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Nord-Bund der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands19020300 Programm

Programm des Nord-Bundes der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands

[Handschriftliches Exemplar1. Nach Lenin, Sämtliche Werke, Band 5, 1930, S. 535-538]

1. Als sozialdemokratische Organisation, die sich die Führung der Arbeiterbewegung zum Ziele setzt, betrachtet der Nord-Bund, in Erkenntnis der vollständigen Gegensätzlichkeit und Unversöhnlichkeit der Interessen der Bourgeoisie und des Proletariats, die Aufhebung der gegenwärtigen kapitalistischen Ordnung und den Übergang aller Produktionsmittel und des Grund und Bodens in den Besitz der gesamten Gesellschaft – als Endziel der Arbeiterbewegung.

2. Den Sozialismus als das Klasseninteresse des Proletariats betrachtend, ist der Nord-Bund der Meinung, dass dieses Ziel nur durch einen langen planmäßigen Kampf des Proletariats selber erreicht werden kann, dass die Befreiung der Arbeiter vom Joch des Kapitals nur „das Werk der Arbeiter selbst" sein kann.

3. Der Nord-Bund, der in einem Land tätig ist, in dem der Druck des schrankenlosen Absolutismus sich in der vollständigen Missachtung der menschlichen Persönlichkeit, ihrer gesetzlichen Rechte und in der Willkür der Behörden äußert, betrachtet es als nächste und wichtigste Aufgabe, den Arbeitern klarzumachen, wie notwendig für den richtig organisierten Kampf um ihre endgültige Befreiung die Eroberung der politischen Freiheit und als notwendige Voraussetzung für deren Erkämpfung – die Niederwerfung des Absolutismus ist, der ausschließlich die Interessen der herrschenden Klassen vertritt und darum mit dem Grundsatz der Demokratie unvereinbar ist.

4. Eine breite politische Freiheit und ihre vollständige Ausnutzung liegt in Russland einzig und allein der Arbeiterklasse am Herzen. Die Verwirklichung der politischen Freiheit ist für sie eben solch eine Notwendigkeit, wie die Erhöhung des Arbeitslohnes und die Verkürzung des Arbeitstages. Angesichts dessen hält der Nord-Bund es für notwendig, dass die Sozialdemokratie im bevorstehenden Kampfe mit einem klaren Klassenprogramm und mit Forderungen hervortritt, ohne diese den Programmen der liberalen und anderer revolutionären (nicht-sozialdemokratischen) Parteien unterzuordnen; und sie darf keineswegs ein Werkzeug in den Händen dieser Parteien sein, wenn sie auch im entscheidenden Augenblick gezwungen sein sollte, neben ihnen zu marschieren.

5. In seiner unmittelbaren Tätigkeit erkennt der Nord-Bund die Möglichkeit gemeinsamen Vorgehens mit anderen revolutionären Parteien an, zum Beispiel in der Veranstaltung von Demonstrationen und Kundgebungen, der Einreichung von Petitionen, wenn ihr Ziel und ihr Charakter dem Programm nicht widersprechen.

6. Angesichts der zahlreichen Missverständnisse der letzten Zeit hält es der Nord-Bund für notwendig, zu erklären, dass er folgende Begriffe scharf voneinander unterscheidet: die Klasse, als die Gesamtheit der Menschen, die sich im Produktionsprozess in gleicher gesellschaftlicher Lage befinden, und die Partei als Vereinigung von Leuten, die sich der Lage und der Rolle dieser Klasse – nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der Zukunft – bewusst sind, und, diese Zukunft voraussehend, eine Tätigkeit für diese Klasse nach einem bestimmten Programm entfalten. Darum wird der Nord-Bund in der unmittelbaren praktischen Tätigkeit die Endziele seines Programms nicht aus den Augen lassen, er wird Höchstforderungen aufstellen und danach streben, das Selbstbewusstsein der Arbeiter zu entwickeln, wobei er seine Tätigkeit keineswegs der gegebenen Stufe ihrer Entwicklung unterordnen, sondern dieser nur als notwendiger Grundlage Rechnung tragen wird.

7. Der Nord-Bund, der die Entwicklung des Selbstbewusstseins des Proletariats, als einer Klasse, die in bestimmte, gegebene Verhältnisse gestellt ist, als Aufgabe seiner Tätigkeit betrachtet, erkennt als einziges Mittel zur Verwirklichung dieser Aufgabe die Einwirkung auf breite Arbeiterschichten, d. h. die Agitation, an; er wird die illegale Literatur unter den Arbeitern weit verbreiten und Flugblätter sowohl allgemeinen Inhalts als auch aus Anlass der verschiedenen Ereignisse des politischen und gesellschaftlichen, insbesondere des Fabriklebens herausgeben.

8. Der Nord-Bund, der auf breite Schichten der Arbeiterklasse einwirken will, und der die Agitation als das einzige Mittel einer solchen Einwirkung betrachtet, erkennt die Propaganda als Form der revolutionären Tätigkeit nur insofern an, als sie sich das Ziel setzt, aus den von der Propaganda erfassten Arbeitern erfahrene und tüchtige Agitatoren und Führer der Bewegung heranzubilden, während er einer Propaganda (in Selbstbildungszirkeln), die nur die Schulung einzelner klassenbewusster Arbeiter zum Ziele hat, ablehnend gegenübersteht, als einer Form der revolutionären Tätigkeit, die der Auffassung vom Klassenkampf in der modernen bürgerlichen Gesellschaft nicht entspricht.

9. Der Nord-Bund, der den Sturz des Absolutismus und die Eroberung der politischen Freiheit als das nächste Ziel seiner Tätigkeit betrachtet, ist der Ansicht, dass Demonstrationen und Kundgebungen aus Anlass verschiedener Ereignisse im öffentlichen Leben und dieser oder jener Maßnahmen der Regierung das beste Mittel zur politischen Erziehung der Arbeiter sind, ein Mittel, das in diesem Augenblick geeignet ist, die größte Zahl der Arbeiter zu vereinigen und in ihnen dadurch das Bewusstsein des gemeinsamen Zieles und das Zusammenhalten im Kampfe um seine Verwirklichung zu entwickeln.

10. Der Nord-Bund hält es für unbedingt notwendig, dass am 1. Mai Flugblätter herausgegeben und Kundgebungen organisiert werden, dass auf den internationalen Charakter dieses Feiertages hingewiesen wird, dass man sich bemüht, in den Arbeitern brüderliche Gefühle für das Proletariat aller Länder und ein bewusstes Verhalten zu der Losung „Proletarier" aller Länder vereinigt euch!" zu entwickeln.

11. Der Nord-Bund hält die Veranstaltung am 19. Februar für notwendig. In den aus diesem Anlass erscheinenden Flugblättern wird der Nord-Bund – bei der Prüfung der Mängel der Reform – den Arbeitern sagen, dass sie von der absolutistischen Regierung nichts zu erwarten haben; die Rolle der Bauernaufstände, des Krimkrieges und anderer Tatsachen des gesellschaftlichen Lebens jener Zeit auseinandersetzend, wird der Nord-Bund alles tun, um den Wahn zu zerstören, die Bauernbefreiung sei eine persönliche Angelegenheit des Zaren, eine Tat seines guten Willens gewesen, und in den Arbeitern die feste Überzeugung zu wecken, dass nur die Gewalt – die Gewalt der Klasse – fähig ist, den Absolutismus zu bezwingen.

12. Der Nord-Bund, der die Eroberung der politischen Freiheit als sein nächstes Ziel und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel als Endziel betrachtet, wird die Besserung der Lage der Arbeiter in den bestehenden Verhältnissen in jeder Weise fördern, – er wird dem Kampf der Arbeiter gegen ihre unmittelbaren Ausbeuter einen zielbewussten Charakter geben, er wird darauf hinweisen und zugleich auseinandersetzen, dass das Streben nach einer Besserung der Lage der Arbeiter im Rahmen der bestehenden Ordnung weder das Endziel noch das einzige Ziel der Arbeiterbewegung sein kann.

13. Der Nord-Bund hält es für notwendig, nicht nur einen Verteidigungskampf für die Aufrechterhaltung der bestehenden Arbeitsbedingungen, sondern auch einen Angriffskampf um ihre Besserung zu führen.

14. Der Nord-Bund, der die Arbeiter auf die besseren Arbeitsbedingungen in anderen Gegenden Russlands und im Ausland, auf deren gewaltige Bedeutung für die kulturelle Entwicklung der Arbeiterklasse hinweist, wird bei Streiks eine nicht passive, sondern aktive Rolle spielen und bemüht sein, die Arbeiter zum zielbewussten Kampf gegen ihre unmittelbaren Ausbeuter um die Besserung ihrer wirtschaftlichen Lage anzufeuern.

15. Der Nord-Bund betrachtet die Streiks als das beste Mittel im Kampf um die Besserung der Lage der Arbeiter. Er erkennt auch an, dass Teilstreiks eine gewisse Bedeutung haben, wird aber in seiner unmittelbaren Tätigkeit mit allen Mitteln darauf hinarbeiten, dass die Streiks einen größeren Umfang und ernsteren Charakter annehmen (sich zu Generalstreiks entwickeln). Zu diesem Zweck wird der Nord-Bund gleichzeitig in vielen Fabriken eines Industriezweigs und in Fabriken eines ganzen Bezirks Streiks organisieren. Die Mitglieder des Nord-Bundes werden vor jedem Streik den Arbeitern die Notwendigkeit klarmachen, neben kleinen Forderungen Forderungen allgemeinen Charakters aufzustellen, denen sich andere Fabriken und Bezirke anschließen könnten. Während des Generalstreiks werden in den an alle Arbeiter gerichteten Flugblättern alle Ereignisse des Streiklebens ausgenutzt werden. Die Anwesenheit der Gendarmen, der Polizei und der Soldaten wird die Möglichkeit geben, den Arbeitern den besonderen Charakter der Zarenregierung, als der Verteidigerin aller Ausbeuter, anschaulich klar zu machen. Der Nord-Bund betrachtet die Generalstreiks als eins der besten Agitationsmittel, geeignet, in den Arbeitern das Bewusstsein der Einheit ihrer Interessen zu entwickeln.

P. S. Der private Briefwechsel darf nicht veröffentlicht werden.

1 Befindet sich in Aufbewahrung im Archiv des Lenin Instituts in Moskau. Die Red.

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