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Wladimir I. Lenin 19010800 Die Lehren der Krise

Wladimir I. Lenin: Die Lehren der Krise

[„Iskra" Nr. 7, August 1901. Nach Sämtliche Werke, Band 4.1, Wien-Berlin 1928, S. 201-206]

Seit nun fast zwei Jahren dauert die Handels- und Industriekrise an. Und augenscheinlich entwickelt sie sich noch weiter, erfasst neue Industriezweige, dehnt sich auf neue Gebiete aus, wird verschärft durch neue Bankkrachs. Unsere Zeitung hat seit Dezember vorigen Jahres in jeder Nummer in der einen oder anderen Weise auf die Entwicklung der Krise und ihre verhängnisvolle Wirkung hingewiesen. Es ist Zeit, die Frage nach den Ursachen und der Bedeutung dieser Erscheinung allgemein zu stellen. Für Russland ist sie verhältnismäßig neu, wie ja auch unser ganzer Kapitalismus neu ist. In den alten kapitalistischen Ländern dagegen, d. h. in solchen Ländern, in denen der größte Teil der Produkte für den Verkauf erzeugt wird, in denen die Mehrheit der Arbeiter weder Land noch Werkzeuge besitzt und ihre Arbeitskraft verkauft, indem sie sich an fremde Betriebe, an die Besitzer von Land, Fabriken, Maschinen u. a. vermietet – in den kapitalistischen Ländern ist die Krise eine alte Erscheinung, die sich von Zeit zu Zeit wiederholt, wie der Anfall einer chronischen Krankheit. Krisen lassen sich daher voraussagen, und als sich in Russland der Kapitalismus besonders rasch zu entwickeln begann, ist in den sozialdemokratischen Schriften auch die jetzige Krise vorausgesagt worden. In der Broschüre „Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten", die Ende 1897 erschien, hieß es:

Wir machen, wie es scheint, augenblicklich jene Phase des kapitalistischen Zyklus durch (eines Kreislaufes, in dem sich ein und dieselben Ereignisse wie Sommer und Winter wiederholen), in der die Industrie ,blüht', der Handel flott von statten geht, die Fabriken mit Volldampf arbeiten und zahllose neue Betriebe, neue Unternehmungen, Aktiengesellschaften, Eisenbahnbauten usw. usw. wie Pilze nach dem Regen aus dem Boden schießen. Man braucht kein Prophet zu sein, um einen unvermeidlichen (mehr oder weniger schroffen) Zusammenbruch, der auf eine solche .Blütezeit' der Industrie folgen muss, vorauszusagen. Ein solcher Zusammenbruch wird die Masse der kleinen Unternehmer ruinieren und Massen von Arbeitern in die Reihen der Arbeitslosen treiben…"

Der Zusammenbruch ist gekommen – in einem Ausmaß, wie ihn Russland noch nicht gesehen hat. Wovon hängt nun diese furchtbare chronische Krankheit der kapitalistischen Gesellschaft ab, die so regelmäßig wiederkehrt, dass man sie voraussagen kann?

Die kapitalistische Produktion kann sich nur sprunghaft entwickeln, zwei Schritte vorwärts und einen (manchmal auch ganze zwei) rückwärts. Wie wir bereits bemerkten, ist die kapitalistische Produktion eine Produktion für den Verkauf, eine Produktion von Waren für den Markt. Über die Produktion verfügen aber einzelne Kapitalisten, jeder für sich, und keiner kann genau wissen, welche und wie viele Produkte auf dem Markt verlangt werden. Man produziert aufs Geradewohl und kennt nur ein Ziel, einander zu überflügeln. Daher ist es natürlich, dass die Quantität des Erzeugten den Bedürfnissen des Marktes nicht immer entspricht. Diese Möglichkeit ist besonders groß, wenn ein ungeheuer großer Markt plötzlich um neue, unerforschte und riesige Gebiete vergrößert wird. Gerade so aber lagen die Dinge, als das „Aufblühen" der Industrie, das wir vor kurzem erlebt haben, begann. Die Kapitalisten ganz Europas streckten ihre Tatzen nach Asien, dem von Hunderten von Millionen bevölkerten Erdteil aus, von dem bis dahin nur Indien und ein kleiner Teil der Grenzgebiete mit dem Weltmarkt verknüpft waren. Die transkaspische Eisenbahnlinie begann dem Kapital Zentralasien zu „erschließen"; die „Große Sibirische Eisenbahnlinie" (groß nicht nur durch ihre Länge, sondern auch durch den maßlosen Raub von Staatsgeldern durch ihre Erbauer und durch die maßlose Ausbeutung der Arbeiter, die sie bauten) erschloss Sibirien; Japan begann sich zum Industriestaat zu entwickeln, es versuchte eine Bresche in die chinesische Mauer zu schlagen, und legte dabei einen sehr leckeren Bissen frei, nach dem sofort die Kapitalisten Englands, Deutschlands, Frankreichs, Russlands und sogar Italiens mit beiden Händen griffen. Der Bau riesiger Eisenbahnen, die Erweiterung des Weltmarktes, das Wachstum des Handels – all das rief eine unerwartete Belebung der Industrie hervor, das Entstehen neuer Unternehmungen, eine wilde Jagd nach Absatzmärkten, eine Jagd nach Profiten, die Gründung neuer Gesellschaften, das Hineinziehen von Massen neuer Kapitalien, die zum Teil auch aus den geringen Ersparnissen der kleinen Kapitalisten bestanden, in die Produktion. Kein Wunder, dass diese internationale wilde Jagd nach neuen unbekannten Märkten zu einem ungeheuren Zusammenbruch geführt hat.

Um sich diese Jagd deutlich vorzustellen, muss man bedenken, welche Kolosse an ihr beteiligt waren. Wenn man sagt „einzelne Unternehmungen", „einzelne Kapitalisten", so vergisst man häufig, dass diese Bezeichnungen eigentlich ungenau sind. Im Grunde genommen geschieht nur noch die Aneignung der Profite durch Einzelne, während die Produktion eine gesellschaftliche geworden ist. Die Riesenzusammenbrüche sind eben nur darum möglich und unvermeidlich geworden, weil einer Bande profitgieriger Reicher machtvolle gesellschaftliche Produktivkräfte zur Verfügung stehen. Wir wollen das durch ein Beispiel aus der russischen Industrie veranschaulichen. In der letzten Zeit hat sich die Krise auch auf das Naphthagebiet ausgedehnt. In diesem Industriezweig schalten und walten aber solche Unternehmungen, wie z. B. „Die Naphtha-Produktionsgesellschaft der Gebrüder Nobel". Im Jahre 1899 verkaufte diese Gesellschaft 163 Millionen Pud Naphthaprodukte für 53,5 Millionen Rubel. Im Jahre 1900 bereits 192 Millionen Pud für die Summe von 72 Millionen. In einem Unternehmen also eine Steigerung der Produktion um 18,5 Millionen Rubel im Laufe eines Jahres! Ein solches „einzelnes Unternehmen" wird durch die vereinigte Arbeit von Zehntausenden und Hunderttausenden von Arbeitern aufrechterhalten, die bei der Naphthagewinnung, ihrer Verarbeitung, Beförderung durch die Naphthaleitungen oder die Eisenbahn zu den Meeren und Flüssen, die beim Bau der notwendigen Maschinen, Lagerhäuser, Kräne, Dampfer usw., bei der Herbeischaffung von Materialien beschäftigt sind. Alle diese Zehntausende von Arbeitern arbeiten für die gesamte Gesellschaft, über ihre Arbeit aber verfügt ein Häuflein von Millionären, die sich auch den ganzen Profit aneignen, den diese organisierte Massenarbeit schafft. (Die Nobel-Gesellschaft erzielte im Jahre 1899 einen Reingewinn von 4 Millionen Rubel, im Jahre 1900 6 Millionen Rubel, wovon die Aktionäre 1300 Rubel pro 5000 Rubelaktie bekamen, fünf Verwaltungsmitglieder aber erhielten Prämien in der Höhe von 528.000 Rubel!) Wenn sich nun mehrere solcher Unternehmungen in eine wilde Jagd um die Eroberung eines noch unerschlossenen Marktes stürzen, ist es dann verwunderlich, wenn eine Krise eintritt?

Damit aber noch nicht genug. Um aus einem Unternehmen Gewinne zu erzielen, muss man Waren verkaufen und Käufer finden. Käufer aber muss die ganze Masse der Bevölkerung sein, da die großen Unternehmungen ganze Berge von Waren erzeugen. In allen kapitalistischen Ländern aber besteht die Bevölkerung zu neun Zehnteln aus Bettlern: aus Arbeitern, die einen sehr kärglichen Lohn erhalten, aus Bauern, die in ihrer großen Masse noch schlechter leben als die Arbeiter. Wenn nun die Großindustrie in ihrer Blütezeit bemüht ist, möglichst viel zu produzieren, wirft sie eine solche Warenmenge auf den Markt, dass die unbemittelte Mehrheit des Volkes nicht imstande ist, sie zu bezahlen. Die Zahl der Maschinen, Werkzeuge, Warenlager, Eisenbahnen usw. wächst immer weiter an, aber dieses Anwachsen wird von Zeit zu Zeit unterbrochen, weil die Masse des Volkes, für die letzten Endes alle diese verbesserten Produktionsmethoden bestimmt sein sollten, in Armut verbleibt, die an Bettlertum grenzt. Die Krise zeigt, dass die heutige Gesellschaft unvergleichlich viel mehr Waren für die Aufbesserung der Lage des gesamten werktätigen Volkes erzeugen könnte, wenn vom Land, von den Fabriken, den Maschinen usw. nicht ein keines Häuflein von Privateigentümern Besitz ergriffen hätte, die aus dem Elend des Volkes Millionen pressen. Die Krise zeigt, dass die Arbeiter sich nicht auf einen Kampf um einzelne Zugeständnisse der Kapitalisten beschränken können: zur Zeit der Belebung der Industrie lassen sich solche Zugeständnisse erkämpfen (und die russischen Arbeiter haben in den Jahren 1894–1898 durch ihren energischen Kampf mehr als einmal Zugeständnisse erzwungen), – doch der Zusammenbruch kommt, und die Kapitalisten nehmen nicht nur die von ihnen gemachten Zugeständnisse zurück, sondern nutzen auch die Hilflosigkeit der Arbeiter aus, um die Löhne noch weiter herabzudrücken. Und dies wird unvermeidlich so lange weiter gehen, bis die Armeen des sozialistischen Proletariats die Herrschaft des Kapitals und des Privateigentums gestürzt haben. Die Krise zeigt, wie kurzsichtig jene Sozialisten waren (die sich wohl darum „Kritiker" nennen, weil sie kritiklos die Lehren der bürgerlichen Nationalökonomen übernehmen), die vor zwei Jahren laut verkündet haben, dass Zusammenbrüche jetzt weniger wahrscheinlich werden.

Die Lehren der Krise, die die ganze Sinnlosigkeit der Unterordnung der gesellschaftlichen Produktion unter das Privateigentum enthüllt, sind so anschaulich, dass jetzt auch die bürgerliche Presse eine verstärkte Kontrolle – z. B. über die Banken verlangt. Aber keine Kontrolle wird die Kapitalisten hindern, zur Zeit der Belebung Unternehmungen zu gründen, die später unbedingt zusammenbrechen müssen. Altschewski, der Begründer der zusammengebrochenen Bodenbank und Handelsbank in Charkow, hat es auf geraden und ungeraden Wegen verstanden, Millionen zu beschaffen für die Gründung und Unterstützung von Bergwerksunternehmungen, die goldene Berge verhießen. Und eine Stockung in der Industrie ist all diesen Banken und Bergwerksunternehmungen (Donez-Jurgewsk-Gesellschaft) zum Verhängnis geworden. Aber was bedeutet der Untergang von Unternehmungen in der kapitalistischen Gesellschaft? Er bedeutet, dass schwache Kapitalisten, Kapitalisten „zweiter Größe", von solideren Millionären verdrängt werden. An die Stelle des Charkower Millionärs Altschewski ist der Moskauer Millionär Rjabuschinski getreten, der, da er an Kapital reicher ist, den Arbeiter noch stärker unterdrücken wird. Die Ablösung von Besitzenden zweiter Ordnung durch Besitzende erster Ordnung, das Steigen der Macht des Kapitals, der Ruin einer Masse von Kleinbesitzern (z. B. der kleinen Sparer, die beim Zusammenbruch der Bank ihr ganzes Vermögen verloren), die furchtbare Verelendung der Arbeiter – all das führt zur Krise. Wir wollen noch an die in der „Iskra" geschilderten Fälle erinnern, wo die Kapitalisten den Arbeitstag verlängern und bei der Entlassung von Arbeitern bestrebt sind, die klassenbewussten Arbeiter durch die gefügigeren Bauern zu ersetzen1.

In Russland ist überhaupt die Auswirkung der Krise unvergleichlich viel größer als in irgendeinem anderen Land. Zur Stockung in der Industrie kommt bei uns noch das Hungerdasein der Bauern hinzu. Die arbeitslosen Arbeiter werden aus den Städten aufs flache Land geschickt, aber wohin wird man die arbeitslosen Bauern schicken? Durch das Verschicken der Arbeiter will man die Stadt von unruhigem Volk säubern, vielleicht aber wird es den Verschickten gelingen, wenigstens einen Teil der Bauern aus ihrer jahrhundertealten Untertänigkeit zu erwecken und sie nicht nur zu Bitten, sondern auch zu Forderungen zu treiben? Die Arbeiter und die Bauern werden jetzt nicht nur durch Arbeitslosigkeit und Hungersnot einander näher gebracht, sondern auch durch die polizeiliche Unterdrückung, die den Arbeitern die Möglichkeit der Vereinigung und Verteidigung, den Bauern selbst die Hilfe durch die für sie bestimmte freiwillige Spenden nimmt. Die schwere Polizeifaust wird hundertmal drückender für die Millionen des Volkes, die alle Existenzmöglichkeiten verloren haben. Die Gendarmen und die Polizei in den Städten, die Bezirkshauptleute und die Wachtmeister in den Dörfern sehen deutlich, dass der Hass gegen sie wächst, und sie beginnen, nicht nur die für die Bauern eingerichteten Küchen, sondern auch die Mitteilungen der Zeitungen über die Sammlung von Spenden zu fürchten. Furcht vor Spenden! Ja, in der Tat, dem Dieb brennt der Boden unter den Füßen. Wenn er sieht, dass ein Vorübergehender dem von ihm bestohlenen Menschen ein Almosen reicht – so glaubt er, dass die beiden sich gegenseitig die Hände reichen, um mit vereinten Kräften ihm den Garaus zu machen.

1 Die Mitteilungen über die Verlängerung des Arbeitstages sind in einer Korrespondenz aus Iwanowo-Wosnessensk („Iskra" Nr. 4, Mai 1901) enthalten; von der Tatsache, dass klassenbewusste Arbeiter durch politisch rückständige ersetzt werden, ist in der Notiz „Die Arbeitslosigkeit" („Iskra" Nr. 2, Februar 1901) die Rede.

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