (und insbesondere des Landadels) der Bürokratie stets die gewählten Körperschaften entgegen, ruft ständige Konflikte zwischen ihnen hervor, zeigt auf Schritt und Tritt den reaktionären Charakter des verantwortungslosen zaristischen Beamtentums auf, schürt die Unzufriedenheit und ist der Nährboden für die Opposition gegen die absolutistische RegierungQ. Zweitens sind die Semstwos, die zum fünften Rad am Wagen der Bürokratie gemacht worden sind, bestrebt, ihre Lage zu festigen, ihre Bedeutung zu erhöhen, streben – und, um einen Ausdruck Wittes zu gebrauchen, „marschieren" sogar „unbewusst" – zur Konstitution, indem sie entsprechende Petitionen einreichen. Sie sind darum ein ungeeigneter Bundesgenosse für die Regierung in ihrem Kampfe gegen die Revolutionäre; sie nehmen eine wohlwollend-neutrale Haltung den Revolutionären gegenüber ein und erweisen ihnen zweifellos, wenn auch indirekt, Dienste, indem sie in kritischen Augenblicken Elemente des Schwankens in die Unterdrückungsmaßnahmen der Regierung hinein tragen. Selbstverständlich kann man weder einen „großen" noch überhaupt einen halbwegs selbständigen Faktor des politischen Kampfes in einer Institution sehen, die bisher bestenfalls zu liberalen Petitionen und zu wohlwollender Neutralität fähig war, aber die Rolle eines der Hilfsfaktoren kann man dem Semstwo nicht absprechen. In diesem Sinne sind wir sogar, wenn man will, bereit, zuzugeben, dass das Semstwo ein kleines Stück Verfassung ist. Der Leser wird vielleicht sagen: dann sind Sie also mit Herrn R. N. S. einverstanden, der auch nichts anderes behauptet. Nicht im Geringsten! Hier beginnt eben unsere Meinungsverschiedenheit.

Das Semstwo ist – ein Stückchen Verfassung. Mag sein. Aber das ist eben jenes Stückchen, mit dem man die russische „Gesellschaft" von der Verfassung weglockte. Das ist eben eine solche verhältnismäßig unwichtige Position, die der Absolutismus der wachsenden Demokratie zugestand, um die Hauptpositionen für sich zu behalten, um diejenigen zu spalten und zu zersplittern, die eine politische Umgestaltung forderten. Wir haben gesehen, wie diese Zersplitterung auf dem Boden des „Vertrauens" zum Semstwo (dem „Keim der Verfassung") sowohl in den sechziger Jahren als auch in den Jahren 1880/81 mit Erfolg durchgeführt wurde. Die Frage des Verhältnisses des Semstwos zur politischen Freiheit ist ein Einzelfall in der allgemeinen Frage des Verhältnisses der Reformen zur Revolution. Und an diesem Einzelfall können wir die ganze Beschränktheit und Sinnlosigkeit der zur Mode gewordenen Bernsteinschen Theorie erkennen, die den revolutionären Kampf durch den Kampf um Reformen ersetzt, die erklärt (z. B. durch den Mund des Herrn Berdjajew), „das Prinzip des Fortschritts" sei: „Je besser, desto besser"26. Dieses Prinzip ist in der allgemeinen Form ebenso falsch, wie seine Umkehrung – „je schlimmer, desto besser". Die Revolutionäre werden natürlich nie auf den Kampf für Reformen, auf die Eroberung einer wenn auch unwichtigen und partiellen Position des Feindes verzichten, wenn diese Position ihren Ansturm stärken und den vollständigen Sieg erleichtern wird. Aber sie werden auch nie vergessen, dass es Fälle gibt, wo der Feind selbst eine gewisse Stellung aufgibt, um die Angreifer zu zersplittern und sie leichter zu schlagen. Sie werden nie vergessen, dass, nur wenn man das „Endziel" stets im Auge behält, nur wenn man jeden Schritt der „Bewegung" und jede einzelne Reform vom Standpunkt des allgemeinen revolutionären Kampfes beurteilt, die Bewegung vor falschen Schritten und schmachvollen Irrtümern bewahrt werden kann.

Diese Seite der Frage – die Bedeutung des Semstwos als Werkzeug zur Festigung des Absolutismus durch halbe Zugeständnisse, als ein Werkzeug zur Gewinnung eines gewissen Teiles der liberalen Gesellschaft für die Selbstherrschaft – hat Herr R. N. S. überhaupt nicht begriffen. Er hat es vorgezogen, ein doktrinäres Schema auszutüfteln, das das Semstwo und die Verfassung gradlinig verbindet nach der „Formel": Je besser, desto besser.

Wenn Sie zuerst die Semstwos in Russland abschaffen – sagt er, sich an Witte wendend – und dann die Rechte der Person erweitern, so werden Sie sich die beste Gelegenheit entgehen lassen, dem Lande eine gemäßigte Konstitution zu geben, die auf der Grundlage der örtlichen Selbstverwaltung mit ständischem Anstrich geschichtlich erwachsen wäre. Der Sache des Konservativismus werden Sie auf jeden Fall einen sehr schlechten Dienst erweisen."

Was für eine geschlossene und schöne Konzeption! Eine örtliche Selbstverwaltung mit ständischem Anstrich – der weise Konservative, der Zutritt zum Throne hat – eine gemäßigte Konstitution. Schade nur, dass in Wirklichkeit die weisen Konservativen dank dem Semstwo mehrfach die „beste Gelegenheit" fanden, um dem Lande keine Konstitution zu „geben".

Die friedliche „Konzeption" des Herrn R. N. S. äußerte sich auch in der Formulierung seiner Losung, mit der er seinen Aufsatz schließt, und die – eben als Losung – in einer besonderen Zeile und mit fetter Schrift gedruckt ist: „Rechte und ein machtvolles allrussisches Semstwo!" Man muss offen zugeben, dass das ein ebenso unwürdiges Spiel mit den politischen Vorurteilen der breiten Masse der russischen Liberalen ist, wie das Spiel der „Rabotschaja Mysl" mit den politischen Vorurteilen der breiten Masse der Arbeiter. Wir sind verpflichtet, uns sowohl im ersten als auch im zweiten Fall gegen ein solches Spiel zu wenden. Es ist ein Vorurteil, wenn man annimmt, die Regierung Alexanders II. habe den legalen Weg zur Freiheit nicht versperrt – das Bestehen der Semstwos sei die beste Gelegenheit, dem Lande eine gemäßigte Konstitution zu geben –, die Losung „Rechte und ein machtvolles Semstwo" könne – wir wollen nicht sagen der revolutionären, aber doch wenigstens der konstitutionellen Bewegung – als Banner dienen. Das ist kein Banner, das die Feinde von den Freunden zu trennen hilft, das imstande wäre, der Bewegung eine Richtung zu geben und sie zu führen; das ist ein Lappen, der nur den unzuverlässigsten Leuten helfen wird, sich an die Bewegung heran zu schmieren, der es der Regierung noch einmal erleichtern wird, mit großen Versprechungen und halben Reformen davonzukommen. Ja, man braucht kein Prophet zu sein, um Folgendes vorauszusagen: unsere revolutionäre Bewegung wird ihren Höhepunkt erreichen – die liberale Gärung in der Gesellschaft wird sich verzehnfachen –, in der Regierung werden neue Loris-Melikows und Ignatjews entstehen, die auf ihr Banner schreiben werden: „Rechte und ein machtvolles Semstwo". Zumindest wäre das für Russland der allerungünstigste, für die Regierung – der günstigste Ausweg. Wenn ein halbwegs bedeutender Teil der Liberalen diesem Banner Glauben schenken und aus Begeisterung dafür den revolutionären „Streithähnen" in den Rücken fallen wird, so können sich letztere als isoliert erweisen, und die Regierung wird versuchen, sich auf minimale Zugeständnisse, auf eine adlig-aristokratische Konstitution mit beratendem Charakter zu beschränken. Ob ein solcher Versuch gelingen wird – das wird vom Ausgang des Entscheidungskampfes zwischen dem revolutionären Proletariat und der Regierung abhängen, dass aber die Liberalen die Betrogenen sein werden, dafür kann man jede Bürgschaft leisten. Mit Hilfe einer Losung, wie sie Herr R. N. S. aufgestellt hat („ein machtvolles Semstwo" oder „Semstwowesen" usw.), wird die Regierung sie, wie junge Hunde, von den Revolutionären fort locken und sie dann beim Kragen nehmen und mit den Ruten der sogenannten Reaktion züchtigen. Wir aber, ihr Herren, werden dann nicht verfehlen, zu sagen: Das geschieht euch recht!

Und aus welchem Grunde wird anstatt der Forderung nach Beseitigung des Absolutismus ein so gemäßigter und korrekter Wunsch als Endlosung aufgestellt? Erstens, um des philisterhaften Doktrinarismus willen, der dem „Konservativismus einen Dienst" erweisen will und der daran glaubt, dass die Regierung, gerührt über eine so gemäßigte Haltung, sich ihr „unterwerfen" wird. Zweitens, um „die Liberalen zu vereinigen". In der Tat, die Losung „Rechte und ein machtvolles Semstwo" wird wohl alle Liberalen vereinigen – ebenso wie die Losung „eine Kopeke auf den Rubel" (nach Ansicht der „Ökonomisten") alle Arbeiter vereinigen wird. Wird aber eine solche Einigung nicht eher ein Verlust als ein Gewinn sein? Die Einigung ist etwas Positives, wenn sie die Vereinigten auf das Niveau eines zielbewussten und entschiedenen Einigungsprogramms erhebt. Die Einigung ist etwas Negatives, wenn sie die sich Vereinigenden auf das Niveau der Vorurteile der Masse herabdrückt. Unter der Masse der russischen Liberalen ist aber zweifellos das Vorurteil sehr weit verbreitet, dass das Semstwo wahrhaft ein „Keim der Konstitution" seiR, der nur zufällig durch die Ränke irgendwelcher unmoralischen Günstlinge des Zarenhofes in seinem „natürlichen" friedlichen und allmählichen Wachstum aufgehalten wird, dass einige Petitionen genügen, um den Selbstherrscher zu „unterwerfen", dass die legale, kulturelle Tätigkeit überhaupt und die der Semstwos im Besonderen eine „große politische Bedeutung" habe, da sie diejenigen, die behaupten, Feinde des Absolutismus zu sein, von der Pflicht entbindet, den revolutionären Kampf gegen den Absolutismus aktiv in dieser oder jener Form zu unterstützen usw. usw. Die Einigung der Liberalen ist eine unbedingt nützliche und wünschenswerte Sache, aber nur eine solche Einigung, die sich den Kampf gegen die veralteten Vorurteile, nicht aber das Liebäugeln mit ihnen, die sich die Hebung des Durchschnittsniveaus unserer politischen Bildung (genauer gesagt: Unbildung), nicht aber dessen Sanktionierung zum Ziele setzt – mit einem Wort, eine Einigung zur Unterstützung des illegalen Kampfes, nicht aber der opportunistischen Phrasen über die gewaltige politische Bedeutung der legalen Tätigkeit. Ist es nicht zu rechtfertigen, dass man vor den Arbeitern die politische Losung der „Streikfreiheit" usw. aufstellt, so ist ebenso wenig die Aufstellung der Losung „ein machtvolles Semstwo" vor den Liberalen zu rechtfertigen. Unter dem Absolutismus wird jedes Semstwo, mag es noch so „machtvoll" sein, unvermeidlich eine Missgeburt sein, die unfähig ist, sich zu entwickeln, unter einer Konstitution aber wird das Semstwo sofort seine heutige „politische" Bedeutung verlieren.

Die Einigung der Liberalen ist in zwei Formen möglich: durch Bildung einer selbständigen liberalen (selbstverständlich illegalen) Partei und durch Organisation der Unterstützung der Revolutionäre durch die Liberalen. Herr R. N. S. weist selbst auf die erste Möglichkeit hin, aber… wenn man diese Hinweise als den wirklichen Ausdruck der Absichten und Chancen des Liberalismus anerkennt, so geben sie nicht zu besonderem Optimismus Anlass.

Ohne Semstwo“ – schreibt er – „werden die Semstwoliberalen eine liberale Partei bilden oder als organisierte Kraft von der geschichtlichen Bühne abtreten müssen. Wir sind überzeugt, dass die Organisation der Liberalen zu einer illegalen, wenn auch ihrem Programm und ihren Methoden nach sehr gemäßigten Partei das unvermeidliche Resultat der Beseitigung des Semstwos sein wird."

Wenn es nur um die „Beseitigung" ginge, so könnte man noch lange darauf warten, denn selbst Witte will die Semstwos nicht beseitigen, die russische Regierung aber ist überhaupt sehr besorgt um die Erhaltung der äußeren Form sogar bei völliger Ausmerzung des Inhalts. Dass eine Partei der Liberalen sehr gemäßigt sein wird, ist ganz natürlich, und von einer Bewegung innerhalb der Bourgeoisie (nur auf eine solche Bewegung kann sich eine liberale Partei stützen) kann man auch nichts anderes erwarten. Worin aber soll nun die Tätigkeit dieser Partei, worin sollen ihre „Methoden" bestehen? Herr R. N. S. sagt nichts darüber.

An und für sich sagt er – kann die illegale liberale Partei, als eine Organisation, die aus den gemäßigtesten und am wenigsten beweglichen oppositionellen Elementen besteht, weder eine besonders breit angelegte noch eine besonders intensive Tätigkeit entfalten …"

Wir denken, dass eine liberale Partei innerhalb einer gewissen Sphäre, auch wenn diese durch örtliche und hauptsächlich durch Semstwo-Interessen beschränkt ist, durchaus imstande wäre, eine umfassende und intensive Tätigkeit zu entfalten – und weisen z. B. auf die Organisierung der politischen Enthüllungen hin …

Aber da auch andere Parteien eine solche Tätigkeit entfalten, insbesondere die sozialdemokratische oder Arbeiterpartei, so kann die liberale Partei – auch ohne ein direktes Übereinkommen mit den Sozialdemokraten – sich als sehr ernster Faktor erweisen …"

Das ist ganz richtig, und der Leser erwartet natürlich, dass der Verfasser wenigstens in ganz allgemeinen Zügen die Arbeit dieses „Faktors" skizziere. Aber Herr R. N. S. schildert anstatt

dessen das Anwachsen der revolutionären Sozialdemokratie und schließt:

Da eine mächtige politische Bewegung besteht… kann eine auch nur einigermaßen organisierte liberale Opposition eine große politische Rolle spielen: wenn die gemäßigten Parteien eine kluge Taktik anwenden, so ist der sich verschärfende Kampf zwischen den extremen gesellschaftlichen Elementen für sie stets von Vorteil…"

Das ist alles! Die „Rolle" des „Faktors" (der es bereits fertig gebracht hat, sich aus einer Partei in eine „Opposition" zu verwandeln) besteht darin, aus der Verschärfung des Kampfes „Vorteile" zu ziehen. Über die Teilnahme der Liberalen am Kampfe wird kein Wort gesagt, aber der „Vorteil" der Liberalen wird erwähnt. Ein falscher Zungenschlag, der wahrlich von der Vorsehung diktiert ist

Die russischen Sozialdemokraten haben niemals die Augen vor der Tatsache verschlossen, dass die politische Freiheit, für die sie in erster Linie kämpfen, vor allem der Bourgeoisie Vorteil bringen wird. Aus diesem Grunde den Kampf gegen den Absolutismus ablehnen könnte nur ein Sozialist, der in den schlimmsten Vorurteilen des Utopismus oder der reaktionären Volkstümlerei versumpft ist. Die Bourgeoisie wird die Freiheit benützen, um auf den Lorbeeren auszuruhen – das Proletariat braucht die Freiheit dringend, um den Kampf für den Sozialismus in seiner ganzen Breite zu entfalten. Und die Sozialdemokratie wird den Freiheitskampf unermüdlich führen, wie sich diese oder jene Schichten der Bourgeoisie zu diesem Kampfe auch verhalten mögen. Im Interesse des politischen Kampfes müssen wir jede Opposition gegen das Joch des Absolutismus unterstützen, aus welchem Anlass und in welcher gesellschaftlichen Schicht sie auch in Erscheinung treten mag. Uns ist darum die Opposition unserer liberalen Bourgeoisie überhaupt und unserer Semstwo-Anhänger insbesondere keineswegs gleichgültig. Gelingt es den Liberalen, sich zu einer illegalen Partei zu organisieren – um so besser, wir werden das Wachstum des politischen Selbstbewusstseins in den besitzenden Klassen begrüßen, werden ihre Forderungen unterstützen, werden danach streben, dass die Tätigkeit der Liberalen und die der Sozialdemokraten sich gegenseitig ergänztS.

Gelingt es ihnen nicht, so werden wir auch in diesem (wahrscheinlicheren) Falle die Liberalen nicht aufgeben, wir werden bemüht sein, den Kontakt mit einzelnen Personen zu festigen, sie mit unserer Bewegung vertraut zu machen, sie zu unterstützen durch die Entlarvung aller Niederträchtigkeiten der Regierung und aller Machenschaften der lokalen Behörden in der Arbeiterpresse, sie zur Unterstützung der Revolutionäre heranzuziehen. Ein solcher Austausch der gegenseitigen Dienste zwischen den Liberalen und den Sozialdemokraten geschieht auch jetzt, er muss nur erweitert und verstärkt werden. Aber obwohl wir stets bereit sind zu einem solchen Austausch der gegenseitigen Dienste, werden wir doch nie und nimmer auf den entschiedenen Kampf gegen jene Illusionen verzichten, die in der politisch-unreifen russischen Gesellschaft im Allgemeinen und in der russischen liberalen Gesellschaft im besonderen so stark verbreitet sind. Im Grunde genommen können wir, die bekannte Äußerung von Marx über die Revolution von 1848 variierend, auch von der russischen revolutionären Bewegung sagen, dass ihr Fortschritt nicht in der Eroberung irgendwelcher positiven Errungenschaften, sondern in der Befreiung von schädlichen Illusionen besteht27. Wir haben uns befreit von den Illusionen des Anarchismus und des volkstümlerischen Sozialismus, von der Geringschätzung der Politik, vom Glauben an die eigenartige Entwicklung Russlands, von der Überzeugung, dass das Volk zur Revolution bereit sei, von der Theorie der Machtergreifung durch die heroische Intelligenz und ihres Zweikampfes mit dem Absolutismus.

Auch für unsere Liberalen wäre es Zeit, sich von der offenbar theoretisch unhaltbaren und praktisch äußerst zähen Illusion zu befreien, als sei ein Parlamentieren mit dem russischen Absolutismus noch möglich, als sei irgendein Semstwo der Keim einer Konstitution, als könnten die aufrichtigen Anhänger der Konstitution ihren Hannibalschwur halten durch geduldige legale Tätigkeit und geduldige Aufforderungen an den Feind, sich zu unterwerfen.

1 Semstwos – Kreis- und Gouvernementsvertretungen, die für die lokalen wirtschaftlichen Bedürfnisse zu sorgen hatten. Die Red.

2 Dem Erscheinen des Leninschen Artikels „Die Hetze gegen das Semstwo und die Hannibale des Liberalismus" in der „Sarja" ging folgende in Nr. 5 der „Iskra" (Juni 1901) veröffentlichte Notiz voraus, die die Überschrift „Ein Geheimdokument" trug und möglicherweise von Lenin geschrieben war:

Wir lenken die Aufmerksamkeit der Leser auf die bei Dietz in Stuttgart erschienene, von der ,Sarja' herausgegebene Denkschrift Wittes. Die Denkschrift, die sich gegen das Projekt des früheren Innenministers Goremykin wendet, die Semstwos auch in den Gouvernements einzuführen, in denen diese noch nicht bestehen, ist interessant als Dokument, das die geheimsten Wünsche unserer Regierung schamlos enthüllt. Wir hoffen, in der nächsten Nummer unserer Zeitung dieses bemerkenswerte Dokument und das Vorwort zu ihm von Herrn R. N. S. (Struve – Die Red.) ausführlich zu besprechen. Dieses Vorwort, dessen Verfasser Verständnis bekundet für die politische Bedeutung der russischen Arbeiterbewegung, zeichnet sich in jeder anderen Beziehung durch die für unsere Liberalen übliche und kennzeichnende Unreife des politischen Gedankens aus."

In der „Iskra" ist kein Artikel über dieses Thema erschienen. Statt dessen veröffentlichte die „Sarja" den großen Artikel Lenins „Die Hetze gegen das Semstwo…".

Bei der Besprechung des Artikels durch die Redaktion der „Iskra" in einem lebhaften Briefwechsel zwischen den Redakteuren zeigte sich das Vorhandensein von zwei Standpunkten zur Frage des Verhältnisses der revolutionären Sozialdemokratie zu den Liberalen: auf der einen Seite standen Lenin, Martow, Potressow (der der „Iskra"-Organisation nicht angehörende Parvus, dem Lenin diesen Artikel gezeigt hatte, war mit diesem vollständig einverstanden), auf der anderen Seite – Plechanow, Axelrod und Sassulitsch. Die weiter unten angeführten Zitate aus dem Briefwechsel der Redaktionsmitglieder decken mit genügender Klarheit den Charakter der Meinungsverschiedenheiten auf, die sich zwar nicht so zuspitzten, wie später, Anfang 1902, bei der Erörterung des Parteiprogramms, die aber immerhin ein Anzeichen dafür waren, dass innerhalb der Redaktion keine völlige Einmütigkeit über die Grundfragen des revolutionären proletarischen Kampfes bestand. Außerdem geben diese Zitate eine Vorstellung von dem ursprünglichen, verlorengegangenen Text des Leninschen Manuskripts und von den Änderungen und Korrekturen, die auf Drängen der Gruppe „Befreiung der Arbeit" an dem Artikel vorgenommen wurden.

Der Meinungsaustausch über den Artikel „Die Hetze gegen das Semstwo …" verlief folgendermaßen:

Nachdem Lenin Anfang Juli seinen Artikel beendet hatte, gab er ihn zur Durchsicht den in München anwesenden Mitgliedern der „Iskra"-Redaktion: Martow, Sassulitsch und Potressow. V. I. Sassulitsch war mit dem Ton unzufrieden, den Lenin den Liberalen gegenüber im Allgemeinen und P. B. Struve im Besonderen angeschlagen hatte, und der eigentlich jede Möglichkeit einer Annäherung und Zusammenarbeit ausschloss. Das dann nach Genf gesandte Manuskript stieß auch auf den Widerstand Plechanows, der ebenfalls für eine Abschwächung des Tones und für die Beseitigung einer Reihe von scharfen Formulierungen, die gegen die Liberalen gerichtet waren, eintrat. In einem Brief an Lenin vom 14. Juli schrieb Plechanow folgendes:

Ihre Äußerungen über Herrn R. N. S. sind vollkommen richtig. Aber … auch hier muss einiges abgeschwächt werden, und zwar aus folgendem Grunde. Ihre Äußerungen verraten eine uns sehr begreifliche Gereiztheit. Für den Leser jedoch wird diese Gereiztheit unverständlich sein. Ich denke, es ist besser, nicht gereizt, sondern von oben herab zu sprechen: es sei doch eigentlich schade, dass der Verfasser dies und jenes noch nicht verstanden hat, doch ist er (der Verfasser) allem Anschein nach kein dummer Mensch; wahrscheinlich wird er mit der Zeit Fortschritte machen, und dann werden seine Artikel nicht mehr folgende Widersprüche aufweisen (folgen die von Ihnen aufgezeigten Widersprüche). Aber, wir wiederholen es, er ist entwicklungsfähig, und darum muss man ihm wohlwollend auf die Schulter klopfen: der Bursche hat eben doch einen Kopf auf den Schultern. Glauben Sie mir, so wird es viel bissiger klingen und auf den Leser nicht den Eindruck einer unverständlichen Gereiztheit machen. In den ersten vier Kapiteln müssen meiner Ansicht nach einige Ausdrücke geändert werden. Man darf jetzt nicht auf die Liberalen im allgemeinen schimpfen. Das ist taktisch nicht richtig, man muss auf die schlechten Liberalen schimpfen und an die guten Liberalen appellieren; auch wenn das Vorhandensein solcher eine für uns sehr zweifelhafte Sache ist, müssen wir sagen: wir wollen hoffen, dass solche Fehler, wie die Stellungnahme Kawelins zu Tschernyschewski und dergleichen mehr [Ich denke hier an die Äußerung Tschitscherins über die Revolutionäre der sechziger Jahre in „Russland am Vorabend des XX. Jahrhunderts". Man muss den Liberalen klarmachen, dass eine solche Einstellung zu den Revolutionären für sie nicht vorteilhaft ist. Zum Teil haben Sie bereits in diesem Sinne geschrieben.], nicht mehr vorkommen werden. Es ist notwendig, mehrfach darauf hinzuweisen, dass diejenigen, über die Sie sich so verächtlich äußern, eigentlich nicht wert sind, den Namen ,Liberale' zu tragen, dass die sog. Liberalen schlecht sind, der Liberalismus aber an und für sich große Achtung verdienen kann. Wir müssen doch die Liberalen als eventuelle Bundesgenossen behandeln; Ihr Ton aber, das muss man sagen, ist nicht der eines Bundesgenossen. Mildern Sie ihn, lieber Freund; der Artikel ist an und für sich ausgezeichnet, und es wäre schade, seinen Eindruck zu beeinträchtigen durch einige zu scharfe Ausdrücke über den Liberalismus. Sie sprechen wie ein Feind, es ist aber notwendig, wie ein Bundesgenosse (wenn auch nur ein in Zukunft möglicher) zu sprechen. Man darf auch nicht offen sagen: Wir wollen, dass die Liberalen uns Dienste erweisen. Natürlich möchten wir das. Sie aber sagen das zu offen heraus (ich habe sogar hinzu geschrieben: ,So darf man nicht sprechen'). Man muss sich diplomatischer ausdrücken. Das idealistische Vokabularium ist sehr reich an diplomatischen Ausdrücken, wie sie hier notwendig sind. Nehmen Sie es zu Hilfe.

Sehr gut und klug stellen Sie (am Schluss) fest, dass die Semstwos, ebenso wie die wirtschaftlichen Organisationen der Arbeiter, gegen die Endziele der Bewegung (in dem einen Falle: die soziale, im anderen Falle: die politische Revolution) missbraucht werden können. Sie sagen aber: Die wirtschaftlichen Organisationen können einiges erreichen usw.; ich habe dafür das Wort vieles gesetzt. Wenn Sie die belgischen Genossenschaften kennenlernen, werden Sie selber gerne zugeben, dass wirtschaftliche Organisationen – unter gewissen Vorbedingungen – nicht nur ,einiges' sind. {Diesen Abänderungsvorschlag Plechanows hat Lenin angenommen. Siehe Fußnote – Die Red.}

Mildern Sie also Ihren Ton, mein Freund. Man darf den Liberalismus jetzt nicht gegen das Fell streicheln – das wäre ein großer Fehler!

Liberale aber vom Schlage Berdjajews, Struves und anderer müssen vor den Augen aller Leser, und der Liberalen insbesondere, diskreditiert werden. Darum bitte ich Sie, vor allem das abzuschwächen, was sich auf den Liberalismus bezieht. Mit Herrn R. N. S. muss tüchtig abgerechnet werden, aber nicht so, dass der Liberale denkt, man wolle in der Person des armen R. N. S. ihn, den Liberalen überhaupt, treffen. Ein solcher Eindruck würde Herrn R. N. S. sehr willkommen sein … Wir aber müssen das vermeiden …" („Lenin-Sammelbuch" Nr. 3.)

Am gleichen Tage, d. h. am 14. Juli, schrieb Plechanow aus Anlass des Artikels „Die Hetze gegen das Semstwo" auch an Axelrod nach Zürich einen Brief, den er Axelrod zusammen mit dem Leninschen Manuskript übersandte.

Das Urteil des Verfassers über das Vorwort zur Denkschrift – schrieb Plechanow – ist vollkommen richtig, und hier ist nichts abzuschwächen, wenn V. I. (Sassulitsch – Die Red.) das auch sehr gerne haben wollte. Aber sein Ton gegenüber den Liberalen und dem Liberalismus in Russland ist zu unfreundlich. In seinen Äußerungen über unsere Liberalen hat er oft recht, aber es geht nicht an, sie so zu behandeln, wie er es tut. Und dann noch Folgendes. Es ist sehr wichtig, dass die Stelle von Dir aufmerksam durchgelesen wird, wo von der Bedeutung der Semstwo-Tätigkeit die Rede ist. Du bist unser scharfsinnigster Taktiker und Du musst darüber entscheiden, ob der Verfasser recht hat. Mir scheint, dass da etwas nicht stimmt. Doch handelt es sich nur um Nuancen, und der Artikel kann veröffentlicht werden, nachdem man die bedenklichen Stellen abgeschwächt hat. Die Randbemerkungen am Artikel stammen zum größten Teil nicht von mir, sondern von V. I. und Putman." (A. N. Potressow – Die Red.) (Briefwechsel G. V. Plechanows und P. B. Axelrods", Bd. II.)

Axelrod hatte seine Ansicht über „Die Hetze gegen das Semstwo" in einem umfangreichen Brief niedergelegt, den er am 19. Juli an den Münchener Teil der Redaktion sandte:

Wenn ich richtig verstehe, verlangt man von mir eine kategorische Erklärung darüber, ob ich für oder gegen die scharfe Entlarvungspolemik Petrows (Lenins – Die Red.) gegen die Liberalen und R. N. S. bin.

Nach zweimaligem Durchlesen des Artikels bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich ein solches Votum nicht abgeben kann. Ich persönlich bin der Meinung, dass, nachdem die Redaktion der „Sarja" den Druck des Buches mit dem Vorwort von R. N. S. (es handelt sich um das Buch „Selbstherrschaft und Semstwo" – Die Red.) in ihrer eigenen Druckerei zugelassen und mehr als das, sogar ihre Firma („gedruckt im Verlag der ,Sarja"') hergegeben hat, das Erscheinen einer in so gereiztem Ton gehaltenen Philippika gegen das Vorwort in den Spalten der Zeitschrift das Publikum nur befremden muss. Und wenn man auf die Hilfe der Liberalen, von der Petrow im Schlussteil des Artikels spricht, Wert legt, so muss man natürlich, in diesem Falle ganz besonders, ein procédé (Vorgehen) zu vermeiden suchen, das den Liberalen jede Lust nehmen muss, uns Material für Enthüllungen zu liefern. Von diesem Standpunkt aus ist z. B. ein Satz, wie der auf Seite 71 unterstrichene (der R. N. S. der Geschichtsfälschung beschuldigt), einfach unzulässig. {Ein (unterstrichener) Satz, der Struve offen der Geschichtsfälschung beschuldigt, ist im gedruckten Text nicht vorhanden, wohl aber stehen auf Seite 180 die Worte „nicht wahr", die unterstrichen sind und ferner heißt es, dass Struve „historische Tatsachen" „vertuscht". Es ist anzunehmen, dass diese Ausdrücke das Resultat der Abschwächung sind, die Lenin auf Drängen Axelrods, an seiner ursprünglichen Formulierung vorgenommen hat; diese ursprüngliche Formulierung kann jedoch nicht vollständig wiederhergestellt werden, da das Manuskript verlorengegangen ist – Die Red.} Wenn ich jedoch Einzelheiten und Erwägungen diplomatischer Natur beiseite lasse, finde ich die Kritik am russischen Liberalismus und insbesondere die Kritik am Vorwort im Wesentlichen richtig. Wenn Sie einen literarisch einwandfreien Artikel über das gleiche Thema von einem abseitsstehenden Mitarbeiter erhalten hätten, so würden Sie nicht das Recht haben, ihn nur wegen des scharfen polemischen Tones abzulehnen, und Sie würden das wohl auch kaum getan haben. Wahrscheinlich würden Sie einen solchen Artikel mit einem redaktionellen Kommentar – und nicht mit einer polemischen Bemerkung, – versehen, um Missverständnissen vorzubeugen. Den Artikel abzulehnen, wäre schon darum nicht angängig, weil wir uns selbst bisher noch nicht genügend im Klaren sind über unsere ligne de conduite (Verhaltenslinie – Die Red.) und uns darüber noch nicht verständigt haben. Offenbar ist jetzt die Zeit dazu gekommen. Solche Fragen können jedoch nicht beiläufig, besonders aber nicht brieflich entschieden werden. Solange dieser unbestimmte Zustand fortdauert, darf man einem Redaktionsmitglied – nur weil er einer der Redakteure ist – nicht eine Abstimmung über diesen oder jenen Standpunkt aufzwingen, ihn nicht verpflichten, diese oder jene ligne de conduite innezuhalten in den Fragen, über die uns zu verständigen – da konkrete Anlässe fehlten – wir noch nicht einmal den Versuch gemacht haben … Mir scheint, dass der Verfasser seinem Artikel ganz unnötigerweise die Frage zugrunde gelegt hat, ob das Semstwo „konstitutionell" sei. Mir scheint, dass das seiner Polemik eine zu einseitige Richtung gegeben und die Darstellung ungünstig beeinflusst hat

Ich denke, dass für uns die Frage im Vordergrund stehen muss, ob das Semstwo, und zwar in welchem Maße und unter welchen Bedingungen, ein Element oder Faktor der politischen Gärung ist. Wenn es ein solcher Faktor ist oder sein kann, so ist es seiner ,historischen Tendenz' nach mit dem Absolutismus unvereinbar, selbst wenn die Vertreter dieses letzteren in seinem Interesse halbe Zugeständnisse an ,die öffentliche Meinung' machten, und zwar um die Opposition zu spalten. Sind denn nicht sämtliche ,Reformen' in Westeuropa halbe Zugeständnisse, die den Zweck haben, die oppositionellen Kräfte zu spalten? Hinderte oder hindert das etwa die radikale Demokratie und das revolutionäre Proletariat, diese Zugeständnisse auszunutzen, teils als Basis zum Angriff auf das bestehende Regime, teils als Werkzeug und Material zur Beleuchtung der inneren Widersprüche und der Labilität dieses Regimes? Außerordentlich lebendig und interessant wird die Rolle des gesellschaftlichen Aufschwungs und der revolutionären Bewegungen in der Geschichte unserer Semstwos geschildert, ich muss jedoch gestehen, dass die Einheitlichkeit des Eindrucks und der Darstellung beeinträchtigt wird durch die Art, wie der Verfasser Gebrauch macht von der zweifellos vorhandenen Tatsache – die natürlich festgestellt werden muss –, dass das Semstwo ein Zugeständnis ist … von Seiten des Absolutismus … nicht zum Zwecke seiner Selbstvernichtung, sondern im Gegenteil.

Der Verfasser hat die politischen Keimzellen der Semstwos aufzuzeigen versucht. Da das Vorwort in Bezug auf die Frage der politischen Bedeutung des Semstwos verworren, inkonsequent, äußerst abstrakt und widerspruchsvoll ist, musste Petrow seine absolut richtigen Bemerkungen zu dieser Frage besonders eingehend entwickeln. In Anbetracht seiner scharfen Kritik an R. N. S. war das um so notwendiger. Für uns ist es jetzt ganz besonders wichtig, klarzumachen, dass „die konstitutionellen Keime" des Semstwos nur unter der energischen und systematischen Einwirkung der sozialdemokratischen, revolutionären Agitation zu einer lebendigen, revolutionären Kraft werden können. Auf welche Weise können und könnten nun (bei der gegenwärtigen Desorganisation und Programmlosigkeit würde es schädlich sein) die Sozialdemokraten die ,ständigen Konflikte' zwischen der Bürokratie und dem Semstwo utilisieren? … – das ist für uns die Hauptfrage. Im Wesentlichen müsste das ungefähr in der gleichen Weise geschehen, wie alle konkreten Beweise für die Unvereinbarkeit des Absolutismus mit der gesellschaftlichen Selbsttätigkeit jeder Art und auf jedem Gebiete von uns politisch ausgeschlachtet werden müssen. In meinem (als Broschüre erschienenen) Artikel „Die historische Lage …" habe ich, ohne konkrete Beispiele anzuführen, da ja den Lesern zur Genüge Beispiele bekannt sind, auf diese Frage eine klare Antwort gegeben.

Der Verfasser erklärt auf Seite 53, R. N. S. sei ,etwas Neues im Chor unserer unterirdischen Literatur'. Das ist vollkommen richtig. Worin aber dieses ,Neue' besteht, wird nicht aufgezeigt. Ist es wirklich seine Vorliebe für die ,legale' Entwicklung und seine Angst vor der Revolution? Aber in dieser Beziehung ist er nur eine zweite, etwas abgeänderte Ausgabe Dragomanows. Wenn im Vorwort irgendwelche für uns interessante Eigentümlichkeiten in Erscheinung getreten sind, so bestehen sie hauptsächlich darin, dass dieser Liberale, dieser Anhänger des friedlichen Fortschritts, feststellt und betont: 1. Dass die legale und die Semstwo-Opposition nur dank der von der Sozialdemokratie geführten Arbeiterbewegung eine ernste politische Rolle wird spielen können; 2. dass das Vorhandensein einer extremen, revolutionären Partei vor allem und hauptsächlich von Nutzen ist… für ,die gemäßigten Parteien'. Das ist kein falscher Zungenschlag, wie unser Freund annimmt, sondern es ist ein tendenziöser, wohl berechneter Hinweis, der für die Liberalen ebenso nützlich ist, wie für uns. An diese beiden Erklärungen müsste man sich mit beiden ,Tatzen' (ein klassischer Ausdruck der Schwester [Sassulitsch] – Die Red.) klammern, nicht um dem klugen Liberalen, der bei Marx und bei der Sozialdemokratie in die Schule gegangen ist, Komplimente zu machen, sondern um den Liberalen, deren Unterstützung auch Petrow für nützlich hält, eine Lehre zu erteilen. Ich beeile mich… auf einige Einzelheiten hinzuweisen, denen der Verfasser – obwohl er recht halsstarrig ist – hoffentlich Beachtung schenken wird.

1. Die Parallele zwischen der Losung von R. N. S. und der Losung ,eine Kopeke auf den Rubel' eignet sich sehr gut für die Charakteristik der opportunistischen Tendenz zur ,Vereinigung' auf dem Boden der ,unmittelbar fühlbaren und zum Bewusstsein gelangten Interessen'. Ob aber R. N. S. mit seiner Losung die Liberalen ,vereinigen' wird, das weiß ich nicht. Was aber die Arbeiter anbelangt, so wird die Losung ,eine Kopeke auf den Rubel' keinesfalls sie ,alle' vereinigen. Petrow weiß ebenso gut wie ich, dass diese Losung, die vielleicht einen Teil der Arbeiter vereinigen kann, die Arbeiterklasse spalten muss. Nur aus seiner polemischen Stimmung gegenüber R. N. S. erkläre ich mir seine Begeisterung für die erwähnte Parallele, die in diesem Punkte zu einem Werkzeug in den Händen der Anhänger der ,Rabotschaja Mysl' werden kann.

2. Der Verfasser wirft ferner R. N. S. vor, dass er keine ,Einschränkung der Selbstherrschaft durch eine Verfassung' fordert. Vielleicht ist das ein technischer Ausdruck in der Rechtswissenschaft – dann beuge ich demütig mein Haupt im Bewusstsein meiner Unwissenheit. Ich wage jedoch zu bemerken, dass gerade die gemäßigten Liberalen nicht abgeneigt sind, sich mit einer ,Einschränkung der Selbstherrschaft' (des Absolutismus) zufriedenzugeben, während die echten, hundertprozentigen Konstitutionalisten die Vernichtung des Absolutismus anstreben. Ich denke also, dass dem Verfasser ein lapsus linguae (falscher Zungenschlag – Die Red.) unterlaufen ist.

3. Ist es nicht zu früh, in einem solchen Tone den Liberalen zu erklären, wie wir sie ausnützen wollen…? Meiner Ansicht nach müssten die betreffenden Stellen des Schlusskapitels geändert oder überhaupt weggelassen werden …

Ich wiederhole: ich stimme nicht gegen die Veröffentlichung des Artikels, weil ich es für unmöglich halte, in solchen Fragen die Individualität nicht nur naher, sondern auch außenstehender Mitarbeiter einzuschränken. Der Artikel zeigt, dass eine eingehende Aussprache über eine ganze Reihe sehr wichtiger Fragen uns dringend Not tut. Solange das nicht geschehen ist, muss eine freie Diskussion gestattet sein." („Lenin-Sammelbuch" Nr. 3.)

Nachdem Lenin den oben angeführten Brief und das Manuskript seines Artikels von Axelrod erhalten hatte, schrieb er am 25. Juli in einem Brief an Plechanow über seinen Standpunkt zu den von Axelrod und Plechanow vorgeschlagenen Änderungen: „P. B. Axelrod ist ebenfalls für eine Abschwächung. Selbstverständlich habe ich alle von Ihnen und P. B. Axelrod konkret angedeuteten Abschwächungen bereits vorgenommen. Was jedoch die Änderung des gesamten Tones des Artikels bzw. den Rat anbelangt, alle Angriffe durch bissige Belehrung von oben herab zu ersetzen, – so gefällt mir zwar dieser Ihr Plan, doch zweifle ich, ob ich das tun könnte. Hätte ich keine ,Gereiztheit' gegen den Verfasser empfunden, so würde ich nicht so geschrieben haben. Ist aber ,Gereiztheit' (die nicht nur uns, sondern auch jedem sozialdemokratischen Leser des Vorworts verständlich ist) vorhanden, so kann ich sie nicht mehr verbergen, und da hilft keine List. Ich werde mich bemühen, noch einmal zu mildern und noch einmal Vorbehalte zu machen; vielleicht wird dies oder jenes gelingen." („Lenin-Sammelbuch" Nr. 3.)

In einem Brief vom 26. Juli berichtete Lenin Axelrod über die Korrekturen, die er auf Vorschlag Axelrods in sein Manuskript eingefügt hatte:

„…Alle Ihre Hinweise auf die Notwendigkeit der Abschwächung bestimmter Stellen (ebenso wie alle Hinweise G. V. Plechanows) habe ich in Betracht gezogen, das heißt, ich habe überall abgeschwächt. ,Eine Kopeke auf den Rubel' wird alle Arbeiter vereinigen: ich habe in Klammern hinzugefügt ,nach Ansicht der Ökonomisten'. An Stelle der ,Einschränkung des Absolutismus' habe ich ,Beseitigung' geschrieben, wie Sie vorgeschlagen haben. Die Seiten, die vom Standpunkte unserer Perspektive der Ausnutzung der Liberalen unvorsichtig sind (d. h. die unvorsichtig ausgesprochenen Gedanken) habe ich vollständig gestrichen, wie Sie geraten haben. Ich habe auch eine Anmerkung mit einem Hinweis auf Ihre Broschüre ,Die historische Lage' eingefügt und dazu bemerkt, dass die von mir wenig berührte Frage von Ihnen ausführlich analysiert worden ist. Ich habe einige Worte darüber eingefügt, dass man sich über das große Verständnis der Liberalen (in der Person R. N. S.) für die Arbeiterbewegung freuen kann. Mein ,Bedauern' über das Erscheinen der Denkschrift Wittes mit einem solchen Vorwort habe ich gestrichen. Dann habe ich noch einige scharfe Bemerkungen in der ersten und in der zweiten Hälfte des Artikels weggelassen. Überhaupt bin ich gar nicht so halsstarrig in Bezug auf die Abschwächungen einzelner Stellen, nur kann ich prinzipiell nicht auf den Gedanken an unser Recht (und unsere Pflicht) verzichten, mit R. N. S. für sein politisches Jonglieren abzurechnen. Er ist eben ein politischer Jongleur – davon habe ich mich beim wiederholten Lesen des Vorworts endgültig überzeugt und ich habe in meine Kritik all das hineingetragen, was uns die letzten Monate gebracht haben (d. h. die Verhandlung mit dem ,Kälbchen', den Versuch der Verständigung usw.). Durch die Abrechnung mit diesem Subjekt habe ich mir sozusagen Luft machen wollen. Die Klärung der Frage des konstitutionellen Charakters des Semstwos hielt ich für den Schwerpunkt des ganzen Artikels, der ,Semstwo'-Liberalismus ist auf dem Gebiete der Einwirkung auf die Gesellschaft ungefähr das Gleiche, wie auf dem Gebiete der Einwirkung auf die Arbeiter – der Ökonomismus. Wir müssen die eine Beschränktheit ebenso bekämpfen, wie die andere.

Morgen wird bei uns wahrscheinlich über die Frage des Artikels entschieden werden. Wenn er sofort in den Druck geht, so werde ich Ihnen den ersten Korrekturabzug übersenden; vielleicht werden Sie mir noch einige Winke geben, dann werden wir noch Zeit haben, sie zu berücksichtigen (während der ersten und der zweiten Korrektur)."

Als Axelrod aus Lenins Brief erfuhr, dass Plechanow mit dem „Ton" des Leninschen Artikel nicht einverstanden war, brachte er seine Gedanken über den Artikel „Die Hetze gegen das Semstwo..,." (in einem Brief vom 28. Juli an den Münchener Teil der Redaktion) noch einmal zum Ausdruck.

„… In seinem Brief an mich hat er (Plechanow – Die Red.) sich nur für eine Abschwächung der Polemik gegen die Liberalen ausgesprochen. Offen gestanden sehe ich aber nicht ein, wie man eine solche Abschwächung vornehmen kann, ohne den Charakter der Polemik gegen R. N. S. zu ändern. In beiden Fällen sind Ton und Charakter der Polemik organisch verbunden mit der gesamten Disposition des Artikels, mit seiner Hauptidee und dem ganzen Gedankengang. Ich weiß nicht, welche Änderungen der Bruder (Plechanow – Die Red.) vorgeschlagen hat. Ich persönlich glaube, dass der Artikel unter einer ,Änderung des Tones' an und für sich, d. h. ohne radikale prinzipielle Änderungen, in literarischer Beziehung nur schlechter werden kann. Ich muss gestehen, dass ich, wenn der Artikel von einem außenstehenden Mitarbeiter eingesandt worden wäre, für seine Veröffentlichung in der jetzigen Fassung eintreten würde, weil der revolutionäre Geist, der ihn durchdringt, sehr bestechend ist, sehr erfrischend und anregend wirkt. Aus diesem Grunde hatte und habe ich nicht den Mut, kategorisch gegen den ,Ton' des Artikels zu stimmen. Aber – noblesse oblige (Der Stand verpflichtet – Die Red.). Auf dieser Erwägung beruht meine kritische Einstellung zum Artikel, da Petrow ihn geschrieben hat und da er die kollektive Ansicht der ,Sarja'-,Iskra' zum Ausdruck bringt, die eine zentrale und führende Rolle zu spielen berufen ist. Ich hoffe, dass Sie meine Anmerkungen im Heft Petrows gefunden haben, das ich … vor ungefähr acht bis neun Tagen abgesandt habe. Leider war diese zu sprunghaft, immerhin aber konnten Sie aus ihnen ersehen, dass ich den Hauptmangel des Artikels nicht in seinem ,Ton' sehe, sondern in einer gewissen Unklarheit, die in den Ansichten des Verfassers über die behandelte Frage vorhanden ist. Wenn R. N. S. sich Unklarheit und Schwankungen nach rechts zu Schulden kommen lässt, so weist unser Verfasser den gleichen Mangel unter dem Einfluss radikaler Sympathien auf. Darum verfällt er in diesen entlarvenden polemischen Ton, der auch mir, offen gesagt, stellenweise nicht am Platze oder zumindest so unmotiviert erschien, dass ich befürchtete, er ,würde dem Leser unverständlich sein'." („Lenin-Sammelbuch" Nr. 3.)

In einem Brief vom 30. Juli berichtete Lenin Plechanow über das weitere Schicksal der „Hetze gegen das Semstwo …":

Meinen Artikel gegen R. N. S. habe ich nach Abschwächung einer Reihe schärfer Stellen in Druck gegeben. Ich habe noch ein kleines Nachwort geschrieben, in dem ich eine Parallele zog zwischen einem Artikel Dragomanows (,Klopfet an, so wird euch aufgetan') und R. N. S., und zwar zugunsten des ersteren. {Dieses „kleine Nachwort" fehlt im gedruckten Text des Artikels. Anscheinend wurde es im letzten Augenblick von Lenin gestrichen – Die Red.} Ich werde auch dort (auf Drängen Welikas) einige Ausdrücke abschwächen. Der allgemeine Ton meiner Polemik lässt sich aber nicht mehr von Grund aus umarbeiten." („Lenin-Sammelbuch" Nr. 3.)

Aber auch nachdem der Artikel in Druck gegeben war, fuhren die Mitglieder der Gruppe „Befreiung der Arbeit" fort, auf neue Änderungen zu bestehen. Axelrod sandte nach Empfang des Korrekturabzuges am 28. August Lenin einen Brief, in dem er die „Einseitigkeit" in der Behandlung des von Lenin gewählten Themas unterstrich:

Mein allgemeiner Eindruck ist jedoch ungefähr der gleiche, wie nach der ersten Lektüre des Manuskripts. Dem radikalen Publikum muss der Artikel sehr gefallen, und ich werde mich aufrichtig freuen, wenn diese meine Annahme voll und ganz eintrifft. Persönlich jedoch denke ich nach wie vor, dass der Verfasser das literarische Material, das den Anlass zum Artikel gab, einseitig ausgenützt hat.

Ich kann eine Bemerkung nicht unterdrücken. In den Schlusszeilen fasst der Verfasser unter dem Wort ,wir' unwillkürlich Revolutionäre und Liberale zusammen. ,Die Illusionen des Anarchismus und des volkstümlerischen Sozialismus …' sind eins, die Illusionen des Parlamentierens mit dem Absolutismus aber etwas anderes. Ich denke, dass der Verfasser hier leicht eine Änderung vornehmen und ein paar Worte einfügen könnte, damit die so verschiedenartigen Elemente nicht zu einem ,wir' vereinigt werden. Man könnte z. B. nach den Worten ,ihres Zweikampfes mit dem Absolutismus' einen Punkt setzen und den neuen Satz mit den Worten beginnen: ,Auch für unsere Liberalen wäre es Zeit, sich von der offenbar…' {Diese Änderung hat Lenin angenommen – Die Red.} In Bezug auf den ,von der Vorsehung diktierten falschen Zungenschlag' ist der Verfasser aber doch unbeugsam geblieben, – und er wundert sich noch über das Beiwort ,halsstarrig'."

Als Lenin am 30. August die von Axelrod zurückgesandte Korrektur in Druck gab, setzte er gleichzeitig Axelrod in Kenntnis von seiner Stellungnahme zu den Änderungen, die dieser in seinem Brief vom 28. Juli vorgeschlagen hatte:

Die von Ihnen vorgeschlagenen Änderungen im Schlussteil, die Liberalen und die Revolutionäre, die durch ein ,wir' vereinigt waren, von einander zu trennen, habe ich vorgenommen. In Bezug auf ,den falschen Zungenschlag' konnte ich nichts mehr unternehmen; die Änderung dieser Stelle würde zu große Änderungen erfordern; außerdem gestattet der ganze Geist des Artikels nicht eine Änderung im Sinne des Aufhebens der ,Einseitigkeit'. Sie haben natürlich recht, dass die Behandlung der Frage eine ,einseitige' ist: wie sollte man auch in einem polemischen Artikel, der dem Angriff auf eine der Flanken unserer Gegner gewidmet ist, Allseitigkeit wahren! Damit will ich sagen, dass dieser Mangel zu tief liegt, um durch eine einzelne Änderung beseitigt werden zu können, – aber durchaus nicht, dass ich den Mangel nicht bemerkt hätte." („Lenin-Sammelbuch" Nr. 3.)

Dieser Brief Lenins bildete den Abschluss des Briefwechsels zwischen den Redaktionsmitgliedern der „Iskra", den sie im Verlaufe von anderthalb Monaten über den Artikel „Die Hetze gegen das Semstwo und die Hannibale des Liberalismus" geführt hatten.

P. Struve überging die „Hetze gegen das Semstwo…" mit Stillschweigen. Nur in Nr. 7 des von ihm redigierten „Oswoboschdenije" („Befreiung") (die erste Nummer erschien im Juni 1902, Nr. 7 erschien am 18. September 1902 n. St.) finden wir eine redaktionelle Notiz „Aus Anlass eines Vorwurfs", die sich auf „Die Hetze gegen das Semstwo" bezieht: Struve zitiert Lenins Worte „Welch eine gigantische historische Bedeutung es hätte, wenn das Volk in Russland wenigstens einmal der Regierung eine gründliche Lektion erteilen wollte" (siehe S. 179 dieses Bandes – Die Red.) und weist nach, dass der friedliche Weg der Reformen revolutionären Kampfmethoden vorzuziehen sei.

A Ich spreche hier selbstverständlich nur von jener – bei weitem nicht einzigen und nicht besonders „stark wirkenden" – Art von „Gegengiften", die aus Presseerzeugnissen besteht.

B „Selbstherrschaft und Semstwo". Vertrauliche Denkschrift des Finanzministers S. J. Witte, mit einem Vorwort und Anmerkungen von R N S Druck: „Sarja", Stuttgart; Verlag von J. H. W. Dietz Nachf., 1901, S. XLIV

C Dragomanow, „Der Semstwo-Liberalismus in Russland", S. 4. Der Verfasser der Denkschrift, Herr Witte, verschweigt oft, dass er Dragomanow abschreibt (siehe z. B. die „Denkschrift", S. 36 u. 37, und den erwähnten Aufsatz, S. 55 u. 56), obwohl er sich an anderen Stellen auf Dragomanow beruft.

D Dragomanow, S. 5. Verkürzte Wiedergabe in der „Denkschrift", S. 64, aber mit Hinweis nicht auf Dragomanow, sondern auf die von Dragomanow zitierten Zeitschriften „Kolokol", Nr. 126, und „Revue des deux Mondes", 1862, 15. Juni.

{Die Zeitschrift „Kolokol" („Die Glocke") wurde von A. I. Herzen und N. P. Ogarew in London im Jahre 1853 in der von Herzen gegründeten „freien russischen Druckerei" herausgegeben, wo auch die ebenfalls von Herzen herausgegebene Zeitschrift „Polarnaja Swjesda" („Der Polarstern") (1855–1862), Flugblätter und andere Literatur gedruckt wurden. Die Zeitschrift „Kolokol" erschien regelmäßig im Laufe von zehn Jahren, die erste Nummer erschien am 1. Juli 1857, die letzte (Nr. 245) am 1. Juli 1867. In den ersten Jahren ihres Erscheinens hatte die Zeitschrift einen gewaltigen Einfluss und fand große Verbreitung in den Kreisen des Adels, der Beamten, der Intellektuellen und zum Teil sogar in den Hofkreisen – hauptsächlich wegen seiner Enthüllungen. Der „Kolokol" vertrat ein gemäßigt-liberales Programm mit slawophilem Einschlag: Befreiung der Bauern mit Landzuteilung, Freiheit des Wortes unter Beibehaltung der Monarchie, Föderation der slawischen Völker. Nachdem die Hoffnung, die Herzen im Zusammenhang mit der Bauernreform auf die Regierung Alexanders II. gesetzt hatte, zusammengebrochen waren, nahm der „Kolokol" eine radikalere Stellung ein, ohne jedoch das revolutionäre und sozialistische Programm jemals zu unterstützen. Diese Linksschwenkung des „Kolokol" konnte aber das Sinken seines Einflusses nicht mehr aufhalten, da die fortschrittliche, radikal-demokratische Jugend sich mit dem gemäßigt-liberalen Programm des „Kolokol" nicht zufrieden gab und sich dem „Sowremennik" („Der Zeitgenosse") Tschernyschewskis und Dobroljubows zuwandte, während der liberale Adel und das liberale Beamtentum, die bisher das Hauptauditorium des „Kolokol" gebildet hatten, sich von Herzen – wegen der Unterstützung des polnischen Aufstandes durch den „Kolokol" – abwandten und ein Sprachrohr für ihre antipolnischen Stimmungen in den patriotischen und nationalistischen „Moskowskije Wjedomosti" (Moskauer Nachrichten) M. N. Katkows fanden. Die Verbindungen, die der „Kolokol" mit Russland geknüpft hatte, begannen sich zu lockern. Um die frühere Lage des „Kolokol" wiederherzustellen, verlegte Herzen im Mai 1865 die Herausgabe der Zeitschrift in die Schweiz (Genf), in die Nähe der Emigrantenzirkel und der russischen studierenden Jugend; doch sank der Einfluss des „Kolokol" immer weiter und am 1. Juli 1867 stellte Herzen das Erscheinen der Zeitschrift ein. Anfang 1868 begann der „Kolokol" wieder zu erscheinen – aber bereits in französischer Sprache mit einer „russischen" Beilage; am 1. Dezember 1868 erschien die letzte Nummer des „Kolokol" (Nr. 14–15). Im Jahre 1869 erschienen 15 Nummern des „Supplement du Kolokol" (Ergänzungsheft zum „Kolokol").

„Revue des deux Mondes" ist eine Zeitschrift, die seit 1829 in Paris erscheint. Sie trug zunächst einen künstlerisch-literarischen Charakter, wurde dann umgestaltet und ergänzt durch wissenschaftliche, philosophische und politische Abhandlungen. In der Epoche des Zweiten Kaiserreiches (1852 bis 1870) stand die Zeitschrift der Regierung Napoleons III. in gemäßigter und loyaler Opposition gegenüber. Lenin meint hier den Artikel von Charles de Mazade „La Russie sous l'Empereur Alexandre II" („Russland unter der Herrschaft des Kaisers Alexander II."), Jahrgang XXXIX, S. 769–803.}

E Nebenbei bemerkt, ist vor kurzem (am 19. April d. J. d. h. des Jahres 1901) Nikolai Alexandrowitsch Bakunin, ein jüngerer Bruder des berühmten M. A. Bakunin, einer der Initiatoren dieser Adresse, auf seinem Erbgut im Gouvernement Twer gestorben. N. A. Bakunin hatte zusammen mit seinem jüngeren Bruder Alexej und anderen Schiedsrichtern die Adresse von 1862 unterschrieben. Diese Adresse – teilt der Verfasser der Notiz über N. A. Bakunin in einer unserer Zeitungen mit – hatte die Bestrafung der Unterzeichneten zur Folge. Nach einjähriger Haft in der Peter-Pauls-Festung wurden die Gefangenen freigelassen, wobei aber N. A. Bakunin und und sein Bruder Akexej nicht begnadigt wurden (sie hatten das Begnadigungsgesuch nicht unterzeichnet), so dass sie keine öffentlichen Ämter mehr bekleiden durften. Nach diesen Ereignissen ist N. A. Bakunin nie mehr im öffentlichen Leben hervorgetreten, er hätte es ja auch gar nicht mehr gekonnt … So rechnete unsere Regierung in der Zeit der „großen Reformen" mit den legal wirkenden adligen Gutsbesitzern ab! Und das war 1862 vor dem polnischen Aufstand, als selbst Katkow vorschlug, einen allrussischen Semski Sobor einzuberufen.

3 Rasnotschinzy - ein Ausdruck, der in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entstand und mit dem man die nichtadlige, den verschiedenen Ständen entstammende Beamtenschaft bezeichnete. Die Red

4 „Welikoruss" („Der Großrusse") war ein Geheimzirkel (1861) mit gemäßigt-konstitutionellem Programm, der in der zweiten Hälfte des Jahres 1861 drei Nummern der in Russland in einer Geheimdruckerei gedruckten Zeitschrift „Welikoruss" herausgegeben hatte. Die Namen der Mitglieder der Gesellschaft „Welikoruss" sind von der Polizei nicht festgestellt worden und bis heute unbekannt geblieben. Unter der Anklage der Herausgabe und der Verbreitung des „Welikoruss" wurde der frühere Offizier W. A. Obrutschew verhaftet und zu Zwangsarbeit verurteilt. Mehrere Studenten, die der Zugehörigkeit zum Zirkel beschuldigt wurden, mussten wegen Mangel an Beweisen freigesprochen werden. Es ist möglich, dass N. G. Tschernyschewski mit der Gruppe „Welikoruss" in Verbindung stand. Einige Zeit nach dem Prozess Obrutschews erschien Nr. 4 des „Welikoruss", doch die früheren Mitglieder der Gesellschaft erklärten diese Nummer für gefälscht (siehe „Swoboda" Nr. 2, 1863, Verlag „Semlja i Wolja"). Der „Welikoruss" wandte sich in seinen Flugblättern an die „gebildeten Klassen" und verlangte „eine gute Lösung der Leibeigenschaftsfrage" (Befreiung der Bauern ohne Loskauf), „eine wahrhaft konstitutionelle Monarchie", die Loslösung Polens von Russland und das Selbstbestimmungsrecht für die Ukraine, Gerichts- und Verwaltungsreformen, Glaubensfreiheit und Abschaffung der Stände. Der Nummer 3 des „Welikoruss" lag der Entwurf einer Adresse bei, für die „das Komitee" Unterschriften zu sammeln empfahl.

5 Die „Semskaja Duma" war ein gemäßigt-liberaler Aufruf, der das Datum vom April 1862 trug und im Frühjahr des gleichen Jahres in Petersburg verbreitet, dann in Nummer 139 vom 15. Juli 1862 des Herzenschen „Kolokol" zum Abdruck gebracht wurde. Der Aufruf verkündete die Gründung der Partei „Semskaja Duma", die sich die Befreiung der Bauern mit Landzuteilung und die Einberufung der Semskaja Duma aus gewählten Vertretern aller Stände zum Ziele setzte. Diese sollte dann ein neues „Statut" für die Befreiung der Bauern und die Entschädigung der Gutsbesitzer ausarbeiten. Der Aufruf appellierte an alle „ehrlichen und wohlgesinnten Leute'' und sprach die Überzeugung aus, dass die Regierung die „rechtmäßigen Forderungen des Volkes" wird erfüllen müssen. Die Zusammensetzung der „Partei" und die Verfasser des Aufrufes blieben unbekannt. (Den Text des Aufrufes siehe in „Materialien zur Geschichte der revolutionären Bewegung in Russland in den sechziger Jahren", zweite Beilage zu den Sammelheften „Staatliche Verbrechen in Russland", die 1905 unter der Redaktion B. Basilewskis in Paris, dann in Nummer 2 des „Swobodnoje Slowo" („Das freie Wort") erschienen sind.

6 „Semlja i Wolja" („Land und Freiheit") war eine geheime Gesellschaft, die im Jahre 1862 aus einem Zirkel des (im Mai) verhafteten N. A. Serno-Solowjewitsch hervorging. Der Gesellschaft (die mit der Gesellschaft „Semlja i Wolja" der siebziger Jahre nicht zu verwechseln ist) gehörten an: A. A. SIepzow, N. I. Utin, eine gewisse Beziehung zu ihr hatte P. Lawrow. Die „Semlja i Wolja", die im Namen des „Russischen Zentralen Volkskomitees" auftrat, erließ einen Aufruf „An die gebildeten Klassen", von denen sie den Verzicht auf die Unterstützung der reaktionären Regierung Alexanders II. verlangte, ferner einen Aufruf an die „Offiziere aller Truppenteile", und zwei Nummern des Blättchens „Swoboda", in denen die „Semlja i Wolja" die gebildeten Klassen aufforderte, sich dem unvermeidlichen Volksaufstand gegen den Absolutismus anzuschließen und dadurch „das Blutvergießen, das die Regierung durch ihr weiteres Bestehen hervorrufen wird, abzuwenden oder zumindest zu verringern". Im Jahre 1863 stellte die Gesellschaft ihre Tätigkeit ein.

G Vergl. Burzew, „In hundert Jahren", S. 39 (russisch). '

7 „Molodaja Rossija" („Das Junge Russland") war eine Proklamation, die 1862 erschien und dem Moskauer Zirkel P. G. Saitschnewskis und P. Argiropulos entstammte. Sie erschien gerade während der berühmten Petersburger Brände, kurz vor der Verhaftung N. Tschernyschewskis. Die Proklamation, die im Namen des „Zentralen Revolutionären Komitees" erlassen war, teilte die gesamte russische Gesellschaft in zwei Parteien: die zaristische (Gutsbesitzer und Kaufleute) und das Volk. Sie rief das Volk zu einer „blutigen und unerbittlichen Revolution" gegen die besitzenden Klassen und vor allem zur Vernichtung des Hauses Romanow auf. Die „Molodaja Rossija", die für den revolutionären Umsturz agitierte, riet allen revolutionären Elementen, ihre Stützpunkte besonders in der Jugend, der Armee und unter den Sektierern zu suchen; die nach dem Umsturz entstandene revolutionäre Regierung wird mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet sein und eine Reihe von Maßnahmen durchführen zur Herstellung der republikanischen föderativen Staatsordnung mit Nationalversammlung und Provinzialversammlungen, mit Wählbarkeit der Richter, vergesellschaftlichten Fabriken und Läden; die völlige Befreiung der Frauen wird verwirklicht; es wird eine Einkommensteuer eingeführt und das stehende Heer durch eine Nationalgarde ersetzt. Die in revolutionärem Ton gehaltene Proklamation, die die Spuren des Einflusses der jakobinischen und der sozialistischen Ideen trug, rief in der damaligen russischen Presse eine ungeheure Aufregung hervor und wurde von Herzen und sogar von Bakunin verurteilt Argiropulo starb im Gefängnis, Saitschnewski wurde zu Zwangsarbeit nach Sibirien verschickt.

H L. Pantelejew, „Aus den Erinnerungen der sechziger Jahre" S 315 des Sammelbuches „Auf ruhmvollem Posten". {„Auf ruhmvollem Posten" war ein literarisches Sammelbuch, das die Volkstümler herausgegeben hatten und das dem vierzigjährigen Jubiläum (1860–1900) der literarischen Tätigkeit N. K. Michailowskis gewidmet war. Das Sammelbuch enthielt Artikel A. Pjeschechonows, N. Karyschews, W. Semewskis, A. Juschakows, A. Tschuprows, P. Miljukows, W. Tschernows („Bauer und Arbeiter als Kategorien wirtschaftlicher Ordnung"), N. Anenskis, W. Mjakotins u. a.} In diesem kleinen Artikel sind einige sehr interessante Tatsachen über die revolutionäre Gärung in den Jahren 1861/62 und über die Polizeireaktion zusammengetragen… Zu Beginn des Jahres 1862 war die gesellschaftliche Atmosphäre bis zum äußersten gespannt; der geringste Umstand konnte dem Gang der Dinge eine scharfe Wendung nach dieser oder jener Richtung geben. Eine solche Rolle spielten auch die Feuersbrünste im Mai 1862 in Petersburg." Sie begannen am 16. Mai, von besonderer Bedeutung waren die vom 22. und 23. Mai – an diesem letzten Tag hat es fünf Feuersbrünste gegeben. Am 28. Mai stand der Apraxin-Hof in Flammen und ein gewaltiger Teil seiner Umgebung brannte nieder. Im Volke begann man, die Studenten der Brandstiftung zu beschuldigen, und diese Gerüchte wurden von den Zeitungen wiederholt. Der Aufruf des „Jungen Russland", der der gesamten gegenwärtigen Gesellschaftsordnung den schärfsten Kampf ankündigte und alle Mittel billigte, wurde als Bestätigung der Gerüchte über vorsätzliche Brandstiftungen angesehen. „Gleich nach dem 28. Mai wurde in Petersburg eine Art von Kriegszustand proklamiert." Ein eingesetzter Sonderausschuss wurde beauftragt, außerordentliche Maßnahmen zum Schutze der Hauptstadt zu ergreifen. Die Stadt wurde in drei Distrikte geteilt, mit je einem Militärgouverneur an der Spitze. Für Angelegenheiten der Brandstiftungen wurde ein Feldgericht eingesetzt. Der „Sowremennik" und das „Russkoje Slowo" wurden für acht Monate, Aksakows „Djen" wurde endgültig verboten. Strenge provisorische Verordnungen über die Presse wurden erlassen. (Diese wurden bereits am 12. Mai bestätigt, also noch vor den Feuersbrünsten. Der „Gang der Dinge" schlug also, unabhängig von den Feuersbrünsten, eine ausgeprägt reaktionäre Richtung ein, entgegen der Auffassung des Herrn Pantelejew.) Verordnungen über die Beaufsichtigung der Druckereien erschienen es folgten zahlreiche Verhaftungen politischen Charakters (Tschernyschewskis, N. Serno-Solowjewitschs, Rymarenkos u. a.), die Sonntagsschulen und Volkslesehallen wurden geschlossen, die Abhaltung von öffentlichen Vorträgen in Petersburg erschwert, die 2. Abteilung des Literatur-Fonds, ja sogar der Schachklub wurden geschlossen.

Die Untersuchungskommission war nicht imstande, einen Zusammenhang zwischen Feuersbrünsten und Politik festzustellen. Stolbowski, ein Mitglied der Kommission, erzählt Herrn Pantelejew, „wie es ihm in der Kommission gelungen ist die wichtigsten der falschen Zeugen zu entlarven die anscheinend Werkzeuge in Händen der Polizeiagenten waren." (325/26 )

Es besteht also ein sehr schwerwiegender Grund zu der Annahme, dass die Gerüchte über die Brandstiftung durch Studenten von der Polizei verbreitet worden sind. Die gemeine Ausnutzung der Unwissenheit des Volkes zur Verleumdung von Revolutionären und Oppositionellen war also auch zur Zeit , da die „Epoche der großen Reformen“ ihren Höhepunkt erreichte, ein gebräuchliches Mittel.

{„Sowremennik" („Der Zeitgenosse") – eine literarisch-politische Zeitschrift, die im Jahre 1836 von A. S. Puschkin und P. A. Pletnjow gegründet und in den sechziger Jahren von N. Nekrassow und A. Pypin redigiert wurde. Mitarbeiter der Zeitschrift waren: Tschernyschewski, Dobroljubow, Panajew, A. Tolstoi („Kusjma Prutkow"). Die Zeitschrift wurde im Jahre 1866 verboten.

Russkoje Slowo" („Das russische Wort") – eine literarisch-politische Zeitschrift, die im Jahre 1859 gegründet wurde. Hatte besonderen Einfluss und Verbreitung in den Jahren 1862–1866, erschien unter der Redaktion G. E. Blagoswetlows und N. A. Blagoweschtschenskis. An der Zeitschrift arbeiteten mit: D. I. Pissarew, W. Saizew, N. Schelgunow und A. Schtschapow. Im Jahre 1866 erschien nur eine Nummer. Die Zeitschrift wurde verboten im Zusammenhang mit dem Attentat Karakosows.

Djen" („Der Tag") – eine Wochenzeitung, die von dem Slawophilen I. S. Aksakow in den Jahren 1861–1865 in Moskau herausgegeben wurde. Im Jahre 1862 wurde sie wegen oppositioneller Richtung für einige Monate verboten, im Jahre 1867 stellte sie ihr Erscheinen ein.}

8 Die Generalstände. Die Red. {„Die Generalstände" waren eine Ständevertretung, die vom 14. bis zum 18. Jahrhundert in Frankreich bestanden. Die zum letzten Mal im Jahre 1789 einberufenen Stände waren ein Prolog zur Großen Französischen Revolution. Außer den Generalständen bestand in Frankreich in der vorrevolutionären Epoche die Institution der Notabeln, die vom König einberufen wurden; es waren dies Vertrauensleute aus den privilegierten Ständen und Rechtsgelehrte, die eine verhältnismäßig eng begrenzte Versammlung beratenden Charakters bildeten.}

9 In der Epoche der Großen Französischen Revolution unterdrückte der Konvent die Aufstände im Lande mit Hilfe terroristischer Maßnahmen; dabei haben die Kommissare des Konvents in mehreren Fällen, in denen sich die militärischen Operationen in der Nähe großer Flüsse abspielten, die Konterrevolutionäre nicht nur niedergeschossen, sondern auch massenweise ertränkt (Noyades).

I Wir zitieren nach der deutschen Übersetzung der Dragomanowschen Ausgabe des Schriftwechsels K. D. Kawelins und I. S. Turgenjews mit Alexander Herzen. Bibliothek russischer Denkwürdigkeiten, herausgeg. von Th. Schiemann, Bd. 4, S. 65 u. 66, Stuttgart 1894. {Lenin gibt hier eine Rückübersetzung des Briefes K. D. Kawelins an A. I. Herzen aus dem Deutschen ins Russische. In der Dragomanowschen Ausgabe, die das Original wiedergibt, hat der Teil dieses Briefes vom 10. August 1862 folgenden Wortlaut:

„… die Nachrichten aus Russland sind meines Erachtens nicht so schlecht. Verhaftet wurde nicht Nikolai sondern Alexander Solowjewitsch. Über die Verhaftungen wundre ich mich nicht, und, ich gestehe es Dir, sie empören mich nicht. Das ist Krieg: es kommt darauf an, wer siegt. Die revolutionäre Partei scheut keine Mittel, um die Regierung zu stürzen, diese aber verteidigt sich mit ihren Mitteln. Etwas ganz anderes waren die Verhaftungen und Verbannungen unter dem Schuft Nikolaus. Die Menschen wurden vernichtet wegen ihrer Gedanken, ihrer Überzeugungen, ihres Glaubens, ihrer Worte. Wärst Du an der Macht, so möchte ich sehen, wie Du gegen die Parteien handeln würdest, die geheim und offen gegen Dich arbeiteten. Tschernyschewski habe ich sehr, sehr lieb, aber ich habe noch nie solch einen Brouillon, solch einen so taktlosen und eingebildeten Menschen gesehen, wie er ist. Und wenn man noch wüsste, wofür man umkommt. Dass die Brände mit den Flugblättern in Verbindung stehen – darüber besteht kein Zweifel mehr." („Briefe K. D. Kawelins und I. S. Turgenjews an A. I. Herzen". Mit erläuternden Bemerkungen von M. Dragomanow. Genf 1892.)}

J „Zweifellos" verfällt der Verfasser der „Denkschrift", der seine Darstellung Äußerungen Leroy-Beaulieus entnimmt, in die gewöhnliche bürokratische Übertreibung. „Zweifellos" hatten weder Lanskoj noch Miljutin irgend etwas wirklich Bestimmtes im Auge, und es wäre lächerlich, die ausweichenden Phrasen Miljutins („ist im Prinzip Anhänger der Verfassung halt aber ihre Einführung für verfrüht") für den „ersten Schritt" zu halten.

10 „Der frühere Innenminister" – Graf P. A. Walujew.

11 „Sewernaja Potschta" („Die Post des Nordens") – eine Tageszeitung des Innenministeriums, erschien von 1862–1868 an Stelle des „Journals des Innenministeriums". Im Jahre 1869 begann an Stelle der „Sewernaja Potschta" der „Regierungsanzeiger" zu erscheinen. Einer der Redakteure der „Sewernaja Potschta" war A. D. Nikitenko, der Verfasser des „Tagebuchs".

12 „Post des Nordens". Die Red.

13 Das Zitat ist der Nummer 13 der „Sewernaja Potschta" vom 17. (29. n. St.) Januar 1867 entnommen, und zwar dem Teil: „Die allerhöchsten Befehle über die Schließung der gegenwärtigen Sankt Petersburger Semstwo-Versammlung und über Aufhebung der Bestimmungen über die Semstwo-Institutionen" im Gouvernement Sankt Petersburg. Dieses Zitat führt Lenin in der nicht ganz richtigen Fassung an, die in einer Anmerkung in der „Denkschrift" Wittes angeführt wird. Der Satz aus der „Denkschrift": „Anstatt die Semstwo-Versammlungen anderer Gouvernements zu unterstützen und… zu benutzen…" lautet in der Nummer 13 der „Sewernaja Potschta" folgendermaßen: „Anstatt ebenso wie die Semstwo-Versammlungen anderer Gouvernements … zu benutzen …".

K Brief Kawelins vom Jahre 1865 an seine Verwandten aus Anlass der Petition des Moskauer Adels um „Einberufung einer allgemeinen Versammlung der Vertreter des russischen Landes zur Erörterung der Nöte des gesamten Staates". {Gemeint ist der Brief K. D. Kawelins an seine Schwester S. Korsakowa vom 20. März 1865. Der Brief ist angeführt in der Skizze D. Korsakows: „Konstantin Dimitrijewitsch Kawelin. Material für eine Biographie aus Briefen und Erinnerungen". („Westnik Jewropy" [„Europäischer Bote"].)}

L Sehr richtig bemerkte Dragomanow: „Eigentlich kann es ganz ,friedliche Mittel' für den Liberalismus in Russland gar nicht geben, da jede Äußerung über die Änderung der höchsten Verwaltung bei uns durch das Gesetz verboten ist. Die Semstwo-Liberalen müssten sich über dieses Verbot entschieden hinwegsetzen und wenigstens dadurch ihre Kraft sowohl der Regierung als auch den Terroristen gegenüber zeigen. Da die Semstwo-Liberalen eine solche Kraft nicht gezeigt haben, so mussten sie es erleben dass die Regierung anfing, selbst die in ihren Rechten schon beschnittenen Semstwo-Institutionen zu vernichten." (Siehe S. 41 u. 42 des genannten Werkes.)

14 „Gesellschaft des Semstwo-Verbandes und der Selbstverwaltung" oder „Semstwo-Verband" war eine lockere illegale Vereinigung von liberalen Semstwo-Leuten in den siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre. Der „Semstwo-Verband", dessen Programm eine gemäßigte Verfassung und eine Erweiterung der Rechte der Semstwos forderte, entstand Ende der siebziger Jahre auf dem Boden des allgemeinen Anwachsens der revolutionären und oppositionellen Stimmungen im Lande. Der Semstwo-Verband machte sich zur Aufgabe, durch seine Mitglieder die Tätigkeit der Gouvernements- und der Semstwo-Versammlungen zu beeinflussen, der Versuch der liberalen Semstwo-Leute, im Auslande (in Galizien) ihr eigenes Organ zu gründen, endete mit einem Misserfolg. Es gelang nur, die programmatische Broschüre „Die nächsten Aufgaben der Semstwos" herauszugeben. Im Jahre 1879 fand in Moskau ein illegaler Kongress der Semstwo-Leute statt, auf dem 16 Semstwos vertreten waren (unter den Delegierten befanden sich I. I. Petrunkewitsch, N. A. und A. A. Bakunin und W. A. Golzew). Die Beschlüsse des Kongresses trugen einen gemäßigt-liberalen Charakter. Im Jahre 1880, in der Epoche der Loris-Melikowschen „Diktatur des Herzens", gab der Semstwo-Verband seinen Mitgliedern die Direktive, für das Einreichen von Petitionen durch die Semstwo-Versammlungen Propaganda zu machen. Im gleichen Jahre begannen die Semstwo-Leute, die legale Wochenzeitung „Das Semstwo" (W. J. Skalon, N. A. Kablukow, S. A. Muromzew, N. A. Karyschew, W. A. Golzew, A. F. Fortunatow), ferner die Zeitung „Porjadok" („Die Ordnung") und die Zeitschrift „Russkaja Mysl" (Der russische Gedanke) herauszugeben. Nach dem 1. März nahm ein Kongress der Semstwo-Leute, der in Charkow tagte, ein Programm mit der Forderung der Einberufung der Staatsduma an und sprach sich gleichzeitig gegen die terroristische Tätigkeit der Partei „Narodnaja Wolja" aus. Die Reaktion, die sehr bald darauf einsetzte, führte zu einer Reihe von Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Semstwos und ihre Organe. Die Zeitung „Semstwo" wurde geschlossen. Hierauf traten einige Semstwo-Leute im Namen des Semstwo-Verbandes mit dem früheren Professor der Kiewer Universität, dem Emigranten M. P. Dragomanow, in Verhandlung, um das von ihm redigierte „Wolnoje Slowo" („Das freie Wort") zu einem Organ der Semstwos zu machen. Bis zu seiner Einstellung (1883) erschien das „Wolnoje Slowo" als Organ der Semstwo-Opposition. Die Frage des Bestehens des Semstwo-Verbandes, als einer ständigen Organisation, und seines Verhältnisses zum „Wolnoje Slowo" ist eine in der Geschichtsliteratur sehr wenig geklärte Frage (siehe B. Wesselowski, „Geschichte der Semstwos"; I. P. Belokonski, „Die Semstwo-Bewegung"; Der Jubiläums-Almanach der Semstwos; W. J. Bogutscharski, „Aus der Geschichte des politischen Kampfes"). Man kann als feststehend annehmen, dass der Semstwo-Verband eher eine allgemeine Bezeichnung für einzelne Handlungen der Semstwo-Leute, die Idee ihres Zusammenschlusses zu einem einheitlichen Ganzen war, als eine fest geformte Organisation mit ständigen Institutionen. Es unterliegt auch keinem Zweifel, dass an der oppositionellen Semstwo-Bewegung Personen teilnahmen, die im Auftrage der Ochrana handelten und in den ausländischen Emigrantenzirkeln – besonders bei der Organisation des „Wolnoje Slowo" im Namen und als Vertreter des halb fiktiven Semstwo-Verbandes auftraten.

15 Nach dem 1. März 1881 entstand in Regierungskreisen der Gedanke, eine geheime Gesellschaft zu gründen, die die Aufgabe haben sollte, Alexander III. gegen Attentate der Terroristen zu schützen und den Kampf gegen die revolutionäre Bewegung, insbesondere gegen die „Narodnaja Wolja" und ihr Exekutivkomitee zu führen. Der Gesellschaft „Dobrowolnaja Ochrana" („Freiwilliger Schutz") und später der „Swjaschtschennaja Druschina" („Die Heilige Schutztruppe"), die nach dem Prinzip von „Fünfergruppen" aufgebaut war, eine weitverzweigte Organisation hatte und mit der Ochrana zusammenarbeitete, schlossen sich die bedeutendsten Würdenträger und Vertreter der Petersburger Aristokratie und der Generalität an (K. P. Pobjedonoszew, Graf P. P. Schuwalow, Graf I. W. Woronzow-Daschkow, M. Katkow u. a.). Als der Absolutismus wieder genügend gestärkt war, so dass die „Swjaschtschennaja Druschina" überflüssig geworden war, wurde sie aufgelöst (Ende 1882). Einer der praktischen Schritte der „Swjaschtschennaja Druschina" zur „Ausrottung der revolutionären Umtriebe" war die Gründung des Blattes „Wolnoje Slowo" („Das freie Wort") im Jahre 1881 zu provokatorischen Zwecken in der Schweiz; das Blatt wurde von A. P. Malschinski, der später als Polizeiagent entlarvt wurde, redigiert und – natürlich im Geheimen – von Graf Schuwalow subsidiert. Der ukrainische Konstitutionalist M. P. Dragomanow, der mit dem „Wolnoje Slowo" aufs Engste verbunden war, hatte von seinem wirklichen Ursprung keine Ahnung und war überzeugt, dass das Blatt ein Organ des „Semstwo-Verbandes" war, für dessen Mitglied sich Malschinski ausgab. (In den Verhandlungen, die im Auslande mit der Partei „Narodnaja Wolja" geführt wurden, trat die „Swjaschtschennaja Druschina" ebenfalls unter dem Pseudonym des „Semstwo-Verbandes" oder der „Semstwo-Liga" auf.) Zu Beginn wurde in der Zeitung der Gedanke der Semstwo-Selbstverwaltung propagiert und Artikel verschiedener Richtungen – mit Ausnahme von terroristischen –, unter anderen auch Artikel der „Tschernoperedjelzy" („Gruppe Schwarze Umteilung") zum Abdruck gebracht (Ende 1881 oder Anfang 1882 arbeitete P. Axelrod am Blatte mit); im Jahre 1882 erklärte sich das „Wolnoje Slowo" für ein Organ des Semstwo-Verbandes und nahm einen dementsprechend bestimmteren Charakter an. Im Jahre 1883 wurde die Zeitung von Dragomanow redigiert. Im gleichen Jahre stellte sie ihr Erscheinen ein.

16 Worte aus dem Artikel „Zur Charakteristik Loris-Melikows", der in dem Blatt der „Narodnaja Wolja", Nr. 2, vom 20. August 1880, veröffentlicht wurde. Der Verfasser des Artikels ist N. K. Michailowski.

17 „Sozialdemokrat" – eine literarisch-politische Rundschau, die in den Jahren 1890–1892 von der Gruppe „Befreiung der Arbeit" im Auslande herausgegeben wurde. Es erschienen insgesamt vier Hefte. Die Hauptmitarbeiter des „Sozialdemokrat" waren G. V. Plechanow, P. B. Axelrod, V. I. Sassulitsch.

Das Zitat ist dem Artikel von V. I. Sassulitsch: „Revolutionäre aus bürgerlichen Kreisen" entnommen.

18 Am 1. (13) März 1881 wurde Zar Alexander II. durch Bombenwürfe getötet. Die Red.

19 „Porjadok" („Die Ordnung") – eine gemäßigt-liberale, politische und literarische Zeitung, die den Semstwo-Kreisen nahestand und in den Jahren 1881/82 unter der Redaktion von M. M. Stasjulewitsch (unter Mitarbeit von K. D. Kawelin und N. A. Korff) in Petersburg erschien.

20 „Strana" („Das Land") – eine gemäßigt-liberale, politische und literarische Zeitung, die in den Jahren 1880–1883 unter der Redaktion L. A. Polonskis in Petersburg erschien.

21 „Golos" („Die Stimme") – eine gemäßigt-liberale, politische und literarische Zeitung, die ihre feindliche Einstellung zur revolutionären Bewegung betonte; erschien in den Jahren 1883/84 unter der Redaktion A. A. Krajewskis in Petersburg. In der Zeit von 1880–1882 arbeiteten N. A. Korff, A. D. Gradowski, A. I. Koschelew und W. A. Golzew an der Zeitung mit.

M Der Verfasser der „Denkschrift" schreibt überhaupt, wie wir gesehen haben, sehr sorgfältig die illegalen Broschüren ab und erkennt an, dass die illegale Presse und die Auslandsliteratur von ihrem Standpunkt aus eine ziemlich richtige Einschätzung der Lage gaben" (S. 91). Originell ist bei dem russischen „Staatsrechtler" nur einiges Rohmaterial, alle grundlegenden Ansichten über die politischen Fragen in Russland muss er aber der illegalen Literatur entnehmen.

22 Die Worte sind der in der „Denkschrift" Wittes zitierten Broschüre des Mitgliedes des Komitees des Fonds der Freien Russischen Presse, F. Wolchowskis: „Was lehrt die Konstitution des Grafen Loris-Mekikow" entnommen.

23 Machiavellismus ist das nach dem Namen Machiavellis (1469–1519), eines politischen Schriftstellers und bedeutenden Politikers der Florentiner Republik, benannte politische System, das, um ein hohes Ziel zu erreichen (die Vereinigung Italiens unter der Macht eines Monarchen, eines „Tyrannen") vor keinem Mittel zurückschreckt. Manchmal wird (falscherweise) mit Machiavellismus eine besonders hinterlistige, treubrüchige und schamlose Politik bezeichnet.

24 Mit diesem Pseudonym zeichnete Herr Struve (Anm. des Verfassers zur Auflage von 1908. Die Red.).

N Seite 205. „Das ist sogar unklug," bemerkt Herr R. N. S. in einer Anmerkung zu dieser Stelle. Er hat vollkommen recht. Sind aber die oben erwähnten Ausführungen des Herrn R. N. S. auf S. XI u. XII seines Vorwortes nicht aus dem gleichen Teig geknetet?

O „Denkschrift" Wittes, S. 122 u. 123. „Die Verfassung des Grafen Loris-Melikow", S. 24.

25 Der Brief des Exekutivkomitees der „Narodnaja Wolja" an Alexander III. vom 10. März 1886 erschien als Flugblatt. Der Brief ist im Sammelbuch: „Die Literatur der ,Narodnaja Wolja'" (Moskau, 1907) abgedruckt. In dem Brief wurden die Bedingungen (Amnestie, Einberufung der Volksvertretung, Wort- und Pressefreiheit usw.) aufgezählt, die „notwendig sind, damit die revolutionäre Bewegung durch friedliche Arbeit ersetzt wird." Das Exekutivkomitee wandte sich an Alexander III. mit dem Ratschlag, diese Bedingungen anzunehmen, wofür es als Gegenleistung seine Tätigkeit einzustellen versprach. Der Brief wurde von L. A. Tichomirow mit Hilfe von N. K. Michalowski geschrieben.

P „Die wirtschaftlichen Organisationen der Arbeiter" – sagt Herr R. N. S. an anderer Stelle – „sind eine Schule der realen politischen Erziehung der Arbeitermassen." Wir würden dem Verfasser raten, das von den Rittern des Opportunismus bis zum Überfluss wiederholte Wörtchen „real" etwas vorsichtiger zu gebrauchen. Es kann nicht geleugnet werden, dass unter gewissen Bedingungen auch die wirtschaftlichen Organisationen der Arbeiter ihnen für ihre politische Erziehung vieles geben können (ebenso wie man nicht bestreiten kann, dass sie unter anderen Bedingungen auch zur politischen Demoralisierung der Arbeiter beitragen können). Eine reale politische Erziehung aber kann den Arbeitermassen nur ihre allseitige Teilnahme an der revolutionären Bewegung bis zum offenen Straßenkampf, bis zum Bürgerkrieg gegen die Verteidiger der politischen und wirtschaftlichen Sklaverei geben.

Q Siehe die außerordentlich ausführliche Darstellung dieser Seite der Frage in der Broschüre P. B. Axelrods: „Die historische Lage und das gegenseitige Verhältnis der liberalen und der sozialistischen Demokratie in Russland" (Genf 1898), insbesondere S. 5, 8, 11–12, 17–19.)

26 Lenin meint hier folgende Stelle aus dem Buche Berdjajews „Subjektivismus und Individualismus in der Gesellschaftsphilosophie", 1901: „Das Anwachsen der positiven, progressiven Seiten muss die Summe des Guten in der Gesellschaft vergrößern und die Summe des Bösen verringern. Das Prinzip des Fortschritts ist Je besser, desto besser'. In dieser Beziehung ist die Beseitigung der sogenannten Zusammenbruchstheorie und der Verelendungstheorie, die dem orthodoxen Marxismus zweifellos eigen sind, von großer Bedeutung. In der Kritik dieser Seite der Marxschen Lehre von der sozialen Entwicklung sehen wir die positive Seite des Buches Bernsteins." (S. 132.) Eine Kritik am Buche Berdjajews, der die Vereinigung von Marx und Kant und die Rückkehr zur idealistischen Philosophie propagierte, unternahm Orthodox (L. I. Axelrod) in der „Sarja" im Artikel: „Warum wollen wir nicht zurückgehen?"

R Zur Frage, was man vom Semstwo erwarten könne, sind folgende Äußerungen des Fürsten P. W. Dolgorukow nicht uninteressant, die seinem in den sechziger Jahren herausgegebenen „Listok" {„Listok" („Das Blatt") vertrat ein konstitutionell-liberales Programm und wurde von P. W. Dolgorukow von November 1862 bis Juli 1866 zuerst in Brüssel und dann (von der Nummer 6 ab) in London herausgegeben. Insgesamt sind 22 Nummern erschienen. Die von Lenin zitierten Stellen sind folgenden Artikeln Dolgorukows entnommen: „Die Grundlagen des Gerichtswesens, des Gerichtsverfahrens und der Semstwo-Institutionen" („Listok", Nr. 3, 1862), „Die Semstwo-Institutionen" („Listok", Nr. 18, 1864).} entnommen sind (Burzew, S. 63–66 des genannten Werkes): „Wenn wir die wichtigsten Verfügungen über die Semstwoinstitutionen prüfen, so finden wir wieder den gleichen geheimen, aber immer deutlicher hervortretenden Gedanken der Regierung – durch ihren Großmut betäuben, mit lauter Stimme verkünden: ,Seht, wie viel wir euch schenken!'. In Wirklichkeit aber will sie möglichst wenig geben, und, indem sie möglichst wenig gibt, versuchen, noch Schranken zu setzen, damit man selbst das Geschenkte nicht vollkommen ausnützen kann… Gegenwärtig, in der absolutistischen Gesellschaftsordnung, werden und können die Semstwoinstitutionen keinen Nutzen bringen, werden und können sie keine Bedeutung haben, aber sie sind reich an Keimen einer fruchtbaren Entwicklung in der Zukunft… Die neuen Semstwoinstitutionen sind anscheinend vom Schicksal dazu bestimmt, die Grundlage der künftigen konstitutionellen Regierungsform in Russland zu werden…, aber bis zur Einführung der konstitutionellen Regierungsform in Russland, für die Zeit des Bestehens des Absolutismus, für die Zeit des Nichtvorhandenseins einer Pressefreiheit sind die Semstwoinstitutionen dazu verurteilt, ein politisches Gespenst zu bleiben, die Versammlung stimmberechtigter Semstwovertreter, die nichts zu bestimmen haben." Dolgorukow gab sich also auch damals, auf dem Höhepunkt der sechziger Jahre, keinem übermäßigen Optimismus hin. Die seit jener Zeit verflossenen 40 Jahre haben uns aber vieles gelehrt und gezeigt, dass die Semstwos vom „Schicksal" (zum Teil aber auch von der Regierung) dazu bestimmt waren, einer ganzen Reihe von Maßnahmen zur Betäubung der Anhänger der Konstitution als Grundlage zu dienen.

S Der Schreiber dieser Zeilen hat vor vier Jahren aus Anlass des Auftretens der Partei „Narodnoje Prawo" Gelegenheit gehabt, auf den Nutzen der liberalen Partei hinzuweisen. Siehe „Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten" (Genf 1898): „… Aber wenn in dieser Partei (,Narodnoje Prawo') nicht nur Maskeradenpolitiker, sondern auch wirkliche nicht-sozialistische Politiker, nicht-sozialistische Demokraten vorhanden sind – so kann diese Partei nicht geringen Nutzen bringen, wenn sie sich bemüht, mit den politisch-oppositionellen Elementen unserer Bourgeoisie in Fühlung zu kommen…" (S. 26.) {Die Partei des Volksrechts („Narodnoje Prawo") war eine Partei der kleinbürgerlichen Intellektuellen und Beamten vom Typus der Volkstümler. Sie wurde im Jahre 1893 von M. A. Natanson, Aptekman, Tjulschew, Gedeonowski, Mantzewitsch, W. Tschernow u. a. gegründet. N. K. Michailowski, Wl. Korolenko und A. Bogdanowitsch standen der Partei nahe und unterstützten sie. Die Volksrechtler verzichteten auf den Kampf für den Sozialismus und sahen ihre Aufgabe, „die dringendste Frage", in der rückhaltlosen Vereinigung aller oppositionellen und revolutionären Kräfte zum Kampf gegen den Absolutismus und für politische Freiheit. Der Partei war es noch gelungen, ihr Manifest und die Broschüre von A. Bogdanowitsch „Die dringendste Frage" herauszubringen; schon im April 1894 wurde sie von der Regierung vernichtet. Die Mehrzahl der Volksrechtler trat später den Parteien der Sozialrevolutionäre und der Volkssozialisten bei.

Lenin erwähnt diese Partei in den „Volksfreunden" und besonders in den „Aufgaben der russischen Sozialdemokraten".}

27 Der hier von Lenin zitierte Ausspruch von Marx über die Revolution von 1848 ist den „Klassenkämpfen in Frankreich von 1848–1850" (erste drei Absätze) entnommen.

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