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Wladimir I. Lenin 19010200 Die Zwangsrekrutierung von 183 Studenten

Wladimir I. Lenin: Die Zwangsrekrutierung von 183 Studenten*

[„Iskra" Nr. 2, Februar 1901 Nach Sämtliche Werke, Band 4, Wien-Berlin 1928, S. 72-78]

Am 11. Januar veröffentlichten die Zeitungen ein Regierungskommuniqué des Ministeriums für Volksaufklärung über die Zwangsrekrutierung von 183 Studenten der Kiewer Universität wegen „Zusammenrottung und Unruhestiftung". Die provisorischen Verordnungen vom 29. Juli 18991 – diese Drohung gegen die Studentenschaft und die Gesellschaft – gelangen weniger als anderthalb Jahre nach ihrem Erscheinen zur Ausführung, und es ist, als beeilte sich die Regierung, die Anwendung dieser nie dagewesenen Strafmaßnahmen zu rechtfertigen, indem sie mit einem ganzen Anklageakt auftritt, ohne bei der Darstellung der Untaten der Studenten an Farben zu sparen.

Von den Untaten ist eine schrecklicher als die andere. Im Sommer – der Studentenkongress in Odessa mit dem Programm, die gesamte russische Studentenschaft zu organisieren, um gegen gewisse Erscheinungen des akademischen, gesellschaftlichen und politischen Lebens in jeder Weise Protest zu erheben. Wegen dieser verbrecherischen politischen Ziele werden sämtliche Studentendelegierten verhaftet und die Dokumente beschlagnahmt. Aber die Gärung nimmt nicht ab, sie wächst an und offenbart sich hartnäckig in vielen höheren Lehranstalten. Die Studenten wollen ihre gemeinsamen Angelegenheiten frei und selbständig erörtern und verwalten. Ihre Vorgesetzten – erfüllt von jenem seelenlosen Formalismus, der die russische Beamtenschaft seit jeher auszeichnet, – antworten mit kleinlichen Schikanen, steigern die Unzufriedenheit aufs Äußerste und treiben, ohne es zu wollen, das Denken der noch nicht im Schlamm bürgerlichen Vegetierens versunkenen Jugend zum Protest gegen das ganze System der Polizei- und Beamtenwillkür.

Die Kiewer Studenten fordern die Entfernung eines Professors, der an die Stelle eines verreisten Kollegen getreten ist. Die vorgesetzte Behörde widersetzt sich, treibt die Jugend zu „Zusammenrottungen und Demonstrationen" und … gibt nach. Die Studenten veranstalten eine Versammlung, um zu erörtern, warum solche Niederträchtigkeiten möglich sind wie die Vergewaltigung eines Mädchens durch zwei Studenten aus vornehmen Kreisen (wie das Gerücht lautet). Die vorgesetzte Behörde verurteilte die Haupt„schuldigen" zu Karzerstrafe. Diese lehnen es ab, sich dem Urteil zu fügen. Sie werden ausgeschlossen. Man begleitet die Ausgeschlossenen demonstrativ zum Bahnhof. Eine neue Versammlung wird einberufen, die Studenten bleiben bis zum Abend zusammen und weigern sich fortzugehen, solange der Rektor nicht erscheint. Es erscheinen der Vizegouverneur und der Gendarmeriechef mit einer Abteilung Soldaten, die die Universität umzingeln und in das Auditorium eindringen, und – man fordert den Rektor auf, zu erscheinen. Die Studenten fordern – ihr denkt vielleicht die Verfassung? Nein, sie fordern die Aufhebung der Karzerstrafe und die Wiederaufnahme der Ausgeschlossenen. Die Teilnehmer der Versammlung werden aufgeschrieben und nach Hause entlassen.

Man überlege nur, welch erstaunliches Missverhältnis zwischen der Bescheidenheit und Harmlosigkeit der Forderung der Studenten – und dem panischen Schrecken der Regierung besteht, die vorgeht, als sei bereits die Axt an die Wurzeln ihrer Herrschaft gelegt. Durch nichts verrät sich unsere „allmächtige" Regierung so sehr, wie durch diesen panischen Schrecken. Besser als alle „verbrecherischen Aufrufe" beweist sie damit – beweist sie jedem, der Augen hat, um zu sehen, und Ohren, um zu hören –, dass sie sich absolut unsicher fühlt und nur an die Gewalt des Bajonetts und der Knute glaubt, die sie vor der Empörung des Volkes schützen. Belehrt durch jahrzehntelange Erfahrung, ist die Regierung zu der festen Überzeugung gelangt, dass sie von Zündstoff umgeben ist, dass der kleinste Funke genügt, dass ein Protest gegen den Karzer genügt, um den Brand zu entfachen. Wenn dem aber so ist, so wird auch die Notwendigkeit einer exemplarischen Abrechnung begreiflich: Hunderte von Studenten werden zwangsweise zu Soldaten gemacht. „Den Feldwebel zum Voltaire machen!" – Diese Formel ist keineswegs überlebt. Im Gegenteil, dem XX. Jahrhundert ist es beschieden, ihre Verwirklichung zu erleben.

Diese neue Strafmaßnahme, neu durch ihren Versuch, eine längst überwundene Vergangenheit wiederauferstehen zu lassen, ruft viele Gedanken und Vergleiche wach. Vor drei Generationen, zu Nikolausschen Zeiten, war die Zwangseinziehung zum Militär eine natürliche Strafe, die dem ganzen System der auf Leibeigenschaft aufgebauten russischen Gesellschaft durchaus entsprach. Die Adeligen zog man zum Militär ein, um sie zu zwingen, zu dienen und sich die Offizierssporen zu verdienen, um den Privilegien des Adels ein Ende zu machen. Den Bauern schickte man zum Militär, wie in ein Zuchthaus, in dem ihn unmenschliche Foltern, wie „Spießrutenlaufen" und dergleichen, erwarteten. Aber schon seit über einem Vierteljahrhundert besteht bei uns die allgemeine Wehrpflicht, deren Einführung seinerzeit als große demokratische Reform gerühmt wurde. Die nicht nur auf dem Papier, sondern tatsächlich allgemeine Wehrpflicht ist zweifellos eine demokratische Reform: sie bricht mit dem Ständewesen und führt die Gleichberechtigung der Bürger ein. Aber wenn es wirklich so wäre, könnte dann die Einberufung zum Militär als Strafe gelten? Und wenn die Regierung die Wehrpflicht in eine Strafe verwandelt, beweist sie damit nicht, dass wir dem Zwangsrekrutierungssystem viel näher stehen als der allgemeinen Wehrpflicht? Die provisorischen Verordnungen vom Jahre 1899 reißen sogar denjenigen unserer Einrichtungen, die den europäischen am nächsten kommen, die Pharisäermaske ab und enthüllen ihr asiatisches Wesen. In Wirklichkeit hat es bei uns nie eine allgemeine Wehrpflicht gegeben, und gibt es sie auch jetzt nicht, denn die Privilegien der vornehmen Herkunft und des Reichtums schaffen eine Menge Ausnahmen. In Wirklichkeit gab und gibt es bei uns nichts, was einer Gleichberechtigung der Bürger beim Militärdienst ähnlich sähe. Im Gegenteil, die Kaserne ist ganz und gar durchdrungen vom Geiste der empörendsten Rechtlosigkeit. Völlige Schutzlosigkeit der Soldaten aus dem Bauern- oder Arbeiterstand, Verhöhnung jeder Menschenwürde, Erpressung, Prügel, Prügel und wieder Prügel. Für die aber, die einflussreiche Beziehungen und Geld besitzen – Privilegien und Ausnahmen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Auslieferung an diese Schule der Willkür und Gewalttätigkeit eine Strafe sein kann, und zwar eine sehr schwere Strafe, die völliger Entrechtung nahekommt. Die Regierung glaubt, in dieser Schule den „Aufrührern" Disziplin beibringen zu können. Irrt sie sich nicht in dieser ihrer Hoffnung? Wird nicht die Schule des russischen Militärdienstes vielleicht zu einer militärischen Schule für die Revolution werden? Natürlich werden nicht alle Studenten die Kraft aufbringen, diese Schule bis zu Ende durchzumachen. Die einen wird das schwere Joch zerbrechen, der Zusammenstoß mit der Militärgewalt wird sie zugrunde richten, andere – die Schwachen und Kleinmütigen – wird die Kaserne einschüchtern, aber die dritten wird sie stählen, ihren Horizont erweitern, sie wird sie zwingen, über ihre freiheitlichen Bestrebungen nachzudenken und von ihnen erfüllt zu werden. Sie werden jetzt den ganzen Druck der Willkür und Unterjochung am eigenen Leibe zu spüren bekommen, jetzt, wo ihre ganze Menschenwürde von dem Belieben des Feldwebels abhängen wird, der oft genug mit Vorbedacht sein Mütchen am „Gebildeten" kühlen mag. Sie werden sehen, wie die Lage des einfachen Volkes in Wirklichkeit ist, sie werden alle Beschimpfungen und Gewalttätigkeiten mitempfinden, zu deren Zeugen man sie jeden Tag macht, und sie werden begreifen, dass die Ungerechtigkeiten und Schikanen, unter denen die Studenten leiden, nur ein Tropfen im Meer der Unterdrückung des Volkes sind. Wer das begreift, wird den Militärdienst verlassen mit dem Hannibalschwur2 des Kampfes zusammen mit der fortgeschrittensten Klasse des Volkes für die Befreiung des Volkes vom Despotismus.

Aber nicht minder empörend als die Grausamkeit der neuen Strafart ist das Erniedrigende in ihr. Eine Herausforderung an alle, die noch ein Gefühl für Anständigkeit besitzen, ist es, wenn die Regierung die gegen Willkür protestierenden Studenten zu einfachen Friedensstörern stempelt, – ebenso wie sie die verbannten streikenden Arbeiter für Leute mit lasterhaftem Lebenswandel erklärte. Man sehe sich die Mitteilung der Regierung an, sie strotzt von Worten, wie: Unordnung, Unfug, Untaten, Schamlosigkeit, Zügellosigkeit. Einerseits die Anerkennung verbrecherischer politischer Ziele und der Tendenz zu politischen Protesten; andererseits – die Behandlung der Studenten als einfache Unruhestifter, denen man Disziplin beibringen muss. Das ist eine Ohrfeige für die öffentliche Meinung in Russland, deren Sympathien für die Studentenschaft der Regierung sehr wohl bekannt sind. Und die einzige würdige Antwort der Studentenschaft darauf wäre die Ausführung der Drohung der Kiewer Studenten, die Organisierung eines konsequenten und standhaften Streikes aller Studierenden sämtlicher höheren Lehranstalten mit der Forderung nach Aufhebung der provisorischen Verordnungen vom 29. Juli 1899.

Aber nicht nur die Studentenschaft ist verpflichtet, der Regierung eine Antwort zu erteilen. Die Regierung selbst hat dafür gesorgt, dass aus diesem Ereignis viel mehr als eine einfache Studentenaffäre entstanden ist. Die Regierung wendet sich an die öffentliche Meinung, als wollte sie sich ihrer energischen Abrechnung rühmen, als wollte sie alle freiheitlichen Bestrebungen verhöhnen. Und alle denkenden Menschen in allen Schichten des Volkes sind zu einer Antwort auf diese Herausforderung verpflichtet, wenn sie nicht zu stummen, jede Beleidigung schweigend ertragenden Sklaven herabsinken wollen. An der Spitze dieser denkenden Menschen aber stehen die fortgeschrittenen Arbeiter und die mit ihnen untrennbar verbundenen sozialdemokratischen Organisationen. Die Arbeiterklasse erduldet ständig unvergleichlich mehr an Unterdrückung und Beschimpfung durch jene selbe polizeiliche Willkürherrschaft, mit der die Studenten jetzt so scharf zusammengestoßen sind. Die Arbeiterklasse hat den Kampf um ihre Befreiung bereits aufgenommen. Und sie darf nicht vergessen, dass dieser gewaltige Kampf ihr gewaltige Verpflichtungen auferlegt, dass sie sich nicht befreien kann, ohne das ganze Volk vom Despotismus befreit zu haben, dass sie in erster Linie und vor allem verpflichtet ist, auf jeden politischen Protest zu reagieren und ihn auf jede Weise zu unterstützen. Die besten Vertreter unserer gebildeten Klassen haben ihre Bereitschaft und Fähigkeit, den Staub der bürgerlichen Gesellschaft von ihren Füßen zu schütteln und in die Reihen der Sozialisten einzutreten, durch das Blut tausender Revolutionäre, die durch die Regierung zu Tode gequält wurden, bewiesen und besiegelt. Und der Arbeiter wäre nicht würdig, sich Sozialist zu nennen, der gleichzeitig zusehen könnte, wie die Regierung ihre Truppen gegen die studierende Jugend schickt. Der Student ist dem Arbeiter zu Hilfe gekommen, –- der Arbeiter muss dem Studenten zu Hilfe kommen. Die Regierung will das Volk betrügen, wenn sie erklärt, ein politischer Protest sei ein einfacher Unfug. Die Arbeiter müssen öffentlich erklären und den breitesten Massen klarmachen, dass das eine Lüge ist, dass der wirkliche Herd der Gewalttätigkeit, des Unfugs und der Zügellosigkeit die russische absolutistische Regierung ist, die Willkür der Polizei und der Beamten.

Wie dieser Protest zu organisieren ist, darüber haben die örtlichen sozialdemokratischen Organisationen und Arbeitergruppen zu entscheiden. Verteilung, Verbreitung und Ankleben von Flugblättern, Veranstaltung von Versammlungen, zu denen möglichst alle Gesellschaftsklassen eingeladen werden – das sind die naheliegendsten Formen des Protestes. Aber wo starke und festgefügte Organisationen bestehen, wäre auch der Versuch eines breiteren und offenen Protestes durch eine öffentliche Demonstration wünschenswert. Als gutes Beispiel hierfür mag die Demonstration in Charkow am 1. Dezember vorigen Jahres vor der Redaktion des „Juschny Kraj"3 dienen. Man feierte damals gerade das Jubiläum dieses Schmutzblattes, das gegen alles hetzt, was nach Licht und Freiheit strebt, das jede Bestialität unserer Regierung verherrlicht. Vor der Redaktion versammelte sich eine Menge, die die Nummern des „Juschny Kraj" feierlich der Vernichtung preisgab, sie Pferden an die Schwänze band, Hunde darin einwickelte, Steine und Fläschchen mit Schwefelwasserstoff in die Fenster warf und dazu rief: „Nieder mit der käuflichen Presse!" Solche Ehrungen verdienen nicht nur die Redaktionen käuflicher Zeitungen, sondern alle unsere Regierungsinstitutionen. Das Jubiläum obrigkeitlicher Huld feiern sie nur selten, – das Jubiläum der Volksrache verdienen sie jederzeit. Jede Äußerung von Regierungswillkür und Gewalttätigkeit ist ein berechtigter Anlass für eine solche Demonstration. Und so möge die offene Ankündigung der Regierung über ihre Abrechnung mit den Studenten nicht ohne offene Antwort von Seiten des Volkes bleiben!

* Die Nummer war bereits umbrochen, als das Kommuniqué der Regierung erschien.

1 Die „Provisorischen Verordnungen" vom 29. Juli 1899 über die Militärpflicht der Zöglinge der höheren Lehranstalten, die aus diesen wegen Unruhestiftung relegiert sind, wurden von der Regierung auf Initiative K. P. Pobjedonoszews erlassen zum Kampf gegen die Studentenbewegung, und zwar als Folge der großen Studenten-„Unruhen" in der ersten Hälfte des Jahres 1899. Diese Unruhen entstanden auf dem Boden der Unzufriedenheit der Studentenschaft mit dem Universitätsstatut und führten zu einem Streik in allen höheren Lehranstalten Russlands, zu Massenausschlüssen von Studenten, Misshandlungen usw. Der Veröffentlichung der Provisorischen Verordnungen ging die Ernennung einer Kommission des früheren Kriegsministers Wannowskis voraus, die die Ursachen der Studentenunruhen klarstellen sollte.

2 Der „Hannibalschwur" ist ein bildlicher Ausdruck, der hier die unbeugsame Entschlossenheit, den Kampf gegen den Absolutismus bis zum Ende zu führen, zum Ausdruck bringen soll – ebenso wie Karthagos Feldherr Hannibal geschworen hatte, den Kampf gegen Rom nicht aufzugeben, solange die Macht des römischen Reiches nicht völlig vernichtet sein würde.

3 „Juschny Kraj" – eine literarisch-politische Tageszeitung konservativ-monarchistischer Richtung, erschien in Charkow, trieb eine wilde Hetze gegen jede freiheitliche Bewegung. Gegründet im Jahre 1880, herausgegeben und redigiert von dem Reaktionär A. A. Josefowitsch.

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