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Wladimir I. Lenin 19020323 Brief an die Semstwoleute

Wladimir I. Lenin: Ein Brief an die Semstwoleute1

[Iskra" Nr. 18, 10. März 1902. Nach Sämtliche Werke, Band 5, Wien-Berlin 1930, S. 105-114]

Wir führen hier ungekürzt den hektographierten Brief an die Semstwopolitiker an, der während der letzten Session der Semstwoversammlungen von Hand zu Hand ging (in unsere Hände ist er leider erst in der allerletzten Zeit gelangt).

Geehrter Herr!

Die schweren Verhältnisse, in denen sich Russland, das russische Volk und das russische Semstwo gegenwärtig befinden, veranlassen uns, den vorliegenden Brief an Sie, geehrter Herr, zu richten, in der Annahme, dass die hier ausgesprochenen Gedanken und Absichten Ihren Beifall finden werden.

Die lange Reihe trauriger und empörender Tatsachen, deren stumme Zeugen wir in der letzten Zeit gewesen sind, lastet wie eine düstere Wolke auf dem öffentlichen Gewissen, und kein intelligenter Mensch kann an der verhängnisvollen Frage vorbei: ist es möglich, noch länger politisch untätig zu sein und passiv an der fortschreitenden Verelendung und Zerstörung der Heimat teilzunehmen?

Die chronischen Missernten und der unerträgliche Steuerdruck in Gestalt von Ablösungsgeldern und außerordentlichen Steuern haben das Volk buchstäblich zugrunde gerichtet und es körperlich verkümmern lassen.

Die Tatsache, dass der Bauernschaft jeder Schein einer Selbstverwaltung genommen ist, die kleinliche Bevormundung durch offizielle und freiwillige Vertreter der ,starken Regierung' und die künstliche geistige Hungersnot, in der die ungebetenen Verfechter der ,ursprünglichen und gesetzlichen Prinzipien' das Volk halten, schwächen seine geistige Kraft, seine Selbsttätigkeit und Energie.

Die Produktivkräfte des Landes werden von einheimischen und ausländischen Politikern unter gnädiger Mitwirkung von Abenteurern, die mit dem Schicksal des Vaterlandes spielen, frech geplündert. Vergeblich ist die ,wohlwollende Regierung' bemüht, den lebendigen und planmäßigen Kampf der ökonomischen Gruppen des Landes durch eine Reihe widerspruchsvoller und in Eile ersonnener Maßnahmen zu ersetzen. Vorsorgliche ,Unterstützung' und ,Wahrnehmung' sind machtlos gegenüber den unheilvollen Vorboten des wirtschaftlichen und finanziellen Zusammenbruchs Russlands: den landwirtschaftlichen, industriellen und finanziellen Krisen – den glänzenden Ergebnissen einer Zufalls- und Abenteuerpolitik. Die Presse ist geknebelt und der Möglichkeit beraubt, auch nur einen Teil der Verbrechen aufzudecken, die von den Hütern der Ordnung an Freiheit und Ehre der russischen Bürger stündlich begangen werden. Nur sinnlose und grausame Willkür erhebt herrisch ihre Stimme und herrscht über der ganzen unendlichen Weite des zugrunde gerichteten, erniedrigten und beleidigten Heimatlandes, ohne irgendwo auf den notwendigen Widerstand zu stoßen.

Bei dieser Lage der Dinge ist das grundsätzliche Misstrauen der Regierung gegen die geringfügigsten Äußerungen privater und gesellschaftlicher Initiative, gegen die Tätigkeit öffentlicher Vereinigungen jeder Art, insbesondere gegen die Semstwoeinrichtungen – diesen Grundstein, auf dem das Russland der 60er Jahre ein neues Reich werden zu sehen wähnte –, ganz natürlich. Die triumphierende Bürokratie hat die Semstwoeinrichtungen zu einem langsamen Tode verurteilt, und jedes Jahr versetzt sie ihrer Lebenstätigkeit, ihrer Bedeutung und Autorität in den Augen der Öffentlichkeit und des Volkes, das die Semstwos von der Beamtenverwaltung kaum noch unterscheidet, einen neuen Schlag. Die Semstwoversammlungen sind trotz dem klar zum Ausdruck gekommenen Protest aller fortschrittlichen Gruppen des Landes in ständisch-bürokratische Beratungen verwandelt worden und haben jede Verbindung mit der Masse des russischen Volkes verloren. Die Semstwoämter werden zu Anhängseln der Gouverneurkanzleien, verlieren ihre Selbständigkeit und nehmen allmählich alle Fehler einer Amtsstelle an. Die Semstwowahlversammlungen hat man zu einer Posse erniedrigt. Die geringe Zahl der Wähler und deren Einteilung in Ständegruppen nehmen den Versammlungen die Möglichkeit, durch die gewählten Vertreter die verschiedenen gesellschaftlichen Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen und verwandeln sie in einen Tummelplatz kleinlicher und persönlicher Eitelkeiten.

Der Macht der Semstwoeinrichtungen werden allmählich aber unaufhörlich engere Grenzen gezogen. Das Verpflegungswesen ist der Zuständigkeit der Semstwos entzogen. Bei der Steuerveranlagung sind die Semstwos zu Werkzeugen der behördlichen Verordnungen geworden. Auf dem Gebiete des Volksbildungswesens hat das Semstwo immer weniger mitzureden. Das vom Ministerium Goremykin ausgearbeitete Ärztestatut ist formell nicht aufgehoben und hängt wie ein Damoklesschwert über dem Semstwoheilwesen. Das schwarze Gespenst einer Instruktion an die Schulräte ist anscheinend verschwunden. Aber das Semstwo ist in keiner Weise sicher vor einem neuen Auftauchen dieses Gespenstes, das dann bereits die Form eines Gesetzes angenommen haben wird, und vor dem mit ihm verbundenen endgültigen Untergang der Semstwovolksschule. Den Wechselbeziehungen zwischen den Semstwoeinrichtungen der verschiedenen Gouvernements, deren Notwendigkeit ein abgedroschener Gemeinplatz geworden ist, werden in dem letzten Zirkular des Innenministeriums über diese Angelegenheit neue Schwierigkeiten gemacht. Jeder Schritt des Semstwos, als einer öffentlichen Institution, ist durch ein verwickeltes Netz zahlreicher Zirkulare verschiedener Minister behindert, und der Semstwomann muss bei der Durchführung dieser oder jener Maßnahme eine Menge Zeit, Energie und Scharfsinn auf die undankbare Arbeit der Entwirrung dieses Netzes verwenden. Der berüchtigte Artikel 87 der Semstwoordnung, und namentlich dessen zweiter Punkt, liefert die gesamte Tätigkeit der Semstwos dem Gutdünken des Gouverneurs aus. Die Revisionen der Semstwoämter durch die Gouverneure werden immer häufiger; durch die ständigen Mitglieder des Gouvernementsamtes für Semstwoangelegenheiten richtet die Regierung ohne alle Umstände eine öffentliche Beaufsichtigung des Semstwos ein. Durch das Gesetz über die Begrenzung der Semstwoveranlagung gibt die Regierung offen ihr tiefes Misstrauen gegen das Grundrecht der Semstwos, das Recht der Selbstbesteuerung, zu. Durch die Einmischung des Polizeidepartements werden der Semstwotätigkeit die besten Mitarbeiter, sowohl die gewählten wie die angestellten, entrissen. In naher Zukunft werden wahrscheinlich die Entwürfe des Ministeriums über die Kontrolle der Geldoperationen des Semstwos durch Beamte der Staatskontrolle und über die Regelung der Tätigkeit der Semstwoberatungskommissionen Gesetzeskraft erlangen.

Die Gesuche der Semstwos werden nicht nur nicht befriedigt, nicht nur nicht auf Grund der hierfür festgesetzten Regel geprüft, sondern einfach durch die persönliche Machtbefugnis des Ministers ohne eingehende Prüfung abgelehnt. Unter solchen Bedingungen ist es unmöglich geworden, im Semstwo zu arbeiten und den ernsten Glauben an die Fruchtbarkeit dieser Arbeit zu wahren. Und vor unseren Augen spielt sich der Prozess des immer wachsenden Verfalls der Semstwo-Welt ab, insbesondere der ausführenden Semstwoorgane, der Ämter. Aus den Semstwos scheiden Leute aus, die der Semstwosache von ganzem Herzen ergeben sind, aber den Glauben an eine fruchtbare Arbeit unter den gegenwärtigen Bedingungen verloren haben. An ihre Stelle tritt ein Semstwomann neuen Schlages, der Opportunist, der feige um den Namen, um die Form der Semstwoeinrichtungen zittert und deren Würde durch widerliches Kriechen vor den Verwaltungsbehörden endgültig preisgibt. Das Ergebnis ist die innere Zersetzung des Semstwos, die viel schlimmer ist als eine formelle Aufhebung der Selbstverwaltung. Ein offener Feldzug der Regierung gegen den Gedanken des Semstwos selbst könnte zu einer tiefgehenden Erregung der Gesellschaft führen, vor der die Bürokratie so sehr Angst hat. Aber vor unseren Augen wird in versteckter Weise der Grundsatz der Selbstverwaltung umgebracht, unglücklicherweise ohne dass sich ein organisierter Widerstand erhöbe.

Angesichts einer solchen Sachlage werden die verhältnismäßig geringfügigen greifbaren Ergebnisse der Semstwotätigkeit keineswegs durch ihre erzieherische Bedeutung ergänzt, und die fast vierzigjährige Arbeit der Semstwoeinrichtungen für die Entwicklung der Staatsbürgerrechte, des gesellschaftlichen Selbstbewusstseins und der Selbsttätigkeit kann für die nächste Zukunft spurlos verlorengehen. Von diesem Standpunkte aus fördert das ruhige, ergebene Abwarten der opportunistischen Semstwoleute nur den ruhm- und nutzlosen Tod des großen Gedankens der Semstwoeinrichtungen. Nur durch energischen Kampf gegen den unsinnigen Gedanken, dass die Erörterung von Fragen, die über den Rahmen der Kleinigkeiten des örtlichen Lebens hinausgehen, ein Unheil für das Volk heraufbeschwören müsse, wird es möglich sein, die Semstwos aus der Sackgasse, in die das Bevormundungssystem «e gebracht hat, herauszuführen. Das Semstwo muss diesen Popanz, der natürlich nicht für das Volk oder für die Staatssicherheit gefährlich ist, diesen Gedanken, dessen Sinnlosigkeit selbst seine Verteidiger schamlos zu geben (siehe die vertrauliche Denkschrift Wittes ,Selbstherrschaft und Semstwo') bekämpfen, und zwar indem es in den Semstwoversammlungen offen und mutig die Fragen allgemein staatlicher Bedeutung erörtert, die mit den Nöten und Interessen der örtlichen Bevölkerung eng verknüpft sind. Und je vielseitiger, vollständiger und energischer die Semstwoversammlungen Fragen solcher Art behandeln werden, desto klarer wird es sich offenbaren, dass die öffentliche Erörterung der Volksnöte kein Unheil für das Volk heraufbeschwört, sondern einem solchen im Gegenteil vorbeugt, dass der Druck, der gegenwärtig auf der Presse liegt, nur für die Feinde des Volkes von Nutzen ist, dass die über Gedanken und Worte herrschende Polizei die Entwicklung der Menschen zu ehrlichen Staatsbürgern verhindert, dass Gesetzlichkeit und Freiheit in keinem Gegensatz zueinander stehen. Die öffentliche Klärung aller dieser Fragen gleichzeitig in mehreren Gouvernements-Semstwoversammlungen wird zweifellos den größten Beifall aller Schichten des Volkes finden und eine kraftvolle Regung des öffentlichen Gewissens hervorrufen. Wenn sich dagegen das Semstwo um die gegenwärtige schwierige Lage Russlands überhaupt nicht kümmert, so werden natürlich die Herren Sipjagin und Witte, nachdem sie ihm die Rolle des Vertreters der Interessen der Arbeit entzogen haben, ohne lange nachzudenken, das Semstwo endgültig in ,Übereinstimmung' mit der gesamten Ordnung der Staatseinrichtungen bringen. Welche Formen diese ,Übereinstimmung' annehmen wird, können wir uns – angesichts des Scharfsinns und der Erfindungsgabe der gegenwärtigen Machthaber im Lande – nur schwerlich vorstellen. War doch der Herr Innenminister unverschämt genug, zeigte er doch die genügende Missachtung für den ,bevorzugten' Stand im Reich, um dessen Erwählten – den Adelsmarschällen – die niederträchtige Rolle von Spitzeln zu übertragen, die den Inhalt der volkstümlichen Vorträge und die Vortragenden zu beaufsichtigen haben.

Aus den dargelegten Erwägungen heraus sind wir der Auffassung, dass unsere Untätigkeit und das weitere demütige Hinnehmen aller Versuche, denen die Bürokratie das Semstwo und ganz Russland unterwirft, nicht nur eine Art Selbstmord ist, sondern auch ein schweres Verbrechen am Vaterlande. Das Leben hat uns zur Genüge bewiesen, wie unbegründet, wie unsinnig die Taktik des Opportunismus ist – dieser Verkauf der ,Erstgeburt' für ein ,Linsengericht' –: die selbstherrliche Bürokratie hat sich zunächst das Recht der Erstgeburt angeeignet und uns jetzt auch noch das ,Linsengericht' weggenommen. Schritt um Schritt sind uns fast alle unsere Bürgerrechte entzogen worden, und die vier Jahrzehnte, die seit Beginn der ,großen Reformen' verflossen sind, haben uns auf den Punkt zurückgeworfen, von dem wir vor vierzig Jahren ausgingen, als wir diese Reformen in Angriff nahmen. Haben wir noch viel zu verlieren oder womit sonst lässt sich unser weiteres Stillschweigen rechtfertigen, wie lässt es sich anders erklären, als aus schmachvoller Feigheit und völligem Mangel des Bewusstseins unserer staatsbürgerlichen Pflichten?

Als russische und zudem ,in gehobener Stellung' stehende Bürger sind wir verpflichtet, die Rechte des russischen Volkes zu verteidigen, sind wir verpflichtet, der autokratischen Bürokratie die gebührende Antwort zu geben, deren ganzes Streben darauf gerichtet ist, jede noch so geringe Äußerung von Freiheit und Selbständigkeit im Volksleben zu unterdrücken und das ganze russische Volk in einen demütigen Sklaven zu verwandeln. Als Semstwoleute sind wir ganz besonders verpflichtet, die Rechte der Semstwoeinrichtungen zu verteidigen, sie vor der Willkür und Unterjochung durch die Bürokratie zu schützen, uns für ihr Recht auf Selbständigkeit und weitgehende Befriedigung der Bedürfnisse aller Volksschichten einzusetzen.

Hören wir also auf, wie schuldbewusste Schulknaben zu schweigen; beweisen wir endlich, dass wir mündige Bürger sind, und fordern wir, was uns von Rechts wegen gehört – unser Recht auf die ,Erstgeburt', unsere Staatsbürgerrechte.

Die autokratische Bürokratie gibt nie etwas freiwillig, sie gibt nur, was man von ihr erzwingt, obgleich sie dabei den Anschein zu erwecken sucht, als trete sie einzig und allein aus Großmut von ihren ,Rechten' zurück. Geschieht es einmal, dass sie mehr gewährt, als man ihr abgezwungen hat, dann nimmt sie sofort alle überflüssigen Zugeständnisse zurück, wie es mit unseren ,großen Reformen' auch geschehen ist. Die Regierung hat sich um die Arbeiter nicht gekümmert, solange sie es nicht mit einer ernstzunehmenden ,Arbeiterbewegung' in Gestalt von Demonstrationen vieltausendköpfiger Arbeitermassen zu tun hatte; da machte sie sich eilig an eine ,Arbeitergesetzgebung', die zwar durch und durch unehrlich, aber doch darauf berechnet war, wenigstens gewisse Forderungen der Arbeiter zu befriedigen und diese Furcht einflößenden Massen zu beruhigen. Die Regierung hat im Verlaufe von Jahrzehnten unsere studierende Jugend, unsere Schwestern, Brüder und Kinder, zu Krüppeln gemacht, indem sie nicht die leiseste Kritik an dem von ihr erfundenen ,Lehrsystem' zuließ und die Studenten-,Unruhen' mit viehischer Rohheit unterdrückte.

Da aber wurden diese ,Unruhen' zum Massenstreik, die akademische Maschine blieb stehen, und die Bürokratie war plötzlich vom heißen Gefühl ,herzlicher Fürsorge' für unsere studierende Jugend durchdrungen, und dieselben Forderungen, auf die gestern noch das Pfeifen der Kosakenpeitsche die einzige Antwort war, werden heute zum Regierungsprogramm der ,Reform des Schulwesens' ausgerufen.

Natürlich enthält auch diese Wandlung nicht wenig Heuchelei, aber trotzdem … Trotzdem kann die Tatsache nicht bestritten werden, dass die ,Bürokratie' gezwungen ist, die öffentliche Meinung offen anzuerkennen und ihr ein ziemlich wesentliches Zugeständnis zu machen. Und auch wir können, wie die ganze russische Gesellschaft und das ganze russische Volk, nur dann auf die Anerkennung und Durchsetzung unserer Rechte zählen, wenn wir mutig und offen, einmütig und nachdrücklich diese Rechte fordern.

Angesichts all dieser Erwägungen haben wir beschlossen, uns mit dem vorliegenden Brief an Sie, geehrter Herr, sowie an viele andere Semstwopolitiker sämtlicher Gouvernements-Semstwos, zu wenden und Sie zu bitten, uns während der gegenwärtigen Session der Gouvernements-Semstwoversammlungen beim Aufstellen und Erörtern folgender Fragen, sowie bei der Annahme der entsprechenden Beschlüsse zu diesen Fragen, zu unterstützen:

I. Revision der Verordnung über die Semstwoeinrichtungen und deren Abänderung in folgendem Sinne:

a) Gewährung gleicher Wahlrechte an alle Bevölkerungsgruppen ohne Unterschied des Standes und unter weitgehender Herabsetzung des Vermögenszensus für die Wahlberechtigung; b) Beseitigung der Ständevertreter als solcher aus dem Semstwo; c) Befreiung der Semstwos in allen ihren Handlungen von der Bevormundung der Verwaltungsbehörden, volle Selbständigkeit der Semstwos bei allen örtlichen Angelegenheiten unter der Bedingung, dass sie sich auf derselben Grundlage wie alle übrigen Personen und Anstalten den Gesetzen des Landes unterwerfen; d) Erweiterung der Zuständigkeit der Semstwos durch Gewährung voller Selbständigkeit in allen Maßnahmen zur Befriedigung der örtlichen Nöte und Bedürfnisse, soweit dadurch die Wohlfahrt des Gesamtstaates nicht beeinträchtigt wird; e) Aufhebung des Gesetzes über die Begrenzung der Steuerveranlagung durch die Semstwos, f) Gewährung der weitestgehenden Rechte auf dem Gebiete der Verbreitung der Volksbildung mit allen Mitteln, wobei den Semstwos neben den wirtschaftlichen Maßnahmen auch das Recht der Beaufsichtigung und der Verbesserung des Unterrichtswesens eingeräumt werden muss; g) Aufhebung des oben erwähnten Ärztestatuts, das das Semstwoheilwesen bedroht; h) Rückgabe des Verpflegungswesens an die Semstwos, sowie Gewährung voller Selbständigkeit bei der Organisierung und Leitung der statistischen und Taxierungsarbeiten des Semstwos; i) Regelung aller Semstwoangelegenheiten ausschließlich durch gewählte Semstwoleute, die nicht der Bestätigung durch die Verwaltungsbehörden unterliegen und noch weniger gegen den Willen der Semstwoversammlungen ernannt werden dürfen; j) Gewährung des Rechtes, die Semstwoangestellten ausschließlich nach eigenem Gutdünken, ohne die Bestätigung der Verwaltungsbehörden, einzustellen; k) Gewährung des Rechtes, sämtliche allgemein-staatlichen Fragen, die sich auf die örtlichen Nöte und Bedürfnisse beziehen, frei zu erörtern, wobei die Gesuche der Semstwos unbedingt innerhalb einer bestimmten Frist von den höheren Regierungsstellen geprüft werden müssen; 1) Gewährung des Rechtes an alle Semstwos, zueinander in Beziehungen zu treten und Kongresse der Semstwovertreter abzuhalten, um die Fragen zu erörtern, die alle oder mehrere Semstwos betreffen.

II. Revision und Abänderung der Verordnung über die Bauern im Sinne ihrer völligen rechtlichen Gleichstellung mit den übrigen Ständen.

III. Abänderung des Steuersystems im Sinne einer ausgleichenden Verteilung der Steuerlast durch progressive Besteuerung des Einkommens unter der Bedingung, dass ein bestimmtes Mindesteinkommen steuerfrei bleibt.

Außerordentlich wünschenswert wäre es auch, wenn in den Semstwoversammlungen folgende Fragen aufgeworfen und behandelt würden:

IV. Wiedereinrichtung von Friedensgerichten allerorts und die Aufhebung aller Gesetze, die die Zuständigkeit der Geschworenengerichte einschränken.

V. Gewährung einer größeren Pressefreiheit, Notwendigkeit der Aufhebung der Vorzensur, Abänderung des Zensurstatutes durch eine bestimmte und genaue Festsetzung, was zu drucken gestattet und was verboten ist, Beseitigung der Willkür der Behörden in der Ausübung ihrer Zensurtätigkeit und Behandlung aller Pressevergehen ausschließlich in öffentlichen Sitzungen der allgemeinen Gerichte.

VI. Revision der bestehenden Gesetze und Ministerialverfügungen über die Maßnahmen zum Schutze der Staatssicherheit, Beseitigung der geheimen verwaltungsbehördlichen ,Begutachtung' auf diesem Gebiete und öffentliche Behandlung aller derartigen Angelegenheiten durch allgemeine Gerichte.

In der Annahme, dass Sie es nicht ablehnen werden, in Ihrer Gouvernementsversammlung die Erörterung der genannten allgemeinen Fragen zu unterstützen, haben wir die Ehre, Sie zu bitten, einen eventuellen Beschluss der Semstwoverwaltung durch Vermittlung Ihnen persönlich oder dem Namen nach bekannter Semstwoabgeordneter möglichst allen Semstwos mitzuteilen. Wir hoffen auch, dass sich in den meisten Semstwos eine genügende Anzahl von mutigen und energischen Männern finden wird, die diese Forderungen zur Annahme durch die Semstwos bringen werden. Und wenn wir alle einmütig, offen und in entschiedener Weise unsere gerechten Forderungen vorbringen, dann wird die Bürokratie gezwungen sein, Zugeständnisse zu machen, wie sie stets Zugeständnisse macht, wenn sie auf eine geschlossene, zielbewusste Kraft stößt.

Alte Semstwoleute."

Das ist ein sehr lehrreicher Brief. Er zeigt, wie das Leben selbst Leute, die sich wenig zum Kampfe eignen und meist durch kleine praktische Arbeit in Anspruch genommen sind, zwingt, gegen die absolutistische Regierung aufzutreten. Und wenn man diesen Brief z. B. mit einem solchen Werk, wie das Vorwort des Herrn R. N. S. zu der Denkschrift Wittes, vergleicht, dann macht der Brief der Semstwoleute meiner Ansicht nach einen besseren Eindruck.

Allerdings enthält der Brief keine irgendwie „großzügigen" politischen Verallgemeinerungen, – aber seine Verfasser treten ja auch nicht mit „programmatischen" Erklärungen auf, sondern mit dem bescheidenen Rat, wie man praktisch die Agitation einleiten soll. Der „Flug der Gedanken" fehlt ihnen sogar soweit, dass sie nicht offen von politischer Freiheit sprechen, dafür aber fehlen auch die Redensarten über dem Throne nahestehende Persönlichkeiten, die vielleicht den Zaren beeinflussen könnten. Dafür fehlen verlogene Lobpreisungen der „Taten" Alexanders II., und es schimmert, im Gegenteil, eine Verspottung der „großen Reformen" (in Anführungszeichen) durch. Dafür finden sie die Offenheit und den Mut, entschlossen gegen die „opportunistischen Semstwoleute" Stellung zu nehmen, ohne Angst zu haben, der „schmachvollen Feigheit" den Krieg zu erklären, ohne sich den besonders rückständigen Liberalen anzubiedern.

Wir wissen vorläufig noch nicht, welchen Erfolg der Aufruf der alten Semstwoleute gehabt hat, aber ihr Vorgehen verdient, unseres Erachtens, auf jeden Fall volle Unterstützung. Die Belebung der Semstwobewegung in letzter Zeit ist überhaupt eine außerordentlich beachtenswerte Erscheinung. Die Verfasser des Briefes weisen selbst darauf hin, wie sich die Bewegung, die von den Arbeitern ausging, ausgebreitet, wie sie sich auf die Studenten ausgedehnt hat und nunmehr auch die Semstwoleute mitreißt. Alle diese drei sozialen Schichten werden also in der richtigen Reihenfolge angeordnet, nach ihrer abnehmenden zahlenmäßigen Stärke, ihrer gesellschaftlichen Beweglichkeit, ihrem sozial-politischen Radikalismus, ihrer revolutionären Entschlossenheit.

Um so schlimmer für unseren Gegner. Je minder revolutionäre Kreise sich gegen ihn erheben, desto besser für uns, die bedingungslosen Gegner des Absolutismus und des gesamten gegenwärtigen ökonomischen Systems.

Senden wir also einen Gruß an die neuen Protestanten – und folglich unsere neuen Verbündeten. Helfen wir ihnen.

Man sieht: sie sind arm; sie treten nur mit einem kleinen Flugblatt auf, das schlechter herausgegeben ist als die Flugblätter der Arbeiter und der Studenten. Wir sind reich. Veröffentlichen wir es in der Presse. Bringen wir die neue Ohrfeige an die Zaren-Obmanow allen zur Kenntnis. Diese Ohrfeige ist um so interessanter, je „solider" die Leute sind, die sie verabreichen.

Man sieht: sie sind schwach; sie haben so wenig Verbindungen im Volke, dass ihr Brief von Hand zu Hand geht, als wäre er die Abschrift eines Privatbriefes. Wir sind stark, wir können und müssen diesen Brief „ins Volk" bringen und vor allem in die Kreise des Proletariats, das kampfbereit ist und das den Kampf um die Freiheit des ganzen Volkes bereits aufgenommen hat.

Man sieht: sie sind schüchtern; sie fangen eben erst an, ihre berufliche Semstwoagitation auszudehnen. Wir sind kühner als sie; unsere Arbeiter haben das „Stadium" (das ihnen aufgezwungene Stadium) der ausschließlich beruflich-ökonomischen Agitation bereits überwunden. Geben wir ihnen ein Beispiel des Kampfes. Denn wenn die Arbeiter für eine Forderung, wie die Abschaffung der „Provisorischen Bestimmungen", gekämpft haben – um gegen den Absolutismus Protest zu erheben –, so kann die Verhöhnung der „Selbstverwaltung", wie diese auch sein mag, durch die Verwaltungsbehörden ein mindestens ebenso bedeutsamer Anlass sein.

Aber hier unterbrechen uns alle möglichen, offenen und heimlichen, bewussten und unbewussten Anhänger des „Ökonomismus". Wem nutzt die Unterstützung der Semstwos durch die Arbeiter? – fragen sie uns. Doch nur den Semstwoleuten? Doch wohl nur den Leuten, die vielleicht nur damit unzufrieden sind, dass die Regierung den industriellen Unternehmern mehr Entgegenkommen zeigt als den landwirtschaftlichen? Doch wohl nur einer Bourgeoisie, deren Wünsche nicht weiter gehen als bis zu dem „lebendigen Kampf der wirtschaftlichen Gruppen des Landes"?

Wem sie nutzt? Vor allem doch und am meisten der Arbeiterklasse selbst. Diese „einzige wirklich revolutionäre Klasse" der modernen Gesellschaft wäre nicht tatsächlich revolutionär, wenn sie nicht jeden Anlass ausnutzte, um ihrem schlimmsten Feind einen neuen Schlag zu versetzen. Und was wir in unseren Erklärungen und Programmen über politische Agitation und politischen Kampf sagen, wären nur leere Worte, wenn wir die günstigen Gelegenheiten zum Kampf verpassten, wo selbst die gestrigen (60er Jahre) und zum Teil auch die heutigen (die opportunistischen Semstwoleute und die Fron-Gutsherren) Verbündeten dieses Feindes mit ihm zu hadern beginnen.

Lasst uns das Semstwoleben, das Anwachsen und Ausdehnen (oder den Niedergang und das Versiegen) der neuen Protestwelle aufmerksam verfolgen. Bemühen wir uns, dass die Arbeiterklasse die Geschichte des Semstwos möglichst gut kennen lerne, dass sie das Zugeständnis der Regierung an die Gesellschaft in den 60er Jahren kennen lerne, die heuchlerischen Reden der Zaren und ihre Taktik: zunächst ein „Linsengericht" an Stelle des „Rechtes der Erstgeburt" zu geben; und dann (gestützt auf dieses von ihnen zurückgehaltene „Recht der Erstgeburt") auch das Linsengericht zu nehmen. Mögen die Arbeiter lernen, diese seit jeher geübte Polizeitaktik in allen ihren Äußerungen zu erkennen. Diese Erkenntnis ist auch für unseren Kampf um unser „Erstgeburtsrecht", für die Freiheit des proletarischen Kampfes gegen jede wirtschaftliche und soziale Unterdrückung notwendig. Lasst uns den Arbeitern in den Zirkelversammlungen von den Semstwos und ihrem Verhältnis zur Regierung erzählen, müsst uns Flugblätter aus Anlass der Semstwoproteste verbreiten, müsst uns Vorbereitungen treffen, damit das Proletariat jede Beschimpfung der halbwegs ehrlichen Semstwoleute durch die Zarenregierung mit Demonstrationen gegen die Pompadour-Gouverneure, gegen die Baschibosuk-Gendarmen und die jesuitischen Zensoren beantworten kann. Die Partei des Proletariats muss es lernen, jeden Diener des Absolutismus für jede Gewalttat und jede Ausschreitung gegen jede beliebige Gesellschaftsschicht, Nation oder Rasse zu verfolgen und verantwortlich zu machen.

1 Den Brief mit der Unterschrift „Alte Semstwoleute", der im Sommer 1901 während der Geheimkonferenz der Semstwoführer, die der Session der Gouvernements - Semstwoversammlungen vorangegangen war, in hektographierter Form verbreitet wurde, veröffentlichte fast gleichzeitig mit der „Iskra" auch die Sozialrevolutionäre Presse („Rewoluzionnaja Rossija" Nr. 4, Februar 1902), wobei der von den Sozialrevolutionären veröffentlichte Text etwas verschieden ist von dem in Lenins Artikel angeführten Text.

Die Zusammensetzung der Gruppe der „alten Semstwoleute" ist unbekannt. Anscheinend stammt von derselben Gruppe auch ein zweiter Brief mit derselben Unterschrift, der in Nr. 13 des „Oswoboschdenije" (1. Januar 1903 neuen Stils) abgedruckt war und in dem die Semstwoleute aufgefordert wurden, als Antwort auf die Gewaltmaßnahmen der Regierung – nach Beispiel der Studenten und Arbeiter – zu „Obstruktionen und Streiks" Zuflucht zu nehmen.

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